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Wir können für den Zweck, den wir uns vorgesetzt, die einzelnen menschlichen Gestalten, die das Leben, die Gesellschaft, die Geschäfte an uns vorüberführen, in drei groſse, leicht zu unterscheidende Classen abtheilen. Die Naturen der einen Gattung sind monolog; sie sprechen und lehren, ohne selbst wieder zu hören, oder ohne eigentlich eines Hörers zu bedürfen, die ganze Welt wird von ihnen abgehandelt, ohne je behandelt zu werden; wenn man den Spuren der gesellschaftlichen Langenweile nachgeht, wird man meistentheils als Veranlassung auf eine dogmatische Creatur der Art stoſsen, die aus der fröhlichen, reichen, sonnigen Natur nichts weiter zu machen weiſs, als einen Catheder für ihre finstre, einsame Weisheit. Um ihre Stirne spielt vergebens in tausend Farben die Poesie und alle Lebenslust: sie wissen von nichts als von weiſs und schwarz, und nur wo etwa ihre Eitelkeit schmeichelnd ergriffen wird, meldet sich einiges Gehör bei ihnen: der schmeichelnde Widersprecher wird als Curiosität, als zu den sonderbaren Spielarten der Natur gehörig, abgefertigt, und der Faden der Behauptungen wieder angeknüpft ohne Ende. Die zweite Gattung möchte ich aus den dialogischen Naturen bilden: ein leichtblütigeres, lockeres Geschlecht: ohne ferneren Wunsch, die Welt weiter zu fördern, übt es sich, der Thorheit und der Weisheit gleich faſslich und mundrecht zu sprechen. Diesen vielfragenden, wiſsbegierigen Wesen ist jeder andre in seiner Art, wie sie sich auszudrücken pflegen, der wahre und rechte, wie sie denn auch den Triumph ihrer Umgänglichkeit und Beweglichkeit darin setzen, sich in die Welt zu schicken, und die Menschen zu nehmen, wie sie sind. Das allzuernste, allzubestimmte, besonders die recht characteristischen Exemplare der ersten Gattung mit ihren Behauptungen und Abhandlungen widerstehn ihnen, und sie haben eine Virtuosität darin, jene in sich selbst zu verwickeln oder sie inmitten des Vortrags im Stich zu lassen. In sich etwas entwickeln, sich durch die Einsamkeit zu erheben und auszuweiten für umfassende Geschäfte oder lang nachklingende Werke ist ihre Sache nicht: was der Augenblick erwirbt, muſs der Augenblick verzehren; wie der Gedanke sich meldet, muſs er gesagt werden und ergreifen. Daher ihre Geselligkeit, ihre Unschädlichkeit, ihre zierliche Unruhe, ihre Flüchtigkeit, ihre Entzündbarkeit; daher die Gemeinsprüche meistentheils von ihrer Seite herklingen: alles in der Welt ist relativ, jede Sache hat zwei Seiten, es kommt auf den Standpunct an, aus dem man die Dinge betrachtet.
Über diesen beiden Gattungen, in ihrer Mitte, oder wie wir wollen, erhebt sich eine dritte, seltene und unvergleichliche: möge sie einstweilen die dramatische heiſsen. Gleich weit entfernt von der Versteinerung der monologischen, und von der Zerschmolzenheit der dialogischen Naturen, dennoch fester als Stein, flüssiger und 42beweglicher als Wasser: der Einsamkeit der ersteren und der Vielsamkeit der letzteren auf gleiche Weise abgeneigt und dennoch allein, eigenthümlich zugleich, und durch das ganze Reich des Lebendigen verbreitet, allgegenwärtig möchte ich sagen, wenn ich des Shakespear gedenke — so stehn und wandeln sie weder blos auſser aller Zeit, und abstrahirend von aller Zeit wie jene Prediger in der Wüste, noch bloſs in ihrer Zeit, wie die in der zweiten Gattung beschriebenen farben- und tonreichen, federleichten, gesprächigen Seelen.
Ihr Gespräch, oder soll ich es Rede nennen, denn es ist beides, verweilt weder blos, noch bewegt es sich blos: es ist lehrreich und nachgiebig, tief und leicht, ernst und spielend zugleich, und wenn die monologischen Naturen zurückschrecken, die dialogischen hingegen verführen, so zwingen und reizen die dramatischen, dahin, wohin man gern folgt und wo man auch ewig bleiben kann. — Für das am dritten höheren Orte hier aufgestellte Ideal vereinigen vereingen sich unbedingt alle Stimmen der Leser um so mehr, da die Ideale des dramatischen Dichters, des Schauspielers und des Menschen, darin aneinandergeknüpft, in einem Bilde erscheinen: des Menschen, sage ich, auf den ich, wie auf die dramatische Poesie und Kunst, durch die Überschrift nicht erst besonders eingeladen habe, weil er, von dessen Lebenskunst alle anderen Künste nur einzelne Glieder sind, sich selbst ohnehin nie vergessen darf. —
Das Interesse, welches wir alle bei dramatischen Vorstellungen empfinden, möchte sich aufs natürlichste nach unserm erwähnten Eintheilungsgrunde, unter dreierlei Gestalten betrachten lassen. Wir brauchen nur das monologische Interesse an der dramatischen Poesie in’s Auge zu fassen, so ergeben sich die beiden andern Gestalten von selbst: besonders dem weiblichen Character ist dieser monologische Antheil eigen. Empfänglicher für das Mitleiden und zur Hingebung fähiger folgen die Frauen gar zu leicht ausschlieſsend den Schicksalen eines Lieblingshelden, der unter den übrigen Personen des Drama’s ihrer Neigung und dem Ideale in ihnen vornehmlich entspricht. Der Dichter verlangt für sein ganzes Drama und jeden einzelnen Character darin ein ungetheiltes Interesse: das reinere und zartere Urtheil der Frauen ganz besonders, sei es Eitelkeit oder ächter Kunststolz in ihm, möchte er für sich und sein ganzes Werk gewinnen; gewinnen dies wünscht er, möge noch mehr als der einzelne Held interessiren. In den meisten Fällen wird indeſs nicht der Dichter, sondern sein Held mit der weiblichen Gunst belohnt: hingerissen von der Schönheit des einzelnen Characters, unwillig über die vielen und harten Schläge des Schicksals, die der Dichter über seinen Helden herführt, bange um die endliche Lösung des traurigen Knotens, versäumen die Frauen oft die ganze schöne Umgebung des Helden, entschlossen sich lieber in Thränen aufzulösen, als seine Feinde oder das ihn verfolgende Schicksal irgend eines Antheils zu würdigen. — Ophelien, die einzige Erscheinung, die neben dem Hamlet sie [fehlt] zu interessiren vermochte, hat Wahnsinn und Tod schon verzehrt: allen An43theil, der ihr geweiht seyn muſste, erbt Hamlet, der liebe, weiche, unentschlossene Grübler; die Zuschauerinnen verfolgen ihn mit unverwandtem Blicke, sie möchten lieber, daſs er sich nie entschlösse, nie die Rache für den ermordeten Vater ausführte; wie gern sähen sie ihn eingeschifft nach England und in Sicherheit. Aber der bösartige Dichter nöthigt ihn zur That.
Wenn nun endlich die ganze Familie von Leichen auf dem Boden gestreckt daliegt und der geliebte, blonde Schwärmer dahin ist, und der Dichter den Fortinbras kommen, und kalt und gleichgültig vom ausgestorbenen verödeten Throne Besitz nehmen läſst, — verläſst der Theil der Zuschauer, um dessen Beifall der Dichter am eifrigsten buhlte, die Bühne unbefriedigt und mit zerrissenem Herzen. Wie wenn nun der Dichter mehr ausdrücken wollte, als einen reizenden Jüngling, der nach hohem Ideale des Lebens vergeblich ringt, und, weil dieses sich nicht ergreifen läſst, sich schauerlich in Gedanken von Verbrechen, Wahnsinn und Tod vertieft: Wie wenn dem Dichter jene häſslichen Schlingen des Schicksals eben so werth wären, als der jugendliche Held, der sich darin verwickelt: wie, wenn er am Schluſs mit der Aussicht auf eine glückliche Regierung eines thronbesteigenden Hamlets nicht zufrieden wäre, wenn er eine Aussicht in die Unendlichkeit, in das Universum der Schönheit grade dadurch eröffnen wollte, daſs er den einzelnen Helden und die irdische Schönheit hinopfert, um das Heldenthum und eine himmlische Schönheit siegreich zu erhöhen. Dann wäre er dennoch zu rechtfertigen wegen der Angst, die er in schönen weiblichen Herzen entzündet. — Möge es also monologisches Interesse heiſsen, das den Hamlet lieber entführen, einzeln und allein herausheben möchte aus seiner ganzen Umgebung, ehe es ihn für einen groſsen Gedanken untergehen läſst. Ich habe meine Beschuldigungen an Frauen gerichtet, um das Beispiel zu veredeln. Beim männlichen Geschlecht, so oft es auch die hier beschriebene Schwäche für den Helden des Stücks theilen mag, drückt sich der monologische Antheil noch auf eine andre minder reizende und menschliche, als characteristische Weise aus.
Dieses Geschlecht nemlich von der Natur zum Erwerbe bestimmt, mag nicht leicht einen Schritt ohne bestimmten Zweck und augenscheinlichen Nutzen thun. Wenn es sich also in das Theater begiebt, so setzt es voraus, daſs der Dichter durch sein Werk irgend eine wichtige und gemeinnützige Wahrheit wie an Beispielen erläutern werde, daſs der Dichter wirklich keine höhere Absicht haben könne, als irgend eine Lebensregel oder Klugheitsmaxime gleichsam auf eine spielende Weise seinem Publicum beizubringen. Jede Sentenz, die der Dichter, Gott weiſs in welcher andern Absicht, seinen Personen in den Mund legt, wird gierig zum fernern Hausgebrauch bei Seite gesteckt. Zeigt sich am Ende, wie es sich denn oft trifft, daſs sich aus dem Drama wichtige und neue Lehren ergeben, als z. B., daſs das Gute belohnt und das Böse bestraft werden müsse, daſs alle Verbrechen endlich an den Tag kommen, und deshalb die Tugend geübt zu werden verdiene u. s. f., so geht unser lernbegieriger Zuschauer mit dem handgreiflich herausgebrachten Nutzen zufrieden nach 44Hause. — Aus diesem trocknen und ich darf es wohl sagen, unedlen monologischen Interesse an einem kalten Sittenspruch, dem zu Ehren der Dichter eine groſse, colossale, kleinen Herzen freilich zu überschwengliche Handlung in allen ihren unendlichen Zügen und groſsartigen Wendungen über die Bühne führen soll, aus diesem Interesse sind alle die alberne Fragen über den moralischen Nutzen des Theaters, und das ganze Heer langweiliger Predigten über den Werth des Hausfriedens, über die Schädlichkeit der Hazardspiele und des Schuldenmachens u. s. f., mit denen Ifland nun schon seit zwanzig Jahren langweilt, entsprungen. Wenn der Dichter in andre Zeiten, zu andern, gewaltigern Naturen hinreiſsend, erhebt, die Seele aus ihren alten, engen Fugen herausdehnt, aus dem dumpfen Alltagsleben, aus unnatürlicher Verkerkerung des Gesichtskreises fortführt in eine freie schrankenlose Weite, hier eine Aussicht auf hohe Laufbahnen menschlicher Gröſse, dort eine andre in das unermeſsliche Meer menschlicher Schicksale eröffnet, hier in die Tiefe der Brust mit erschütternder, fast vernichtender Allmacht greift, dort eine unergründliche Verwicklung erhabner Leiden mit sanftem Finger leicht und natürlich löst — wenn ferner die Ideen, die sich aus den tragischen Schauern wie aus dem Taumel der Fröhlichkeit erzeugen, endlich wie ein einziger Sternenhimmel den weiten Horizont umspannen, wenn der Held, gleichsam die Sonne des Drama’s, welche die ganze reiche Gegend beleuchtete, nun untergegangen ist; wenn jede der einzelnen Ideen, die das Drama erweckt, nach dem Fallen des Vorhangs, wie ein einzelnes Gestirn zurückbleibt, und alle diese Gestirne deuten auf die unsichtbare, einfache, heilige Nothwendigkeit, die diesen groſsen Schauplatz des Lebens mit dem Gedanken der Schönheit beseelt — wenn also die Seele von dem Geiste des Drama’s erfüllt ist, dann laſst die Krämer kommen, mit ihren öconomischen Fragen, was wohl der Dichter mit seinem Werke habe sagen wollen, welchen philosophischen Satz beweisen, welche historische Begebenheit in ihr gehöriges Licht setzen, welche Thorheit bestrafen, welchen sitten- und weltverbessernden Plan an’s Herz legen — welches reine Gemüth wird dann nicht von diesem monologischen und monotonen Interesse verletzt werden.
Das Drama hat zwei nothwendige Bestandtheile: ich nannte sie den Monolog und den Dialog: eine Handlung, ein Held erscheint in mannichfaltigen Situationen, im bunten, wechselnden Verkehr mit sehr verschiedenartigen Naturen. Man sieht eine Handlung, hört ein Wort, einen heiligen Gedanken durch das ganze Drama hindurchklingen (monologisches Element des Drama) behält auch einen einzigen tiefen und einfachen Eindruck zurück; und dennoch sieht man auch wieder viele Handlungen, vernimmt sehr verschieden gestaltete Worte und das Spiel unendlicher, kreuzender Gedanken (dialogisches Element des Drama). Der wahre Zuschauer hat ein Auge für beides: er sieht nicht blos die einzelnen Scenen, die in raschem Wechsel auf den Flügeln des Dialogs vor ihm hinschweben, er sieht aber auch nicht blos den einen Gedanken, den einen Helden, den der Dichter hat darstellen wollen. Er 45interessirt sich so gut für das veränderliche als für das bleibende; er interessirt sich so gut für die Johanna von Orleans und ihren heiligen Entschluſs, den König zu retten und zu krönen, als für alle die groſsen Charactere und Begebenheiten, die sich der heldenmüthigen Jungfrau bald mit Waffen des Arms, bald mit Waffen des Reizes und der Schönheit in den Weg stellen. Das ist der wahre Zuschauer: diesen nennen wir den dramatischen Zuschauer, weil er mit dem Kunstwerke beschäftigt ist, und in demselben lebt, grade eben so, wie der dramatische Dichter, der es hervorgebracht.
Die beiden Arten der Einseitigkeit in Behandlung der Welt, des Menschen, der Wissenschaften und des Drama’s, die wir oben durch den Unterschied des monologischen und dialogischen erläuterten, treten nirgends deutlicher an den Tag, als in der von allen Dramen, Romanen, Novellen und Sonnetten, besonders der neuern Welt gefeierten Handlung par exellence, der Liebe nemlich. Die Art der Liebe, welche sich in ihren Gegenstand versenkt und verliert, die ihn sich so nahe vor die Augen treten läſst, daſs er ihr die ganze übrige Welt mit ihren Reizen und Heiligthümern verbirgt, verdient gewiſs den Namen der monologischen Liebe. In der natürlichen Ordnung der Dinge ist die steigende Anhänglichkeit zu einem schönen Gegenstande, nichts weiter als die wachsende Erkenntniſs seiner Schönheit und seines ungewöhnlichen Glanzes; da pflegt er denn der umgebenden Welt von seinem Schimmer mitzutheilen, in manche dunkle verborgene Stelle des Herzens wie des Lebens Licht zu verbreiten, der Genuſs seiner Gegenwart erhebt alle Fähigkeit, die übrige Gegenwart zu genieſsen, und giebt erst das Bewuſstsein vom Reichthume und der unendlichen Fülle des Lebens überhaupt. Nicht so die monologische Liebe! Ob sie nun vom ungewöhnlichen Glanze so geblendet ist, oder ob sie nur eines und immer nur eines zu tragen, zu halten, zu lieben weiſs, genug sie vergeht, sie zerrinnt wie Semele vor dem erscheinenden Jupiter: die übrige Welt erscheint ihr schaal, trüb und abgeschmackt: damit das eine geliebte Bild nur recht vergöttert werde, mag nicht blos sondern muſs die ganze Natur in Staub zerfallen. Bleiben vielleicht noch Empfänglichkeit und Reize für anderweites Schöne und Groſse in dem Liebenden nach monologischer Manier zurück, so macht er sich vielleicht eine tolle Gewissenspflicht daraus, die Empfänglichkeit dafür als eine Art von Untreue zu unterdrücken, wo sie sich meldet: Zwang, meint er, Casteiungen, Selbstpeinigungen, die dem geliebten Gegenstand um so widriger erscheinen müssen, die um so sicherere Beweise der erstorbenen Liebe sind, je gröſser das Verdienst und die Überwindung des Selbstpeinigers ist — dies wähnt er, seien Opfer, die man dem Schönen auf Erden bringen müsse. Was aber diesen monologischen Liebhaber mehr als alles andre characterisirt, ist der seltsame Umstand, daſs, wenn wir es recht betrachten, zu seiner Liebe der Besitz seines Gegenstandes gar nicht eben nothwendig ist. Er begnügt sich mit Anbetung aus der Ferne und oft hat er es mit einer Composition idealisirter Züge zu thun, 46die der ganzen Welt ähnlich sehen mag, nur dem einen nicht, dem zu Ehren er die ganze Welt vergiſst und vernichtet. —
Erfolgt die Gegenliebe nicht, so steht es schlimm — erfolgt sie, so steht es auch nicht besser, denn nun wird alles einzelne, dem Gegenstande angedichtete gesucht und nicht nur nicht, sondern ganz anders gefunden: ein Zug des voreilig abgefaſsten Ideals nach dem andern muſs ausgelöscht werden, weil nun einmal die Wirklichkeit eine Widersprecherin ist; aber an das Ganze wird demungeachtet immerfort noch geglaubt — und so entsteht das ganze Heer von Qualen, und Verwicklungen, die ein Kind auflösen könnte und die den Liebenden unauflöslich wie gordische Knoten erscheinen. Der ruhige Zeuge eines Gesprächs zwischen denen auf solche Weise an einander gerathenen, wird die Wahrheit meiner Bezeichnung fühlen: jeder von beiden spricht im Grunde für sich, hält einen Monolog an sein Ideal, in den die Worte des andern ihm gegenüberstehenden Monologs ungeschickt hineinstolpern und so viel ihrer sind, miſsverstanden werden: die beiden unglücklichen Seelen bannen sich durch diese gegenseitigen Zauberformeln immer fester; der Dialog, den sie eigentlich wollen, der zarte, bewegliche Geist der Liebe entweicht mehr und mehr, und einer oder der andre sehnt sich vielleicht gar nach der Zeit zurück, wo er ohne Gegenliebe, d. h. recht seinem Charakter gemäſs liebte.
Lassen Sie uns betrachten, wie der monologische Dichter mit seiner Geliebten, mit der Natur umzugehen pflegt. Dieser scheint freilich minder einseitig, weil er tausend einzelne Schönheiten im Reiche der Natur und Kunst sammelt, und aus ihnen sein s. g. Ideal der schönen Natur bildet: aber betrachten wir ihn näher, so werden wir inne werden, wie bald auch er geneigt ist, das was ihm einmal als schön vorgekommen ist, auf eine unkünstlerische Weise festzuhalten. Recht im Character eines orientalischen Despoten organisirt er die Welt um sich her nach einer Art von Faroritensystem: In der freien unendlich schönen Natur sucht er seine Lieblingsplätzchen aus: Tivoli, Vauclüse: nach Italien geht sein Streben; Lorbeern, Pinien müssen es seyn — die nordischen Tannen werden nicht mehr angesehn. Ferner hat er seine s. g. Lieblingsdichter; wer das monotone, einsylbige und doch so weichliche Herz nicht zu berühren vermag, der kann und soll gar kein Dichter seyn. Hiernächst hat er seine Lieblingshelden in der Geschichte; die allzu unbändigen und überschwenglichen, werden als Barbaren bei Seite gesetzt. Endlich hat er auch seine Lieblingsbeschäftigung und diese ist dann eben das Dichten, eben diese unglückliche monologische, sentimentale Liebe der Natur, die durch die Sprache ans Licht soll. — Auf Reisen, im Umgang mit den Lieblingsdichtern, wo der junge Poet seine Geliebte wie aus der Ferne anbetete, da ward die Liebe noch genährt von der einzigen Kost die ihr bereitet ist, von der Hoffnung der Gegenliebe — da ahndete ihr noch nicht daſs sie dereinst die Wolke statt der Juno ergreifen würde. Nun soll der erhabene Umgang mit dem Ideal, oder der Muse, oder wie sie heissen mag, wirklich angehen; 47es soll mit ihr gesprochen werden und sie soll antworten, aber da will sich kein Wort in das andre fügen und eingreifen: wir haben doch ihr zu gefallen die ganze Welt verachtet, alles übrige ausser ihr rein vernichtet oder mit Ekelnamen bei Seite gesetzt als, z. B. rauhe, gefühllose Wirklichkeit, traurige Schranken des conventionellen oder Geschäfts-Lebens, elende Sorge um Brod und Familie. Trotz alle dem schweigt sie und gebehrdet sich bei unsern Versen zu ihrem Lobe, wie bei einem Monolog den wir an uns selbst hielten. So löst sich die monologische Leidenschaft zur Kunst endlich auf in dumpfe Hoffnungslosigkeit, in dieselbe an der monologischen Liebe dargestellte Selbstpeinigung, die sich anfänglich noch auszuschütten vermag in harmonischen Klagen über die entflohenen Ideale, endlich aber welkt und mit ihrem Eigner dahin stirbt. Ich brauche nicht die Namen der vielen jungen und hoffnungsvollen deutschen Dichter zu nennen, die auf diese Weise für die höhere Kunst verlohren gegangen. Bemerken wir nur für den gegenwärtigen Zweck, wie hauptsächlich die lyrische Poesie, in den ersten Tagen solcher unglücklichen Leidenschaft für die Muse, wo Hoffnung und Erinnerung noch rege sind, sich am willfährigsten zeigt, und die jungen, nachher (wie man das höhere von ihnen erwartete) ausgestorbenen Dichter, noch im Stande waren, uns mit sapphischen Oden wenigstens, mit Liedern, Elegien und dann neuerdings besonders mit Sonnetten zu bedienen. An dramatische Poesie dachten sie kaum. — Unsre groſsen Dichter selbst, unter ihnen vornehmlich Schiller, hatten auch in früheren Jahren eine ähnliche unglückliche Leidenschaft für die Muse, unglücklich nenne ich sie trotz dem reizenden und verführerischen Klange ihrer damaligen Klagen, aber wie bald ward sie bei Schiller von religiösem Streben nach dem Ideale verdrängt, und blieb blos als Erinnerung, als wohlthätiges Glied in der Bildungsgeschichte des Dichters zurück. Auch ihm kam es einst vor als seien die Ideale zerronnen: möge jedes groſse Talent solche Klage so würdig und schweigend zurücknehmen, als er es durch die Bildung seines Wallenstein gethan. Innrer, durch einzelnes Miſslingen nicht zu zerstörender Drang nach der dramatischen Poesie, wie Schillers, ist das sicherste Kennzeichen wahren poetischen Strebens. So viel von monologischer Liebe im Leben und in der Kunst. Wir können ihr nachrufen: sie solle das Leben nicht allzu ernsthaft nehmen, sie soll das schöne und gute, was sie in einzelnen Momenten ergriffen, nicht voreilig als einzig schönes und gutes ergreifen. Auch das Spiel verlange seine Rechte neben dem Ernst. — Jenen dialogischen Naturen hingegen, die aus leichtsinnigem Schwanken von einer Schönheit zur andern, aus raschem unstäten Genuſs des Lebens und der Kunst, aus der Freude am Neuen und an den unendlichen Veränderungen der Welt ihren Beruf machen, die ohne festen Wohnsitz für ihr Herz, ohne Auszeichnung für irgend ein besonderes Schöne, jedem huldigen, was sie beschäftigt und allenthalben ihre Rechnung finden — diesen immer spielenden, gleichsam demokratischen Naturen, möchten wir wieder einen gewissen monarchischen Ernst empfehlen. Vielleicht finden sie sowohl, als die monologischen, sich mit allem, was ihnen werth ist, in verklärter Gestalt in der dramatischen Natur wieder.
48Es könnte mir vorgeworfen werden, daſs in der bisherigen Darstellung das monologische Interesse am Leben, am Drama und an[BKA] emendiert ›an‹ aus ›au‹. Im Druckbild handelt es sich doch eher um ein korrektes ›n‹, dessen Druckerschwärze papierbedingt verlaufen ist. Dieses Ausreiſsen der Buchstabenkonturen ist eine generell zu beobachtende Erscheinung des Phöbusdruck, so dass an verschiedenen Stellen ein ›n‹ wie ein ›u‹ und umgekehrt erscheint. Zur Beurteilung dieses Befundes eignet sich der Reprint von 1924 [Phöbus-Reprint:1924] übrigens besser als der von Sembdner herausgebene von 1961 [Phöbus-Reprint:1961]. einzelnen Personen, einer ganz besondern Aufmerksamkeit gewürdigt worden sei, das dialogische Interesse hingegen nur leicht und im Vorübergehn berührt. Indeſs hängt der deutsche Character vornehmlich nach der monologischen Seite hinüber: geneigt, zu einförmigem Umgange mit sich selbst und nicht eben tief in der Treue, aber ängstlich und scrupulös darin, rechtfertigt er zu leicht eine ungesellige Härte seiner Natur, und sein ganzes monologisches Wesen mit dem Grundsatze der Beharrlichkeit. Die wahre höhere Treue schlieſst das ins unendliche fortgesetzte Aneignen aller Schönheit, alles neuen und wahren nicht aus: weil wir festhalten wollen, was wir einmal erworben, so werden wir deshalb warlich nicht aufgeben, immer neues zu erwerben.
Betrachten wir das dramatische Interesse zuerst ohne alle weitere Anwendung auf Leben und Kunst, an einer theatralischen Darstellung, und versetzen wir uns gemeinschaftlich vor irgend eine deutsche Bühne, die Göthes Egmont zu geben im Begriff ist.
Der Schauspieldirektor, der auf ein monologisches Publicum, nicht aber eben auf unsern Besuch gefaſst ist, hat die Rollen Egmonts und Klärchens mit besonderer Auswahl besetzt, die zwischen beiden vorfallenden Scenen mit vorzüglicher Aufmerksamkeit probirt, und so erscheint uns diese an und für sich schöne und graziöse Nebenhandlung ungebührlich heraus gehoben auf dem verworrenen Hintergrunde, in dem die rebellischen Niederländer und der teuflische Alba ihr Wesen treiben. Die ernste Amazone, Margarethe von Parma, wenn sie nicht gar wegen unnützer Verzögerung des Stücks ganz herausgeworfen wird, sagt die Stellen, in denen sich leise Spuren einer unterdrückten Leidenschaft für Egmont finden, ihrem Publicum zu gefallen, mit einem besonders anzüglichen Accent: und so wird dieses erhabene Wesen, in dem sich die angeerbte Herrschsucht, die kluge Kälte ihrer Vorfahren und Menschlichkeit und Weiblichkeit auf eine so eigne Weise berühren — sie wird herabgewürdigt zu einer Würze für Egmonts geheime Liebschaft. Alba, der Thürsteher der alten Welt, Engel des Todes für alle Verächter des Königs und der Kirche, die Treue selbst in ihrem Übergange zur Versteinerung: was spricht er vom Throne, von Gesetzen und Freiheiten in dem unausstehlich lang gedehnten Gespräch mit Egmont am Schlusse des vierten Acts; wir wollen wissen, was aus Egmont und Klärchen wird. Wir kennen den Bösewicht schon: er hat gestern den Amtmann in den Jägern gespielt: die Präsidenten und vornehmen Verbrecher aller Art sind sein Fach; von dem ist nichts Gutes zu erwarten: Halt! er fordert Egmont seinen Degen ab und der Vorhang fällt.
Nun entstehn im Publicum vielfache Vermuthungen über den fünften Act: im Ganzen ist man darin einig, daſs wahrscheinlich, was auch schon Egmont vermuthet habe, der König Philipp plötzlich ankommen werde, die Unschuld Egmonts erkennen, den Bösewicht Alba entlarven und stürzen und daſs dann die Sache zwischen Klärchen 49und Egmont auf irgend eine annehmliche Weise, auch zur Zufriedenheit des armen Brackenburg Müller erinnert hier falsch: nicht ›Brankenburg‹ sondern ›Brackenburg‹ heiſst der Bürgersohn in Goethes ›Egmont‹. arrangirt werden, und dergestalt jedem sein Recht widerfahren werde. Nichts von allem erfolgt: der König bleibt aus, Alba selbst erscheint nicht wieder, von dem doch wenigstens einige Gewissensbisse als Satisfaction zu erwarten waren. Klärchen stirbt an Gift, Egmont auf dem Schafot und das Publicum geht murrend auseinander. Von den derben, irdischen Gerichtshöfen in Ifland’s und Kotzebue’s Kotzbue’s fünften Acten, wo das Laster mit Verachtung bestraft und die Tugend mit Pensionen und Avancement belohnt wird — keine Spur. Der Prozeſs wird an einen höheren, himmlischen Gerichtshof verwiesen.
Dieser himmlische Gerichtshof alles schönen und groſsen, vor dem das juristisch zu rechtfertigende und das öconomisch-nützliche und brauchbare nur eine schwache Stimme hat; vor dem Egmont, Alba und Klärchen gehört werden, wie der Schneider Jetter, Vansen und Brackenburg: dieser himmlische Gerichtshof ist es, den das wahre, dramatische Interesse im Auge hat. Die poetische Gerechtigkeit, die der Dichter und der Zuschauer gewähren müssen, ist die, daſs der eine ein bis in seine kleinsten Theile zusammenhängendes, einfaches Ganzes gebe, und daſs der andre es als solches empfange. Damit es ein Ganzes sein könne, muſs das Drama einen Mittelpunct haben, (in unserm Beispiele den Helden: Egmont) auf den sich alles übrige bezieht, gleichsam eine goldne Axe, um die sich das ganze schöne Werk herbewege: einer darin muſs ruhig bleiben, immer von neuem erinnern, daſs sich um ihn, wie um den Grundton des Werks, die ganze harmonische Welt bewege: nur so, durch Betrachtung und Gefühl der Bewegung und des Fortschreitens, in denen allein die Schönheit zu erscheinen vermag, wird der Zuschauer in dieselbe harmonische Bewegung fortgerissen, die nicht nachlaſst, obwohl das Werk endlich den irdischen Augen verschwindet. Der Held ist dann freilich dahin, aber das Heldengefühl harmonischen Ergreifens chaotischer Zustände und unstäter, roher Massen zu einem erfreulichen und segensreichen Ganzen ist zurückgeblieben, und um dieses Heldengefühl allein ist Egmont uns werth geworden. Die Axt, die den Egmont der Bühne trifft, schneidet jenen freilich von uns ab, aber er selbst ist erneuert und erhöht in unserm Herzen; dem Pantheon der Schönheit in unserm Gemüth, den edelsten, begeisterndsten Erinnerungen unsers Lebens beigefügt, so in den seiner würdigsten Tempel gesetzt und die höchste Gerechtigkeit vollzogen. So erscheint hier in veredelter Gestalt innerhalb des dramatischen Interesse der rechte Antheil an dem Helden wieder, den wir vorher in der einseitigen monologischen Form verurtheilen muſsten.
Aber nicht Egmont allein ist in unserm Herzen verklärt: Untersuchen wir jetzt, wie das dialogische Interesse an dem Wechsel der Erscheinungen sich in dem dramatischen Interesse geläutert wieder erkennt, wie der französische Zuschauer mit seiner Todesangst vor dem ennui, der die Liebe in ihren tausend wechselnden Farben verlangt, und der deutsche monologische Zuschauer mit seinem Sinn für die Treue, mit seiner Scheu vor aller Ungerechtigkeit und Kränkung seines Helden in der höhern 50dramatischen Sphäre, wenn sie sich nur bequemen wollen, beide ihre Rechnung finden. Egmont stand nicht da, wie die Axe eines Mühlrades, dieselben Speichen und Schaufeln, dieselben groſsen Gesinnungen und Handlungsweisen in todter Einförmigkeit um sich her drehend, sondern wie die Axe eines Weltkörpers, die muntre Bewegung eines freien Volkes, den Zwiespalt der Partheien, Oraniens sinnende Klugheit, Alba’s Härte, Klärchens kindliche Unschuld und Margarethes Melancholie, mit sich und dicht in sein Leben verwebt an uns vorüberführend. — Mannichfaltige Naturen treten in Verhältnisse zum Helden, stellen sich ihm entgegen, stehen ihm bei: sollte nun nicht das, was durch seinen Beitritt oder seine Herausforderung alle groſse Handlungen im Helden veranlaſst, das, wodurch er erst zum Helden wird, eben so viel werth sein, als er, eben den Antheil verdienen. So wandelte dann der Held als steigender Monolog durch die fünf Acte hin; aber dieser Monolog lebt und wirkt und entwickelt sich in dem durch immer neue Gestalten angefrischten Dialog: eines ohne das andre wäre nichts; als höchstens die Form eines einseitigen, unkünstlerischen Lebens.
In den gewöhnlichen Mittheilungen des Lebens zeigt sich ganz dasselbe: entweder wird monologisch um das Rechthaben, um den Sieg dieser oder jener Meinung, um den Triumph dieses oder jenes Helden, dieser oder jener Parthei gestritten; oder dialogisch, wo hinüber und herüber künstlich und zierlich mit Worten gespielt, mit Sophismen gewechselt und völlig gleichgültig gegen irgend ein Resultat, die Lust des Sprechens an sich, und der wunderlichen, zeitverkürzenden Sprünge gewandter Köpfe genossen wird. — In dem ächten dramatischen Gespräch hingegen mag immerhin der Streit um den Sieg einer einzelnen Sache beginnen: unter den Händen der kunstreichen Redner wächst aber allmählig diese Sache, wie der Held im fortschreitenden Drama. Es läuft nicht darauf hinaus, daſs endlich eine der beiden streitenden Partheien zum Stillschweigen gebracht sei, und die andre den gewonnenen Satz beistecke und nach Hause gehe: es läuft auch nicht darauf hinaus, daſs beide wie nach dialogischem Gespräch in wohlthätige Schwingung und Seelenmotion versetzt sich trennen. Sondern wachsend über alle persönliche Schranken der ersten Erscheinung hinaus reinigt sich, läutert sich der Gegenstand des dramatischen Gesprächs zu einer Art von Schutzgott des edelgeführten Streits, der jeden Streiter mit eigenthümlichem Kranze belohnt, beide einander nähert, sie gegenseitig verständigt und mildert, sie erinnert, daſs der Streit wohl ein unendlicher sei, daſs aber er, der Schutzgott des Streits, die gemeinschaftlich erstrittene Idee, oder wie wir ihn sonst nennen mögen, in immer schönerer Gestalt dabei zugegen sein, an welcher Stelle sie sich wieder treffen möchten, sie schon erwarten werde.
Guter Ton mag es immerhin sein, sich in guter Gesellschaft auf keinen Gegenstand zu fixiren und zu appesantiren, und keine Materie zu approfondiren, im reizen51den, reizenden geflügelten Dialog an der Oberfläche gleichgültiger Seelen nur so hinzugleiten, und wie im Eiertanz den Ernst, die Strenge, die Tiefe und den ennui auf gleiche Weise zu vermeiden: schlechter Ton mag es sein, immer nur Recht haben zu wollen, und wo sich die Gelegenheit zeigt, sogleich mit Reden, Abhandlungen, Monologen und schneidenden Urtheilen aufzuwarten; aber schöner Ton verdient nur die dramatische Form einer Gesellschaft zu heiſsen, die Form, die wir am dramatischen Gespräch beschrieben haben, und bei der der Genius präsidirt. Carricaturen dieses Genius, dieses Geistes der Gesellschaft, finden sich auch da, wo der gute und der schlechte Ton herrscht: in der guten Gesellschaft ist es die s. g. Dezenz und der gute Geschmack; in der schlechten Gesellschaft ist es Recht und Gerechtigkeit, oder Convenienz, Respect vor dem Alter, Rang und Stand. Der Schutzgeist des schönen Tons vermeidet weder blos das Unanständige, noch ist er ein bloser kalter Rechtsprecher: er gestattet einzelnen Helden, einzelnen groſsen Angelegenheiten von Welt und Zeit nicht blos das Wort, er ruft sie vielmehr herbei, belebt alle, selbst die unbedeutenderen Seelen, daſs sie in ihrer Art mitwirken, eingreifen, auch durch ihre ärmere Eigenthümlichkeit den Gegenstand gestalten helfen, und wenn dieser auch endlich die Hauptzüge von den Helden der Gesellschaft an sich trägt, so findet doch jeder schwächere darin wieder, womit er ihn bereichert, jeder fühlt, daſs er wesentlich zu dem schönen Ganzen gehörte, und beugt sich um so williger vor den Helden, als mit ihrer Erhebung auch die Theilnehmer ihres Verdienstes geadelt werden. Ein Gefühl, eine Ahndung des höhern ist es, was die schöne Gesellschaft zurücklassen muſs: keine bloſse, kalte Bewunderung der ausgezeichnetsten Glieder: diese sind nur die höheren Sprossen der Leiter, auf der das Ganze zu einem reineren, freiern Dasein hinaufgetragen wird. Die schöne Gesellschaft hat einen monarchischen Anfang: einzelne Mitglieder ragen hervor, imponiren: sobald aber ihr Leben um sich greift, wird alles durchdrungen von der Lust, sich anzuschlieſsen, mitzusteigen, und so wird gegen das Ende hin das ganze Wesen immer republikanischer, bis sich alles in eine einzige gemeinschaftliche schöne Empfindung auflöſst, und jeder einzelne seine eigne Kraft und die Gleichheit Aller vor dem Schönen und Guten fühlt. — So auch im Drama: anfangs ragt in der langsamer schreitenden Handlung der Held allein hervor: die stillern Charactere haben Zeit, sich zu entwickeln, bis sie ihre Kraft fühlen und wie Titanen gegen den Jupiter anrennen: alles fängt nun republikanisch an zu gelten, die Handlungen, die Begebenheiten drängen sich, bis der Held siegt oder untergeht. Es ist besser, er falle: daſs er der Fluth der Begebenheiten unterliegt, schändet ihn nicht: und es ist wesentlich, daſs den schwächeren selbst die Möglichkeit der Abgötterei mit seiner Person abgeschnitten werde, und daſs in allen Gemüthern zurückbleibe — allein — der Gedanke des ewigen Friedens der Natur, erhoben durch das Schauspiel eines recht heldenmüthigen Streites. — Der Hauptprüfstein des dramatischen Interesse vor der Bühne ist, daſs der Held und seine Gegner gleich wichtig erscheinen, kurz, daſs man fähig sei, in dem ganzen Drama, nicht blos in einzelnen begünstigten Personen, oder in den mit einem monologischen Kunstnamen s. g. schönen Stellen zu leben; 52daſs man nicht verlange am Ende, weder daſs der Held Recht behalte und gerochen werde, wenn ihm Unrecht geschehn, noch daſs die beiden Liebenden aneinander gebracht werden, sondern daſs man zufrieden sei mit der Erhebung zu höhern Ideen der Kunst, d. h. des Lebens, dessen Blüthe die Kunst ist.
Das Wesen des Dramatischen wäre demnach characterisirt: in der Gesellschaft, in aller Mittheilung überhaupt, in der wahrhaften und edlen Anhänglichkeit an bestimmte Personen, im ächten Antheil an den Darstellungen der wirklichen Bühne haben wir es wieder gefunden und so zuförderst die Welt selbst auf die Schaubühne gestellt, oder daſs ich es bescheidener ausdrücke, das Publicum mit seinen einseitigen Gliedern gleichsam von der Bühne aus betrachtet. Manche Verbindungen mit entfernter liegenden Regionen sind angeknüpft angeknüft und jetzt, da uns die Mauern des Theaters nicht mehr ganz hoffnungslos von der übrigen Welt trennen, da das wirkliche Leben mit dem idealischen Treiben des Theaters in Beziehung gebracht, und ein freier weiter Standpunct gewonnen ist, jetzt darf ich einladen, mit mir vom Parterre aus die Bühne zu betrachten.
(Die Fortsetzung folgt.)
Quellenangabe für Zitat:
https://kleist-digital.de/phoebus/01/07 [ + Angabe von Zeile / Vers oder Seite ], 26.12.2024
279an[BKA] emendiert ›an‹ aus ›au‹. Im Druckbild handelt es sich doch eher um ein korrektes ›n‹, dessen Druckerschwärze papierbedingt verlaufen ist. Dieses Ausreiſsen der Buchstabenkonturen ist eine generell zu beobachtende Erscheinung des Phöbusdruck, so dass an verschiedenen Stellen ein ›n‹ wie ein ›u‹ und umgekehrt erscheint. Zur Beurteilung dieses Befundes eignet sich der Reprint von 1924 [Phöbus-Reprint:1924] übrigens besser als der von Sembdner herausgebene von 1961 [Phöbus-Reprint:1961].
318 Brankenburg Müller erinnert hier falsch: nicht ›Brankenburg‹ sondern ›Brackenburg‹ heiſst der Bürgersohn in Goethes ›Egmont‹.
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