kleist-digital
  • Werke
  • Briefe
  • Verzeichnisse
  •  Lexikalische Suche
  •  Semantische Suche
kleist-digital
  •  Suche
  • Werke
  • Briefe
  • Verzeichnisse

  • Apparat
  • Überlieferung
  • Emendationen
  • Kollation Editionen
  • Stellenkommentar

    Artikel im Heft

    • Prolog
    • Penthesilea. Organisches Fragment.
    • Bedeutung des Tanzes
    • Engel am Grabe des Herrn
    • [Engel am Grabe d. Herrn] Anmerkung
    • An Dorothee
    • Fragmente dramatische Poesie und Kunst
    • Popularität und Mysticismus
    • Frau von Stael-Holstein
    • Epilog
    • Inhaltsanzeige
  • Home
  • Werke
  • Phöbus 01
  • Fragmente dramatische Poesie und Kunst

Textwiedergabe  nach Erstdruck.

  • Fassung Erstdruck
    emendiert
  • Textversion
    ohne orig. Zeilenfall
  • Textversion
    [+] ohne ſ, aͤ, oͤ, uͤ

Alle Textversionen sind inhaltlich identisch und folgen dem angegebenen Textzeugen.
Die Fassung Erstdruck/Textzeuge zeigt die zeichengenaue Wiedergabe des Textzeugen. Nur offensichtliche Fehler sind emendiert. Alle Emendationen sind im Apparat verzeichnet. Der originale Zeilenfall ist beibehalten. Die Fassung wird auf Smartphones wegen der Zeilenlänge nicht angezeigt.

In der Textversion ohne originalen Zeilenfall wird der Zeilenfall mit einem Schrägstrich / angezeigt, die Zeile wird aber nicht umbrochen. Ansonsten folgt sie der angegebenen Textquelle.

In der Textversion ohne ſ, aͤ, oͤ, uͤ sind zusätzlich das lange ſ und historische Umlautformen der heutigen Orthographie angepasst.

41

V. Fragmente über die dramatische Poesie und Kunst.

I. Monologische, dialogische und dramatische Naturen.

Wir können für den Zweck, den wir uns vorgesetzt, die einzelnen menschlichen
Gestalten, die das Leben, die Gesellschaft, die Geschäfte an uns vorüberführen, in
drei groſse, leicht zu unterscheidende Classen abtheilen. Die Naturen der einen Gat⸗5
tung
sind monolog; sie sprechen und lehren, ohne selbst wieder zu hören, oder
ohne eigentlich eines Hörers zu bedürfen, die ganze Welt wird von ihnen abgehandelt,
ohne je behandelt zu werden; wenn man den Spuren der gesellschaftlichen Langen⸗
weile
nachgeht, wird man meistentheils als Veranlassung auf eine dogmatische Crea⸗
tur
der Art stoſsen, die aus der fröhlichen, reichen, sonnigen Natur nichts weiter zu 10
machen weiſs, als einen Catheder für ihre finstre, einsame Weisheit.
Um ihre Stirne
spielt vergebens in tausend Farben die Poesie und alle Lebenslust: sie wissen von
nichts als von weiſs und schwarz, und nur wo etwa ihre Eitelkeit schmeichelnd er⸗
griffen
wird, meldet sich einiges Gehör bei ihnen: der schmeichelnde Widersprecher
wird als Curiosität, als zu den sonderbaren Spielarten der Natur gehörig, abgefertigt, 15
und der Faden der Behauptungen wieder angeknüpft ohne Ende.
Die zweite Gattung
möchte ich aus den dialogischen Naturen bilden: ein leichtblütigeres, lockeres
Geschlecht: ohne ferneren Wunsch, die Welt weiter zu fördern, übt es sich, der
Thorheit und der Weisheit gleich faſslich und mundrecht zu sprechen. Diesen viel⸗
fragenden,
wiſsbegierigen Wesen ist jeder andre in seiner Art, wie sie sich aus⸗20
zudrücken
pflegen, der wahre und rechte, wie sie denn auch den Triumph ihrer
Umgänglichkeit und Beweglichkeit darin setzen, sich in die Welt zu schicken, und
die Menschen zu nehmen, wie sie sind. Das allzuernste, allzubestimmte, be⸗
sonders
die recht characteristischen Exemplare der ersten Gattung mit ihren Behaup⸗
tungen
und Abhandlungen widerstehn ihnen, und sie haben eine Virtuosität darin, 25
jene in sich selbst zu verwickeln oder sie inmitten des Vortrags im Stich zu lassen.

In sich etwas entwickeln, sich durch die Einsamkeit zu erheben und auszuweiten für
umfassende Geschäfte oder lang nachklingende Werke ist ihre Sache nicht: was der
Augenblick erwirbt, muſs der Augenblick verzehren; wie der Gedanke sich meldet,
muſs er gesagt werden und ergreifen.
Daher ihre Geselligkeit, ihre Unschädlichkeit, 30
ihre zierliche Unruhe, ihre Flüchtigkeit, ihre Entzündbarkeit; daher die Gemein⸗
sprüche
meistentheils von ihrer Seite herklingen: alles in der Welt ist relativ, jede
Sache hat zwei Seiten, es kommt auf den Standpunct an, aus dem man die Dinge
betrachtet.

Über diesen beiden Gattungen, in ihrer Mitte,. Mitte, oder wie wir wollen, erhebt sich 35
eine dritte, seltene und unvergleichliche: möge sie einstweilen die dramatische
heiſsen.
Gleich weit entfernt von der Versteinerung der monologischen, und von der
Zerschmolzenheit der dialogischen Naturen, dennoch fester als Stein, flüssiger und
42beweglicher als Wasser: der Einsamkeit der ersteren und der Vielsamkeit der letzte⸗
ren
auf gleiche Weise abgeneigt und dennoch allein, eigenthümlich zugleich, und 40
durch das ganze Reich des Lebendigen verbreitet, allgegenwärtig möchte ich sagen,
wenn ich des Shakespear gedenke — so stehn und wandeln sie weder blos auſser
aller Zeit, und abstrahirend von aller Zeit wie jene Prediger in der Wüste, noch bloſs
in ihrer Zeit, wie die in der zweiten Gattung beschriebenen farben- und tonreichen,
federleichten, gesprächigen Seelen.
45

Ihr Gespräch, oder soll ich es Rede nennen, denn es ist beides, verweilt weder
blos, noch bewegt es sich blos: es ist lehrreich und nachgiebig, tief und leicht, ernst
und spielend zugleich, und wenn die monologischen Naturen zurückschrecken, die
dialogischen hingegen verführen, so zwingen und reizen die dramatischen, dahin,
wohin man gern folgt und wo man auch ewig bleiben kann.
— Für das am dritten 50
höheren Orte hier aufgestellte Ideal vereinigen vereingen sich unbedingt alle Stimmen der Leser
um so mehr, da die Ideale des dramatischen Dichters, des Schauspielers und des Men⸗
schen
, darin aneinandergeknüpft, in einem Bilde erscheinen: des Menschen, sage ich,
auf den ich, wie auf die dramatische Poesie und Kunst, durch die Überschrift nicht
erst besonders eingeladen habe, weil er, von dessen Lebenskunst alle anderen Künste 55
nur einzelne Glieder sind, sich selbst ohnehin nie vergessen darf. —

II. Monologisches Interesse für die Bühne.

Das Interesse, welches wir alle bei dramatischen Vorstellungen empfinden, möchte
sich aufs natürlichste nach unserm erwähnten Eintheilungsgrunde, unter dreierlei
Gestalten betrachten lassen.
Wir brauchen nur das monologische Interesse an der dra⸗60
matischen
Poesie in’s Auge zu fassen, so ergeben sich die beiden andern Gestalten von
selbst: besonders dem weiblichen Character ist dieser monologische Antheil eigen.

Empfänglicher für das Mitleiden und zur Hingebung fähiger folgen die Frauen gar zu
leicht ausschlieſsend den Schicksalen eines Lieblingshelden, der unter den übrigen
Personen des Drama’s ihrer Neigung und dem Ideale in ihnen vornehmlich entspricht. 65
Der Dichter verlangt für sein ganzes Drama und jeden einzelnen Character darin ein
ungetheiltes Interesse: das reinere und zartere Urtheil der Frauen ganz besonders,
sei es Eitelkeit oder ächter Kunststolz in ihm, möchte er für sich und sein ganzes Werk
gewinnnen; gewinnen; gewinnen dies wünscht er, möge noch mehr als der einzelne Held interessiren.

In den meisten Fällen wird indeſs nicht der Dichter, sondern sein Held mit der weib⸗70
lichen
Gunst belohnt: hingerissen von der Schönheit des einzelnen Characters, unwil⸗
lig
über die vielen und harten Schläge des Schicksals, die der Dichter über seinen
Helden herführt, bange um die endliche Lösung des traurigen Knotens, versäumen
die Frauen oft die ganze schöne Umgebung des Helden, entschlossen sich lieber in
Thränen aufzulösen, als seine Feinde oder das ihn verfolgende Schicksal irgend eines 75
Antheils zu würdigen.
— Ophelien, die einzige Erscheinung, die neben dem Ham⸗
let
sie [fehlt] zu interessiren vermochte, hat Wahnsinn und Tod schon verzehrt: allen An⸗
43theil
, der ihr geweiht seyn muſste, erbt Hamlet, der liebe, weiche, unentschlossene
Grübler; die Zuschauerinnen verfolgen ihn mit unverwandtem Blicke, sie möchten
lieber, daſs er sich nie entschlösse, nie die Rache für den ermordeten Vater ausführte; 80
wie gern sähen sie ihn eingeschifft nach England und in Sicherheit.
Aber der bösar⸗
tige
Dichter nöthigt ihn zur That.

Wenn nun endlich die ganze Familie von Leichen auf dem Boden gestreckt daliegt
und der geliebte, blonde Schwärmer dahin ist, und der Dichter den Fortinbras kom⸗
men
, und kalt und gleichgültig vom ausgestorbenen verödeten Throne Besitz nehmen 85
läſst, — verläſst der Theil der Zuschauer, um dessen Beifall der Dichter am eifrigsten
buhlte, die Bühne unbefriedigt und mit zerrissenem Herzen.
Wie wenn nun der
Dichter mehr ausdrücken wollte, als einen reizenden Jüngling, der nach hohem Ideale
des Lebens vergeblich ringt, und, weil dieses sich nicht ergreifen läſst, sich schauer⸗
lich
in Gedanken von Verbrechen, Wahnsinn und Tod vertieft: Wie wenn dem Dich⸗90
ter
jene häſslichen Schlingen des Schicksals eben so werth wären, als der jugendliche
Held, der sich darin verwickelt: wie, wenn er am Schluſs mit der Aussicht auf eine
glückliche Regierung eines thronbesteigenden Hamlets nicht zufrieden wäre, wenn er
eine Aussicht in die Unendlichkeit, in das Universum der Schönheit grade dadurch er⸗
öffnen
wollte, daſs er den einzelnen Helden und die irdische Schönheit hinopfert, um 95
das Heldenthum und eine himmlische Schönheit siegreich zu erhöhen.
Dann wäre er
dennoch zu rechtfertigen wegen der Angst, die er in schönen weiblichen Herzen ent⸗
zündet
. —
Möge es also monologisches Interesse heiſsen, das den Hamlet lieber ent⸗
führen
, einzeln und allein herausheben möchte aus seiner ganzen Umgebung, ehe es
ihn für einen groſsen Gedanken untergehen läſst.
Ich habe meine Beschuldigungen an 100
Frauen gerichtet, um das Beispiel zu veredeln.
Beim männlichen Geschlecht, so oft
es auch die hier beschriebene Schwäche für den Helden des Stücks theilen mag,
drückt sich der monologische Antheil noch auf eine andre minder reizende und mensch⸗
liche
, als characteristische Weise aus.

Dieses Geschlecht nemlich von der Natur zum Erwerbe bestimmt, mag nicht 105
leicht einen Schritt ohne bestimmten Zweck und augenscheinlichen Nutzen thun.

Wenn es sich also in das Theater begiebt, so setzt es voraus, daſs der Dichter durch
sein Werk irgend eine wichtige und gemeinnützige Wahrheit wie an Beispielen erläu⸗
tern
werde, daſs der Dichter wirklich keine höhere Absicht haben könne, als irgend
eine Lebensregel oder Klugheitsmaxime gleichsam auf eine spielende Weise seinem 110
Publicum beizubringen.
Jede Sentenz, die der Dichter, Gott weiſs in welcher an⸗
dern
Absicht, seinen Personen in den Mund legt, wird gierig zum fernern Hausge⸗
brauch
bei Seite gesteckt.
Zeigt sich am Ende, wie es sich denn oft trifft, daſs sich
aus dem Drama wichtige und neue Lehren ergeben, als z. B., daſs das Gute belohnt
und das Böse bestraft werden müsse, daſs alle Verbrechen endlich an den Tag kom⸗115
men
, und deshalb die Tugend geübt zu werden verdiene u. s. f., so geht unser lern⸗
begieriger
Zuschauer mit dem handgreiflich herausgebrachten Nutzen zufrieden nach
44Hause. —
Aus diesem trocknen und ich darf es wohl sagen, unedlen monologischen
Interesse an einem kalten Sittenspruch, dem zu Ehren der Dichter eine groſse, colos⸗
sale
, kleinen Herzen freilich zu überschwengliche Handlung in allen ihren unendli⸗120
chen
Zügen und groſsartigen Wendungen über die Bühne führen soll, aus diesem In⸗
teresse
sind alle die alberne Fragen über den moralischen Nutzen des Theaters, und
das ganze Heer langweiliger Predigten über den Werth des Hausfriedens, über die
Schädlichkeit der Hazardspiele und des Schuldenmachens u. s. f., mit denen Ifland nun
schon seit zwanzig Jahren langweilt, entsprungen.
Wenn der Dichter in andre Zei⸗125
ten
, zu andern, gewaltigern Naturen hinreiſsend, erhebt, die Seele aus ihren alten,
engen Fugen herausdehnt, aus dem dumpfen Alltagsleben, aus unnatürlicher Verker⸗
kerung
des Gesichtskreises fortführt in eine freie schrankenlose Weite, hier eine Aus⸗
sicht
auf hohe Laufbahnen menschlicher Gröſse, dort eine andre in das unermeſsliche
Meer menschlicher Schicksale eröffnet, hier in die Tiefe der Brust mit erschütternder, 130
fast vernichtender Allmacht greift, dort eine unergründliche Verwicklung erhabner
Leiden mit sanftem Finger leicht und natürlich löst — wenn ferner die Ideen, die
sich aus den tragischen Schauern wie aus dem Taumel der Fröhlichkeit erzeugen, end⸗
lich
wie ein einziger Sternenhimmel den weiten Horizont umspannen, wenn der
Held, gleichsam die Sonne des Drama’s, welche die ganze reiche Gegend beleuchtete, 135
nun untergegangen ist; wenn jede der einzelnen Ideen, die das Drama erweckt, nach
dem Fallen des Vorhangs, wie ein einzelnes Gestirn zurückbleibt, und alle diese
Gestirne deuten auf die unsichtbare, einfache, heilige Nothwendigkeit, die diesen
groſsen Schauplatz des Lebens mit dem Gedanken der Schönheit beseelt — wenn also
die Seele von dem Geiste des Drama’s erfüllt ist, dann laſst die Krämer kommen, mit 140
ihren öconomischen Fragen, was wohl der Dichter mit seinem Werke habe sagen
wollen, welchen philosophischen Satz beweisen, welche historische Begebenheit in
ihr gehöriges Licht setzen, welche Thorheit bestrafen, welchen sitten- und weltver⸗
bessernden
Plan an’s Herz legen — welches reine Gemüth wird dann nicht von diesem
monologischen und monotonen Interesse verletzt werden.
145

III. Elemente des Drama’s.

Das Drama hat zwei nothwendige Bestandtheile: ich nannte sie den Monolog und
den Dialog: eine Handlung, ein Held erscheint in mannichfaltigen Situatio⸗
nen
, im bunten, wechselnden Verkehr mit sehr verschiedenartigen Naturen. Man
sieht eine Handlung, hört ein Wort, einen heiligen Gedanken durch das ganze 150
Drama hindurchklingen (monologisches Element des Drama) behält auch einen einzi⸗
gen
tiefen und einfachen Eindruck zurück; und dennoch sieht man auch wieder viele
Handlungen, vernimmt sehr verschieden gestaltete Worte und das Spiel unendlicher,
kreuzender Gedanken (dialogisches Element des Drama).
Der wahre Zuschauer hat
ein Auge für beides: er sieht nicht blos die einzelnen Scenen, die in raschem Wech⸗155
sel
auf den Flügeln des Dialogs vor ihm hinschweben, er sieht aber auch nicht blos
den einen Gedanken, den einen Helden, den der Dichter hat darstellen wollen.
Er
45interessirt sich so gut für das veränderliche als für das bleibende; er interessirt sich so
gut für die Johanna von Orleans und ihren heiligen Entschluſs, den König zu retten
und zu krönen, als für alle die groſsen Charactere und Begebenheiten, die sich der 160
heldenmüthigen Jungfrau bald mit Waffen des Arms, bald mit Waffen des Reizes und der
Schönheit in den Weg stellen.
Das ist der wahre Zuschauer: diesen nennen wir den
dramatischen Zuschauer, weil er mit dem Kunstwerke beschäftigt ist, und in
demselben lebt, grade eben so, wie der dramatische Dichter, der es hervorgebracht.

IV. Von der monologischen Liebe. 165

Die beiden Arten der Einseitigkeit in Behandlung der Welt, des Menschen, der
Wissenschaften und des Drama’s, die wir oben durch den Unterschied des monolo⸗
gischen
und dialogischen erläuterten, treten nirgends deutlicher an den Tag,
als in der von allen Dramen, Romanen, Novellen und Sonnetten, besonders der
neuern Welt gefeierten Handlung par exellence, der Liebe nemlich.
Die Art der 170
Liebe, welche sich in ihren Gegenstand versenkt und verliert, die ihn sich so nahe
vor die Augen treten läſst, daſs er ihr die ganze übrige Welt mit ihren Reizen und
Heiligthümern verbirgt, verdient gewiſs den Namen der monologischen Liebe.

In der natürlichen Ordnung der Dinge ist die steigende Anhänglichkeit zu einem schö⸗
nen
Gegenstande, nichts weiter als die wachsende Erkenntniſs seiner Schönheit und 175
seines ungewöhnlichen Glanzes; da pflegt er denn der umgebenden Welt von seinem
Schimmer mitzutheilen, in manche dunkle verborgene Stelle des Herzens wie des Le⸗
bens
Licht zu verbreiten, der Genuſs seiner Gegenwart erhebt alle Fähigkeit, die
übrige Gegenwart zu genieſsen, und giebt erst das Bewuſstsein vom Reichthume und
der unendlichen Fülle des Lebens überhaupt.
Nicht so die monologische Liebe! Ob 180
sie nun vom ungewöhnlichen Glanze so geblendet ist, oder ob sie nur eines und im⸗
mer
nur eines zu tragen, zu halten, zu lieben weiſs, genug sie vergeht, sie zerrinnt
wie Semele vor dem erscheinenden Jupiter: die übrige Welt erscheint ihr schaal, trüb
und abgeschmackt: damit das eine geliebte Bild nur recht vergöttert werde, mag
nicht blos sondern muſs die ganze Natur in Staub zerfallen.
Bleiben vielleicht noch 185
Empfänglichkeit und Reize für anderweites Schöne und Groſse in dem Liebenden nach
monologischer Manier zurück, so macht er sich vielleicht eine tolle Gewissenspflicht
daraus, die Empfänglichkeit dafür als eine Art von Untreue zu unterdrücken, wo sie
sich meldet: Zwang, meint er, Casteiungen, Selbstpeinigungen, die dem geliebten
Gegenstand um so widriger erscheinen müssen, die um so sicherere Beweise der er⸗190
storbenen
Liebe sind, je gröſser das Verdienst und die Überwindung des Selbstpeini⸗
gers
ist — dies wähnt er, seien Opfer, die man dem Schönen auf Erden bringen
müsse.
Was aber diesen monologischen Liebhaber mehr als alles andre characterisirt,
ist der seltsame Umstand, daſs, wenn wir es recht betrachten, zu seiner Liebe der
Besitz seines Gegenstandes gar nicht eben nothwendig ist.
Er begnügt sich mit Anbe⸗195
tung
aus der Ferne und oft hat er es mit einer Composition idealisirter Züge zu thun,
46die der ganzen Welt ähnlich sehen mag, nur dem einen nicht, dem zu Ehren er die
ganze Welt vergiſst und vernichtet. —

Erfolgt die Gegenliebe nicht, so steht es schlimm — erfolgt sie, so steht es auch
nicht besser, denn nun wird alles einzelne, dem Gegenstande angedichtete gesucht 200
und nicht nur nicht, sondern ganz anders gefunden: ein Zug des voreilig abge⸗
faſsten
Ideals nach dem andern muſs ausgelöscht werden, weil nun einmal die Wirk⸗
lichkeit
eine Widersprecherin ist; aber an das Ganze wird demungeachtet immerfort
noch geglaubt — und so entsteht das ganze Heer von Qualen, und Verwicklungen,
die ein Kind auflösen könnte und die den Liebenden unauflöslich wie gordische Kno⸗205
ten
erscheinen.
Der ruhige Zeuge eines Gesprächs zwischen denen auf solche Weise
an einander gerathenen, wird die Wahrheit meiner Bezeichnung fühlen: jeder von
beiden spricht im Grunde für sich, hält einen Monolog an sein Ideal, in den die Wor⸗
te
des andern ihm gegenüberstehenden Monologs ungeschickt hineinstolpern und so
viel ihrer sind, miſsverstanden werden: die beiden unglücklichen Seelen bannen sich 210
durch diese gegenseitigen Zauberformeln immer fester; der Dialog, den sie eigentlich
wollen, der zarte, bewegliche Geist der Liebe entweicht mehr und mehr, und einer
oder der andre sehnt sich vielleicht gar nach der Zeit zurück, wo er ohne Gegenliebe,
d. h. recht seinem Charakter gemäſs liebte.

V. Der monologische Naturfreund. 215

Lassen Sie uns betrachten, wie der monologische Dichter mit seiner Gelieb⸗
ten
, mit der Natur umzugehen pflegt.
Dieser scheint freilich minder einseitig,
weil er tausend einzelne Schönheiten im Reiche der Natur und Kunst sammelt, und
aus ihnen sein s. g. Ideal der schönen Natur bildet: aber betrachten wir ihn näher,
so werden wir inne werden, wie bald auch er geneigt ist, das was ihm einmal als 220
schön vorgekommen ist, auf eine unkünstlerische Weise festzuhalten.
Recht im Cha⸗
racter
eines orientalischen Despoten organisirt er die Welt um sich her nach einer Art
von Faroritensystem: In der freien unendlich schönen Natur sucht er seine Lieblings⸗
plätzchen
aus: Tivoli, Vauclüse: nach Italien geht sein Streben; Lorbeern, Pinien
müssen es seyn — die nordischen Tannen werden nicht mehr angesehn.
Ferner hat 225
er seine s. g. Lieblingsdichter; wer das monotone, einsylbige und doch so weichliche
Herz nicht zu berühren vermag, der kann und soll gar kein Dichter seyn.
Hiernächst
hat er seine Lieblingshelden in der Geschichte; die allzu unbändigen und über⸗
schwenglichen
, werden als Barbaren bei Seite gesetzt.
Endlich hat er auch seine
Lieblingsbeschäftigung und diese ist dann eben das Dichten, eben diese unglückli⸗230
che
monologische, sentimentale Liebe der Natur, die durch die Sprache ans Licht
soll. —
Auf Reisen, im Umgang mit den Lieblingsdichtern, wo der junge Poet seine
Geliebte wie aus der Ferne anbetete, da ward die Liebe noch genährt von der einzigen
Kost die ihr bereitet ist, von der Hoffnung der Gegenliebe — da ahndete ihr noch nicht
daſs sie dereinst die Wolke statt der Juno ergreifen würde.
Nun soll der erhabene 235
Umgang mit dem Ideal, oder der Muse, oder wie sie heissen mag, wirklich angehen;
47es soll mit ihr gesprochen werden und sie soll antworten, aber da will sich kein
Wort in das andre fügen und eingreifen: wir haben doch ihr zu gefallen die ganze
Welt verachtet, alles übrige ausser ihr rein vernichtet oder mit Ekelnamen bei Seite
gesetzt als, z. B. rauhe, gefühllose Wirklichkeit, traurige Schranken des conventio⸗240
nellen
oder Geschäfts-Lebens, elende Sorge um Brod und Familie.
Trotz alle dem
schweigt sie und gebehrdet sich bei unsern Versen zu ihrem Lobe, wie bei einem
Monolog den wir an uns selbst hielten.
So löst sich die monologische Leidenschaft
zur Kunst endlich auf in dumpfe Hoffnungslosigkeit, in dieselbe an der monologi⸗
schen
Liebe dargestellte Selbstpeinigung, die sich anfänglich noch auszuschütten ver⸗245
mag
in harmonischen Klagen über die entflohenen Ideale, endlich aber welkt und mit
ihrem Eigner dahin stirbt.
Ich brauche nicht die Namen der vielen jungen und hoff⸗
nungsvollen
deutschen Dichter zu nennen, die auf diese Weise für die höhere Kunst
verlohren gegangen.
Bemerken wir nur für den gegenwärtigen Zweck, wie haupt⸗
sächlich
die lyrische Poesie, in den ersten Tagen solcher unglücklichen Leidenschaft 250
für die Muse, wo Hoffnung und Erinnerung noch rege sind, sich am willfährigsten
zeigt, und die jungen, nachher (wie man das höhere von ihnen erwartete) ausge⸗
storbenen
Dichter, noch im Stande waren, uns mit sapphischen Oden wenigstens,
mit Liedern, Elegien und dann neuerdings besonders mit Sonnetten zu bedienen. An
dramatische Poesie dachten sie kaum. —
Unsre groſsen Dichter selbst, unter ihnen 255
vornehmlich Schiller, hatten auch in früheren Jahren eine ähnliche unglückliche Lei⸗
denschaft
für die Muse, unglücklich nenne ich sie trotz dem reizenden und verfüh⸗
rerischen
Klange ihrer damaligen Klagen, aber wie bald ward sie bei Schiller von reli⸗
giösem
Streben nach dem Ideale verdrängt, und blieb blos als Erinnerung, als wohlthä⸗
tiges
Glied in der Bildungsgeschichte des Dichters zurück.
Auch ihm kam es einst 260
vor als seien die Ideale zerronnen: möge jedes groſse Talent solche Klage so würdig
und schweigend zurücknehmen, als er es durch die Bildung seines Wallenstein
gethan.
Innrer, durch einzelnes Miſslingen nicht zu zerstörender Drang nach der dra⸗
matischen
Poesie, wie Schillers, ist das sicherste Kennzeichen wahren poetischen
Strebens.
So viel von monologischer Liebe im Leben und in der Kunst. Wir können 265
ihr nachrufen: sie solle das Leben nicht allzu ernsthaft nehmen, sie soll das schöne
und gute, was sie in einzelnen Momenten ergriffen, nicht voreilig als einzig schönes
und gutes ergreifen.
Auch das Spiel verlange seine Rechte neben dem Ernst. — Jenen
dialogischen Naturen hingegen, die aus leichtsinnigem Schwanken von einer Schönheit
zur andern, aus raschem unstäten Genuſs des Lebens und der Kunst, aus der Freude 270
am Neuen und an den unendlichen Veränderungen der Welt ihren Beruf machen, die
ohne festen Wohnsitz für ihr Herz, ohne Auszeichnung für irgend ein besonderes
Schöne, jedem huldigen, was sie beschäftigt und allenthalben ihre Rechnung finden —
diesen immer spielenden, gleichsam demokratischen Naturen, möchten wir wieder ei⸗
nen
gewissen monarchischen Ernst empfehlen. Vielleicht finden sie sowohl, als die 275
monologischen, sich mit allem, was ihnen werth ist, in verklärter Gestalt in der dra⸗
matischen
Natur wieder.

48

Es könnte mir vorgeworfen werden, daſs in der bisherigen Darstellung das mono⸗
logische
Interesse am Leben, am Drama und an einzelnen Personen, einer ganz beson⸗
dern
Aufmerksamkeit gewürdigt worden sei, das dialogische Interesse hingegen nur 280
leicht und im Vorübergehn berührt.
Indeſs hängt der deutsche Character vornehm⸗
lich
nach der monologischen Seite hinüber: geneigt, zu einförmigem Umgange mit sich
selbst und nicht eben tief in der Treue, aber ängstlich und scrupulös darin, rechtfer⸗
tigt
er zu leicht eine ungesellige Härte seiner Natur, und sein ganzes monologisches
Wesen mit dem Grundsatze der Beharrlichkeit.
Die wahre höhere Treue schlieſst das 285
ins unendliche fortgesetzte Aneignen aller Schönheit, alles neuen und wahren nicht
aus: weil wir festhalten wollen, was wir einmal erworben, so werden wir deshalb
warlich nicht aufgeben, immer neues zu erwerben.

VI. Vom dramatischen Antheil.

Betrachten wir das dramatische Interesse zuerst ohne alle weitere Anwendung auf 290
Leben und Kunst, an einer theatralischen Darstellung, und versetzen wir uns gemein⸗
schaftlich
vor irgend eine deutsche Bühne, die Göthes Egmont zu geben im Begriff ist.

Der Schauspieldirektor, der auf ein monologisches Publicum, nicht aber eben auf
unsern Besuch gefaſst ist, hat die Rollen Egmonts und Klärchens mit besonderer Aus⸗
wahl
besetzt, die zwischen beiden vorfallenden Scenen mit vorzüglicher Aufmerksam⸗295
keit
probirt, und so erscheint uns diese an und für sich schöne und graziöse Neben⸗
handlung
ungebührlich heraus gehoben auf dem verworrenen Hintergrunde, in dem die
rebellischen Niederländer und der teuflische Alba ihr Wesen treiben. Die ernste Ama⸗
zone
, Margarethe von Parma, wenn sie nicht gar wegen unnützer Verzögerung des
Stücks ganz herausgeworfen wird, sagt die Stellen, in denen sich leise Spuren einer 300
unterdrückten Leidenschaft für Egmont finden, ihrem Publicum zu gefallen, mit ei⸗
nem
besonders anzüglichen Accent: und so wird dieses erhabene Wesen, in dem sich
die angeerbte Herrschsucht, die kluge Kälte ihrer Vorfahren und Menschlichkeit und
Weiblichkeit auf eine so eigne Weise berühren — sie wird herabgewürdigt zu einer
Würze für Egmonts geheime Liebschaft.
Alba, der Thürsteher der alten Welt, Engel 305
des Todes für alle Verächter des Königs und der Kirche, die Treue selbst in ihrem
Übergange zur Versteinerung: was spricht er vom Throne, von Gesetzen und Frei⸗
heiten
in dem unausstehlich lang gedehnten Gespräch mit Egmont am Schlusse des
vierten Acts; wir wollen wissen, was aus Egmont und Klärchen wird.
Wir kennen
den Bösewicht schon: er hat gestern den Amtmann in den Jägern gespielt: die Präsi⸗310
denten
und vornehmen Verbrecher aller Art sind sein Fach; von dem ist nichts Gutes
zu erwarten: Halt! er fordert Egmont seinen Degen ab und der Vorhang fällt.

Nun entstehn im Publicum vielfache Vermuthungen über den fünften Act: im
Ganzen ist man darin einig, daſs wahrscheinlich, was auch schon Egmont vermuthet
habe, der König Philipp plötzlich ankommen werde, die Unschuld Egmonts erkennen, 315
den Bösewicht Alba entlarven und stürzen und daſs dann die Sache zwischen Klärchen
49und Egmont auf irgend eine annehmliche Weise, auch zur Zufriedenheit des armen
Brankenburg Brackenburg
arrangirt werden, und dergestalt jedem sein Recht widerfahren werde.
Nichts von allem erfolgt: der König bleibt aus, Alba selbst erscheint nicht wieder, von
dem doch wenigstens einige Gewissensbisse als Satisfaction zu erwarten waren. Klär⸗320
chen
stirbt an Gift, Egmont auf dem Schafot und das Publicum geht murrend aus⸗
einander
. Von den derben, irdischen Gerichtshöfen in Ifland’s und Kotzebue’s Kotzbue’s fünf⸗
ten
Acten, wo das Laster mit Verachtung bestraft und die Tugend mit Pensionen und
Avancement belohnt wird — keine Spur.
Der Prozeſs wird an einen höheren, himm⸗
lischen
Gerichtshof verwiesen.
325

Dieser himmlische Gerichtshof alles schönen und groſsen, vor dem das juristisch
zu rechtfertigende und das öconomisch-nützliche und brauchbare nur eine schwache
Stimme hat; vor dem Egmont, Alba und Klärchen gehört werden, wie der Schneider
Jetter, Vansen und Brankenburg: Brackenburg: dieser himmlische Gerichtshof ist es, den das wahre,
dramatische Interesse im Auge hat.
Die poetische Gerechtigkeit, die der Dichter und 330
der Zuschauer gewähren müssen, ist die, daſs der eine ein bis in seine kleinsten Theile
zusammenhängendes, einfaches Ganzes gebe, und daſs der andre es als solches em⸗
pfange
.
Damit es ein Ganzes sein könne, muſs das Drama einen Mittelpunct haben,
(in unserm Beispiele den Helden: Egmont) auf den sich alles übrige bezieht, gleich⸗
sam
eine goldne Axe, um die sich das ganze schone schöne Werk herbewege: einer darin 335
muſs ruhig bleiben, immer von neuem erinnern, daſs sich um ihn, wie um den
Grundton des Werks, die ganze harmonische Welt bewege: nur so, durch Betrach⸗
tung
und Gefühl der Bewegung und des Fortschreitens, in denen allein die Schönheit
zu erscheinen vermag, wird der Zuschauer in dieselbe harmonische Bewegung fort⸗
gerissen
, die nicht nachlaſst, obwohl das Werk endlich den irdischen Augen ver⸗340
schwindet
. Der Held ist dann freilich dahin, aber das Heldengefühl harmonischen
Ergreifens chaotischer Zustände und unstäter, roher Massen zu einem erfreulichen und
segensreichen Ganzen ist zurückgeblieben, und um dieses Heldengefühl allein ist
Egmont uns werth geworden.
Die Axt, die den Egmont der Bühne trifft, schneidet
jenen freilich von uns ab, aber er selbst ist erneuert und erhöht in unserm Herzen; 345
dem Pantheon der Schönheit in unserm Gemüth, den edelsten, begeisterndsten Erin⸗
nerungen
unsers Lebens beigefügt, so in den seiner würdigsten Tempel gesetzt und
die höchste Gerechtigkeit vollzogen.
So erscheint hier in veredelter Gestalt innerhalb
des dramatischen Interesse der rechte Antheil an dem Helden wieder, den wir vorher
in der einseitigen monologischen Form verurtheilen muſsten.
350

Aber nicht Egmont allein ist in unserm Herzen verklärt: Untersuchen wir
jetzt, wie das dialogische Interesse an dem Wechsel der Erscheinungen sich in dem
dramatischen Interesse geläutert wieder erkennt, wie der französische Zuschauer mit
seiner Todesangst vor dem ennui, der die Liebe in ihren tausend wechselnden Farben
verlangt, und der deutsche monologische Zuschauer mit seinem Sinn für die Treue, 355
mit seiner Scheu vor aller Ungerechtigkeit und Kränkung seines Helden in der höhern
50dramatischen Sphäre, wenn sie sich nur bequemen wollen, beide ihre Rechnung fin⸗
den
.
Egmont stand nicht da, wie die Axe eines Mühlrades, dieselben Speichen und
Schaufeln, dieselben groſsen Gesinnungen und Handlungsweisen in todter Einförmig⸗
keit
um sich her drehend, sondern wie die Axe eines Weltkörpers, die muntre Bewe⸗360
gung
eines freien Volkes, den Zwiespalt der Partheien, Oraniens sinnende Klugheit,
Alba’s Härte, Klärchens kindliche Unschuld und Margarethes Melancholie, mit sich
und dicht in sein Leben verwebt an uns vorüberführend. —
Mannichfaltige Naturen
treten in Verhältnisse zum Helden, stellen sich ihm entgegen, stehen ihm bei: sollte
nun nicht das, was durch seinen Beitritt oder seine Herausforderung alle groſse Hand⸗365
lungen
im Helden veranlaſst, das, wodurch er erst zum Helden wird, eben so viel
werth sein, als er, eben den Antheil verdienen.
So wandelte dann der Held als
steigender Monolog durch die fünf Acte hin; aber dieser Monolog lebt und wirkt und
entwickelt sich in dem durch immer neue Gestalten angefrischten Dialog: eines ohne
das andre wäre nichts; als höchstens die Form eines einseitigen, unkünstlerischen 370
Lebens.

VII. Von der schlechten, von der s. g. guten und von der schönen Gesellschaft.

In den gewöhnlichen Mittheilungen des Lebens zeigt sich ganz dasselbe: entweder
wird monologisch um das Rechthaben, um den Sieg dieser oder jener Meinung,
um den Triumph dieses oder jenes Helden, dieser oder jener Parthei gestritten; oder 375
dialogisch, wo hinüber und herüber künstlich und zierlich mit Worten gespielt,
mit Sophismen gewechselt und völlig gleichgültig gegen irgend ein Resultat, die Lust
des Sprechens an sich, und der wunderlichen, zeitverkürzenden Sprünge gewandter
Köpfe genossen wird. —
In dem ächten dramatischen Gespräch hingegen mag
immerhin der Streit um den Sieg einer einzelnen Sache beginnen: unter den Händen 380
der kunstreichen Redner wächst aber allmählig diese Sache, wie der Held im fort⸗
schreitenden
Drama.
Es läuft nicht darauf hinaus, daſs endlich eine der beiden strei⸗
tenden
Partheien zum Stillschweigen gebracht sei, und die andre den gewonnenen
Satz beistecke und nach Hause gehe: es läuft auch nicht darauf hinaus, daſs beide wie
nach dialogischem Gespräch in wohlthätige Schwingung und Seelenmotion versetzt 385
sich trennen.
Sondern wachsend über alle persönliche Schranken der ersten Erschei⸗
nung
hinaus reinigt sich, läutert sich der Gegenstand des dramatischen Gesprächs zu
einer Art von Schutzgott des edelgeführten Streits, der jeden Streiter mit eigenthüm⸗
lichem
Kranze belohnt, beide einander nähert, sie gegenseitig verständigt und mildert,
sie erinnert, daſs der Streit wohl ein unendlicher sei, daſs aber er, der Schutzgott 390
des Streits, die gemeinschaftlich erstrittene Idee, oder wie wir ihn sonst nennen mö⸗
gen
, in immer schönerer Gestalt dabei zugegen sein, an welcher Stelle sie sich wie⸗
der
treffen möchten, sie schon erwarten werde.

Guter Ton mag es immerhin sein, sich in guter Gesellschaft auf keinen Gegen⸗
stand
zu fixiren und zu appesantiren, und keine Materie zu approfondiren, im reizen⸗395
51
den,
reizenden geflügelten Dialog an der Oberfläche gleichgültiger Seelen nur so hinzugleiten, und
wie im Eiertanz den Ernst, die Strenge, die Tiefe und den ennui auf gleiche Weise
zu vermeiden: schlechter Ton mag es sein, immer nur Recht haben zu wollen,
und wo sich die Gelegenheit zeigt, sogleich mit Reden, Abhandlungen, Monologen
und schneidenden Urtheilen aufzuwarten; aber schöner Ton verdient nur die dra⸗400
matische
Form einer Gesellschaft zu heiſsen, die Form, die wir am dramatischen Ge⸗
spräch
beschrieben haben, und bei der der Genius präsidirt. Carricaturen dieses Ge⸗
nius
, dieses Geistes der Gesellschaft, finden sich auch da, wo der gute und der schlech⸗
te
Ton herrscht: in der guten Gesellschaft ist es die s. g. Dezenz und der gute Ge⸗
schmack
; in der schlechten Gesellschaft ist es Recht und Gerechtigkeit, oder Conve⸗405
nienz
, Respect vor dem Alter, Rang und Stand.
Der Schutzgeist des schönen Tons
vermeidet weder blos das Unanständige, noch ist er ein bloser kalter Rechtsprecher:
er gestattet einzelnen Helden, einzelnen groſsen Angelegenheiten von Welt und Zeit
nicht blos das Wort, er ruft sie vielmehr herbei, belebt alle, selbst die unbedeutende⸗
ren
Seelen, daſs sie in ihrer Art mitwirken, eingreifen, auch durch ihre ärmere Ei⸗410
genthümlichkeit
den Gegenstand gestalten helfen, und wenn dieser auch endlich die
Hauptzüge von den Helden der Gesellschaft an sich trägt, so findet doch jeder schwä⸗
chere
darin wieder, womit er ihn bereichert, jeder fühlt, daſs er wesentlich zu dem
schönen Ganzen gehörte, und beugt sich um so williger vor den Helden, als mit ihrer
Erhebung auch die Theilnehmer ihres Verdienstes geadelt werden.
Ein Gefühl, eine 415
Ahndung des höhern ist es, was die schöne Gesellschaft zurücklassen muſs: keine
bloſse, kalte Bewunderung der ausgezeichnetsten Glieder: diese sind nur die höheren
Sprossen der Leiter, auf der das Ganze zu einem reineren, freiern Dasein hinaufge⸗
tragen
wird.
Die schöne Gesellschaft hat einen monarchischen Anfang: einzelne Mit⸗
glieder
ragen hervor, imponiren: sobald aber ihr Leben um sich greift, wird alles 420
durchdrungen von der Lust, sich anzuschlieſsen, mitzusteigen, und so wird gegen das
Ende hin das ganze Wesen immer republikanischer, bis sich alles in eine einzige ge⸗
meinschaftliche
schöne Empfindung auflöſst, und jeder einzelne seine eigne Kraft und
die Gleichheit Aller vor dem Schönen und Guten fühlt. —
So auch im Drama: an⸗
fangs
ragt in der langsamer schreitenden Handlung der Held allein hervor: die stillern 425
Charactere haben Zeit, sich zu entwickeln, bis sie ihre Kraft fühlen und wie Titanen
gegen den Jupiter anrennen: alles fängt nun republikanisch an zu gelten, die Handlun⸗
gen
, die Begebenheiten drängen sich, bis der Held siegt oder untergeht.
Es ist besser,
er falle: daſs er der Fluth der Begebenheiten unterliegt, schändet ihn nicht: und es
ist wesentlich, daſs den schwächeren selbst die Möglichkeit der Abgötterei mit seiner 430
Person abgeschnitten werde, und daſs in allen Gemüthern zurückbleibe — allein —
der Gedanke des ewigen Friedens der Natur, erhoben durch das Schauspiel eines recht
heldenmüthigen Streites. —
Der Hauptprüfstein des dramatischen Interesse vor der
Bühne ist, daſs der Held und seine Gegner gleich wichtig erscheinen, kurz, daſs man
fähig sei, in dem ganzen Drama, nicht blos in einzelnen begünstigten Personen, oder 435
in den mit einem monologischen Kunstnamen s. g. schönen Stellen zu leben;
52daſs man nicht verlange am Ende, weder daſs der Held Recht behalte und gerochen
werde, wenn ihm Unrecht geschehn, noch daſs die beiden Liebenden aneinander ge⸗
bracht
werden, sondern daſs man zufrieden sei mit der Erhebung zu höhern Ideen der
Kunst, d. h. des Lebens, dessen Blüthe die Kunst ist.
440

Das Wesen des Dramatischen wäre demnach characterisirt: in der Gesellschaft,
in aller Mittheilung überhaupt, in der wahrhaften und edlen Anhänglichkeit an be⸗
stimmte
Personen, im ächten Antheil an den Darstellungen der wirklichen Bühne ha⸗
ben
wir es wieder gefunden und so zuförderst die Welt selbst auf die Schaubühne ge⸗
stellt
, oder daſs ich es bescheidener ausdrücke, das Publicum mit seinen einseitigen 445
Gliedern gleichsam von der Bühne aus betrachtet.
Manche Verbindungen mit entfern⸗
ter
liegenden Regionen sind angeknüpft angeknüft und jetzt, da uns die Mauern des Theaters
nicht mehr ganz hoffnungslos von der übrigen Welt trennen, da das wirkliche Leben
mit dem idealischen Treiben des Theaters in Beziehung gebracht, und ein freier wei⸗
ter
Standpunct gewonnen ist, jetzt darf ich einladen, mit mir vom Parterre aus die 450
Bühne zu betrachten.

(Die Fortsetzung folgt.)

http://ds.ub.uni-bielefeld.de/viewer/image/2104383_001/42
Fragmente dramatische Poesie und Kunst

Quellenangaben für Zitation
https://kleist-digital.de/phoebus/01/07, [ggf. Angabe von Zeile/Vers oder Seite], 24.05.2025

Zeilen- u. Seitennavigation
  • Überlieferung
  • Emendationen
  • Kollation Editionen
  • Stellenkommentar

Apparat

Die Transkription folgt der 1924 erschienenen Faksimile-Ausgabe der Phöbus-Erstdrucke:
Kleist, Heinrich v. / Müller, Adam H. (Hrsg.): Phöbus. Ein Journal für die Kunst. München: Meyer & Jessen, 1924. (= Neudrucke Romantischer Seltenheiten Bd. 2 – [Nachdruck in 400 Exemplaren besorgt v. Fritz Strich]).

Überlieferung

Generell zur Transkription des Phöbus: vgl. editorische Bemerkungen zur Textkonstitution des Phöbus.

Der Vergleich mit der [BKA-TK:2000]-Fassung basiert auf den bei ›textkritik.de‹ publizierten Dokumenten zum Phöbus.

 Emendationen (insges. 5)
  • 35Mitte,.Mitte,
  • 69gewinnnen;gewinnen;
  • 318BrankenburgBrackenburg
  • 329Brankenburg:Brackenburg:
  • 335schoneschöne
 Vergleich Editionen

Die durchgeführte Kollation mit unterschiedlichen historischen und aktuellen Kleist-Editionen zeigt bestimmte Lesarten und Emendationen, die von der vorliegenden emendierten Fassung abweichen. In den Anmerkungen finden sich hierzu häufig nähere Erläuterungen. (Gelegentlich ist die Ursache für Abweichungen ein Transkriptionsfehler in der jeweiligen Edition.)

Disclaimer: Abweichungen, die ihren Grund in typographisch bedingten Normalisierungen und Standardisierungen haben, werden nicht angezeigt. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann nicht erhoben werden. Mitgeteilte Abweichungen müssen am Original überprüft werden.

[BKA-TK:2000] [6 Abw.]
  • 51vereinigen ] vereingen
  • 69gewinnnen; ] gewinnen
  • 77sie ] [fehlt]
  • 322Kotzebue’s ] Kotzbue’s
  • 396reizen/51den, ] reizenden
  • 447angeknüpft ] angeknüft
Stellenkommentar

279an[BKA] emendiert ›an‹ aus ›au‹. Im Druckbild handelt es sich doch eher um ein korrektes ›n‹, dessen Druckerschwärze papierbedingt verlaufen ist. Dieses Ausreiſsen der Buchstabenkonturen ist eine generell zu beobachtende Erscheinung des Phöbusdruck, so dass an verschiedenen Stellen ein ›n‹ wie ein ›u‹ und umgekehrt erscheint. Zur Beurteilung dieses Befundes eignet sich der Reprint von 1924 [Phöbus-Reprint:1924] übrigens besser als der von Sembdner herausgebene von 1961 [Phöbus-Reprint:1961].

318 Brankenburg Müller erinnert hier falsch: nicht ›Brankenburg‹ sondern ›Brackenburg‹ heiſst der Bürgersohn in Goethes ›Egmont‹.

WERKE
  • Dramen
  • Erzählungen
  • Lyrik
  • Sonstige Prosa
  • Berliner Abendblätter
  • Phöbus
VERZEICHNISSE
  • Personen
  • Orte
  • Kleist Texte (alphabetisch)
  • Von Kleist erwähnte Werke
  • Literaturverzeichnis
SONSTIGES
  • Über die Edition
  • Kleist-Wörter-Rätsel
  • Handschriften-Simulator
  • Handschriften-Fonts
  • Kontakt Herausgeber
  • Impressum / Haftungsausschluss
  • Datenschutzerklärung
  • Creative Commons Lizenzvertrag Dieses Werk ist lizenziert unter einer
    Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz