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Schutz für die zarten Blüten der Kunst gegen den Druck einer beschränkenden /Theorie bedarf vorzüglich Musik und Tanz. Ein Kunstrichter, der in einer Reihe von /Bewegungen und Tönen nur ein vollständig bestimmtes Object der Darstellung aufsucht, /erklärt alles, was sich durch Worte nicht aussprechen läſst, für leer an Bedeutung. /Fühlt sich der Künstler dadurch gedemüthigt, und hält er es für schimpflich, den /Verstand nicht zu befriedigen; so verkennt er leicht die eigenthümlichen Schätze seiner /Kunst und glaubt sie durch fremde Beihülfe bereichern zu müssen. Die Musik erborgt /ein Object von der Poesie, der Tanz von der Malerei und der Mimik. /
Einer Vereinigung mehrerer Musen verdanken wir manches Prachtwerk in der / 10 ästhetischen Welt; aber das gemeinschaftliche Ziel konnte nicht ohne gegenseitige /Opfer erreicht werden. Um auf einmal so vielerlei zu empfangen, muſsten wir vie/les entbehren. Daher manches harte Urtheil über die Totalwirkung einer Oper, die /aus irgend einem einseitigen Gesichtspuncte betrachtet wurde. Wer nur den poeti/schen Werth zu schätzen wuſste, vermiſste in den Gesängen und Tänzen oft Wahr/heit und Stärke des Ausdrucks, während daſs ein andrer die Darstellung trocken und /dürftig fand, wenn bloſs der Gedanke des Dichters darin erschien. /
In einem Ballet, das unsern Sinn für Schönheit der Bewegung befriedigt, erfreut /uns vieles, das zu der Handlung, die versinnlicht werden soll, gar nicht eigentlich /gehört, und gleichwohl möchten wir diesen Genuſs gerade am wenigsten aufgeben. / 20 34Auch besteht er nicht in einem bloſsen Reize der Sinnlichkeit, sondern ist von edlerer /Art und erhebt uns anstatt uns herabzuwürdigen. Der Tanz muſs also doch in sich /selbst eine Bedeutung haben, und scheint sich zur Mimik zu verhalten, wie der Gesang /zur Rede. Sollte es vielleicht Töne und Bewegungen geben, die eben deswegen/ nichts Bestimmtes bezeichnen, weil sie etwas Unendliches andeuten? /
Um zu einem würdigen Begriffe von irgend einer Kunst zu gelangen, dürfen wir /bei dem nicht stehen bleiben, was sie in ihrem gegenwärtigen Zustande leistet. Ihre /Ausartung hat oft schon angefangen, während ihr äuſserer Glanz uns noch blendet. /Der Wirkungskreis ist erweitert, gröſsere Fertigkeiten sind erworben und vielfältige /Schwierigkeiten überwunden; aber es zeigt sich ein falscher Geschmack, der die / 30 Kunst mit Zierrathen überladet, es werden ihr fremdartige Zwecke aufgedrungen und /beim Verfall der Sitten wird sie zum Dienst verächtlicher Leidenschaften gemiſs/braucht. In einer solchen Lage könnten ihr die warnenden Stimmen der Philosophie /und Geschichte sehr wohlthätig seyn. Aber der practische Künstler sträubt sich ge/wöhnlich gegen den Anschein von Willkühr in den Gesetzen einer abstracten Theorie, /und dünkt sich mündig genug, einer solchen Leitung nicht zu bedürfen. Wirksamer /ist es vielleicht, ihn an das Blüthenalter der Kunst zu erinnern, wo sie selbstständig /und rein als ein freies Product der schönen menschlichen Natur erschien. /
Der Tanz gehört nicht zu den Künsten, deren Geschenke nur wenigen glückli/chen Völkern zu Theil wurden. Auch unter den rohesten Wilden gab es Feste, wo / 40 der Mensch sich über den thierischen Zustand erhob, und im berauschenden Ge/fühl seiner Kraft die Schranken seines dürftigen Lebens vergaſs. Was in ihm vorgieng, /verkündigte sich durch Bewegungen und Töne, und in beiden zeigte sich eine ge/wisse Auswahl. Das Gemeine und Alltägliche wurde vermieden, es entstand ein /Bedürfniſs der Pracht, und der tobende Sprung bildete sich allmählig zum Tanz, so /wie das Jauchzen des frohen Taumels zum Gesang. /
Was in einem solchen Falle dargestellt wird, ist ein Ideal des Lebens, eine /festliche Stimmung, ein Zustand der Begeisterung, die menschliche Natur auf einer /höheren Stufe. Für eine solche Bedeutung der Kunst hat auch der Tanz seine beson/dere Sprache. / 50
Das freie Spiel des lebenden Wesens in seiner Welt wird durch den Sieg der Form /über die Masse in der Bewegung bezeichnet. Die Gestalt schwebt im Raume ohne /Anstrengung und ohne Widerstand. Sie wird nicht durch Schwere an den Boden ge/fesselt; sie haftet an ihm aus Neigung. Jede Muskel behält ihre eigne Reizbarkeit und /Elasticität, aber alle stehen unter der milden Herrschaft einer innern Kraft, der sie/ freiwillig zu gehorchen scheinen. /
Je gröſser die Bestimmtheit ohne Spur eines äuſseren Zwangs, desto vollstän/diger erscheint die Freiheit. Das Unbestimmte in der Erscheinung deutet auf Unver/mögen in der bestimmenden Kraft./ 35
Für die Bewegungen des menschlichen Körpers giebt es eine Art von Scala, worin / 60 man Grade der Spannung und Nachlassung, wie in der Tonleiter Höhe und Tiefe, /unterscheidet. Die äuſsersten Gränzen dieser Scala sind ein Emporschweben, ein Stre/ben ins Unendliche — und ein Zusammensinken, eine Hingebung gegen äuſsere Ein/drücke. Zwischen diesen Gränzen sind vielfältige Abstufungen möglich und aus die/sen besteht die Melodie des Tanzes. Sind diese Abstufungen deutlich wahrzunehmen, /so ist die Ausführung präcis, und befriedigt die Foderung der Bestimmtheit, so wie /die reine Intonation in der Musik. /
Je mannichfaltigere Abstufungen der Bestandtheile des Tanzes bestimmt erschei/nen, desto reicher ist die Sprache der Kunst, aber bei diesem Reichthum soll die Ein/heit nicht vernachlässigt werden. Einheit erhält der Tanz durch Character, dem / 70 es ebenfalls nicht an Bestimmtheit fehlen darf. /
Für die Characterdarstellung leistet der Tanz, so wie die Musik und Poesie, viel /durch den Rhythmus. Das Regelmäſsige in der Ausfüllung der Zeit ist ein Symbol /eines innern beharrlichen Gesetzes. Der Tanz hat seine Spondeen, Jamben, Dactylen, /sein Metrum, seine Strophen. An die Stelle der längern und kürzern Sylben treten /Bewegungen von verschiedner Dauer, und in ihrer Verknüpfung erscheint gleichsam /ein Umriſs der Seele. /
Aber auch in der Melodie des Tanzes kann der Character sich aussprechen. Für /jedes Gefühl giebt es einen natürlichen Ausdruck in irgend einer bestimmten Gebehrde. /Aber diese Gebehrde ist nur der rohe Stoff, der durch die Kunst erst gestaltet werden / 80 soll. Das Persönliche und der Zustand des Menschen stehen in Wechselwirkung. /Das Resultat beider zur Anschauung zu bringen, ist das Geschäft der Tanzkunst und /der Mimik. /
In einer Reihe von Bewegungen soll das Leben nicht erstarren, damit der Cha/racter herrsche, aber einzelne Momente, in denen er über die Leidenschaften siegt, /werden durch die Stellung versinnlicht. Sie ist desto bedeutender, jemehr sich /ein Streben nach Bewegung in ihr wahrnehmen läſst, das nur durch eine höhere Kraft/ zurückgehalten wird. /
Eine Annäherung zur Stellung bemerken wir in jeder leidenschaftlichen Bewegung, /die durch Würde oder Grazie gemildert ist. In dem Eckigten, Gewaltsamen und / 90 Krampfhaften der Gebehrde erscheint eine rohe Natur, die sich ganz dem Gefühl ihres /Zustandes überläſst. Die wellenförmigen Linien bezeichnen das Überirdische einer /Seele, die auch den heftigsten Stürmen nicht unterliegt. /
In dem Ideale des Characters sind Kraft und Anmuth vereinigt, und die unendliche /Verschiedenheit ihrer Verhältnisse gegeneinander giebt einen reichen Stoff für die Dar/stellung. Ein Schritt weiter und die Kunst benutzt den Geschlechtsunterschied zu der /Wirkung des Contrasts; es entsteht das männliche und das weibliche Ideal. /
36Um die Pracht zu erhöhen, verbinden sich sodann mehrere Personen zu einem /Ganzen, so wie mehrere Stimmen zu einer Reihe von Harmonien. Es erscheinen tan/zende Chöre, bald nach Geschlecht und Alter von einander getrennt, bald in einer ein/ 100 zigen Gruppe als Bild eines Volks. Die Kunst hat nur darüber zu wachen, daſs bei /der gröſsten Mannichfaltigkeit des Ausdrucks in den einzelnen Bewegungen die Ein/heit der Totalwirkung nicht aufgeopfert werde. /
Die Erhaltung dieser Einheit wird erleichtert, wenn das Eigenthümliche eines /besondern Fests dem Tanze eine bestimmte Bedeutung giebt. So lange die Lebens/kraft eines Volks noch ungeschwächt ist, so fehlt es nicht an Anlässen, um gleichge/stimmte Seelen zu der Feier einer beglückenden Naturerscheinung, eines wohlthäti/gen Ereignisses, einer begeisternden That zu vereinigen. /
Gesänge und Tänze, die die Stimmung eines solchen Festes aussprechen, bleiben /noch innerhalb der Gattung des Lyrischen. Aber wenn nunmehr die Poesie zum / 110 Dramatischen übergieng, so wagte sich auch die Tanzkunst an die Darstellung ei/ner bestimmten Handlung. In dem ältern griechischen Schauspiel hatte indessen der /Tanz nur eine untergeordnete Rolle. Der Chor bewegte sich, weil das Stillstehen /lebendiger Wesen einen widrigen Eindruck gemacht haben würde. Seine Bewegung /war alsdann dem Character gemäſs und den Gesetzen der Schönheit unterworfen, aber /der Dichter führte das Wort. /
In der Folge glaubte man das Wort des Dichters entbehren zu können. Man gab /dem Tanz einen Namen, in einem bestimmten Costum traten bekannte Personen auf, /und ihre Bewegungen wurden sprechend durch Hülfe der Mimik. Der Geist einer /Reihe von Gemälden sollte in lebenden Gestalten erscheinen./ 120
Auf diese Gattung von Kunstwerken wurden auſserordentliche Talente verwendet, /und der Eindruck war auf den ersten Blick bezaubernd. Aber bei einer ruhigern /Betrachtung entdeckte die strengere Critik manche Unvollkommenheiten der Darstel/lung. Die Situation foderte den höchsten Affect, und dieser ist starr, oder convulsi/visch. Der Tanz hat für ihn keine Zeichen. Der Ausdruck war also entweder /schwach, oder ein Verstoſs gegen die Gesetze der Kunst. Auch war die Erscheinung /nicht durchaus in sich selbst verständlich. Die Überschrift des Ballets und die Bekannt/schaft mit der Fabel des Stücks muſste ihr zur Erklärung dienen. /
Aber der dramatische Tanz ist gar nicht genöthigt, in dem Gebiete der Poesie und /Mimik sein Object der Darstellung zu suchen. Ein äuſserst reichhaltiger Stoff liegt / 130 ihm sehr nahe, und ist in dem Inhalte der meisten Nationaltänze gegeben. /
Das männliche und das weibliche Ideal dürfen einander nur gegenüber gestellt /werden. Aus dem Verhältnisse der beiden Geschlechter entsteht alsdann eine Situa/tion, die für die mannichfaltigste Characterdarstellung unerschöpflich ist. Es bedarf /keiner historischen oder mythologischen Personen und keiner künstlichen Dichtung. /Aber das allgemein-menschliche Drama gewinnt an Individualität, wenn es durch das /37Nationelle des Volkstanzes irgend eine bestimmte, willkührlich-scheinende Form/ erhält. /
Jener französische Kunstkenner, der bei Betrachtung eines tanzenden Paars voll /Begeisterung ausrief: „Que de choses dans un menuet!“Das Zitat stammt wohl von dem französischen Tänzer und Pädagogen François-Robert Marcel. Vgl. Lycée, ou, Cours de littérature ancienne et moderne, S. 262 und Traité de la dance. S. 60 wurde von wenigen / 140 verstanden. Gleichwohl ist die Bedeutung des Menuet-Tanzes nichts anders, als ein /Roman im Geiste der Chevalerie. Ritter und Dame treten auf in der Mitte eines glän/zenden Hofes. Was sie zuerst ausdrücken, ist Ehrerbietung gegen den Zirkel, von /dem sie sich umgeben sehen; aber in der Art ihrer Verbeugung zeigt sich das Gefühl /ihres eignen Werths. Prangend schreiten sie neben einander einher, als ob sie den /Neid auffoderten, und trennen sich sodann, um das Drama zu beginnen. Ihre Bewe/gung ist annähernd, aber in langsamen Fortschritten, und nach der gröſsten Annähe/rung verschwindet eines für das andre. Man erblickt sich wieder, aber in der Entfer/nung, und diese Entfernung wird immer weiter. Nach einigen Wiederholungen die/ser Scene darf endlich der Ritter die Hand der Dame berühren, die Liebenden scheinen / 150 am Ziele, aber sie werden aufs neue getrennt. Annäherungen und Entfernungen fol/gen auf einander, bis zuletzt dem Ritter beide Hände gereicht werden. /
Von ganz andrer Art ist der Tanz des Engländers. Er stellt sich seinem Mädchen /gegenüber und fliegt mit ihr durch die Reihen. Aber die Freunde und Freundinnen, /die ihn umgeben, sollen auch an seiner Freude Theil nehmen. Er verläſst sogar auf /Augenblicke seine Schöne, um alles um sich her zu beleben. /
Der kosackische Tanz gleicht einem Wechselgesang, worin ein Theil den andern /durch Reichthum, Stärke und Feinheit des Ausdrucks zu übertreffen sucht. Der /deutsche Tänzer scheint nichts weiter darstellen zu wollen, als die Nähe der Gelieb/ten. Das glückliche Paar bildet eine unzertrennliche Gruppe, und die ganze übrige / 160 Welt ist ihm verschwunden. Bald dreht es sich in langsamern oder schnellern Krei/sen, bald erkünstelt es in der innigsten Vereinigung kleine Entfernungen, die in den /sanftesten Übergängen mit Annäherungen abwechseln. /
Ähnliche Darstellungen sind in andern Nationaltänzen noch in ihrer Reinheit ent/halten, aber in einigen entdeckt man Spuren der Ausartung. Die Kunst war nicht sel/ten herabgewürdigt worden, um die niedere Sinnlichkeit zu reizen, oder sie hatte /sich ganz der Herrschaft des Verstandes oder der Mode unterworfen, und ihre Producte /wurden trocken und geistlos. Im letzteren Falle suchte sie vergebens durch über/wundne Schwierigkeiten, oder durch neue Zusammensetzungen der gegebenen Be/standtheile sich ein Verdienst zu erwerben. Trotz aller angewandten Mühe glich das/ 170 Ganze nur einem Gewebe von hochtönenden aber sinnlosen Phrasen. /
Um den Tanz vor solchen Abwegen zu verwahren, hat die Theorie noch wenig /geleistet. Sie beschäftigte sich fast bloſs mit dem theatralischen Tanze, und der ge/sellschaftliche wurde entweder ganz seinem Schicksal überlassen, oder aus der /Classe der schönen Künste unter die angenehmen Spiele herabgesetzt, oder durch Vor/38schläge zu verbessern gesucht, die theils nicht ausführbar waren, theils die Sphäre /der Kunst beschränkten. /
Durch eine Theorie kann die todte Kunst nicht wieder belebt werden, aber für die /lebendige sind die Warnungen der Critik nicht ohne Nutzen. Die ächte Critik ist bis /zur Ängstlichkeit schonend gegen den Geist der Kunst, aber streng gegen alles, was / 180 diesen Geist entstellt. Sie duldet nicht, daſs ein Symbol für die Schönheit der Seele /zur Üppigkeit entweiht werde. Aber der Sinnlichkeit soll nicht durch den Verstand, /sondern durch die Phantasie entgegengewirkt werden, die den vorhandenen Trieb /nicht unterdrückt, sondern veredelt. Und wehe dem Zeitalter, das an der Veredlung /dieses Triebes verzweifelt! /
Auch der besondere Character des Nationaltanzes fodert sorgfältige Schonung. In /ihm verkörpert sich gleichsam das männliche und weibliche Ideal, und der Gedanke /wird zur lebendigen Erscheinung. Wer wollte sich nicht an dem Reichthum der /menschlichen Natur erfreuen, die in höchst mannichfaltigen Bildern den innern Streit /zwischen Leidenschaft und holder Sittlichkeit aufstellt? / 190
Ein minderer Grad von Kunstfertigkeit kann auf Nachsicht Anspruch machen, /wenn es nur der Geist der Kunst ist, der durch das unvollkommne Organ sich versinn/licht. Die glänzende Ausführung entschädigt nicht für die Dürftigkeit der Idee. Wer /bei einem ausgezeichneten Talent keine andre Triebfeder kennt, als Coketterie, steht /tief unter dem weniger ausgebildeten Dilettanten, den die reine Liebe zur Kunst beseelt./
Neigung zum Tanz ist ein liebenswürdiger Characterzug der Jugend, der sich bei /egoistischen Seelen nicht findet. Dieser Genuſs darf ihr nicht erschwert werden. Die /Kunst hebt ihre Freude auf eine höhere Stufe, und zu einer Zeit, da die festliche /Stimmung so selten geworden ist, erzeugt sie dadurch ein Fest für jeden Freund der /schönen menschlichen Natur./ 200
* * r./
Quellenangabe für Zitat:
https://kleist-digital.de/phoebus/01/03 [ + Angabe von Zeile / Vers oder Seite ], 27.12.2024
140„Que de choses dans un menuet!“Das Zitat stammt wohl von dem französischen Tänzer und Pädagogen François-Robert Marcel. Vgl. Lycée, ou, Cours de littérature ancienne et moderne, S. 262 und Traité de la dance. S. 60