Michael Kohlhaas.
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Michael Kohlhaas.
An den Ufern der Havel lebte, um die
Mitte
des ſechzehnten Jahrhunderts, ein
Roßhaͤndler,
Namens Michael Kohlhaas, Sohn
eines
Schulmeiſters, einer der
rechtſchaffenſten zugleich 5
und entſetzlichſten
Menſchen ſeiner Zeit. —
Die⸗
ſer außerordentliche Mann
wuͤrde, bis in ſein
dreißigſtes Jahr fuͤr das
Muſter eines guten
Staatsbuͤrgers haben gelten
koͤnnen. Er beſaß
in einem Dorfe, das noch von ihm den Namen 10
fuͤhrt, einen Meierhof, auf welchem er ſich durch
ſein Gewerbe ruhig ernaͤhrte; die Kinder,
die
ihm ſein Weib ſchenkte, erzog er, in der
Furcht
Gottes, zur Arbeitſamkeit und Treue;
nicht
Einer war unter ſeinen Nachbarn, der
ſich nicht 15
ſeiner Wohlthaͤtigkeit, oder
ſeiner Gerechtigkeit
Kleiſts Erzaͤhl. A2Faksimileerfreut haͤtte; kurz, die
Welt wuͤrde ſein An⸗
denken haben ſegnen
muͤſſen, wenn er in einer
Tugend nicht
ausgeſchweift haͤtte. Das Recht⸗
gefuͤhl aber machte ihn zum Raͤuber
und 20
Moͤrder.
Er ritt einſt, mit einer
Koppel junger Pfer⸗
de, wohlgenaͤhrt alle und
glaͤnzend, ins Aus⸗
land, und uͤberſchlug
eben, wie er den Gewinnſt,
den er auf den
Maͤrkten damit zu machen hoffte, 25
anlegen
wolle: theils, nach Art guter Wirthe,
auf
neuen Gewinnſt, theils aber auch auf den
Genuß der Gegenwart: als er an die Elbe kam,
und bei einer ſtattlichen Ritterburg, auf ſaͤchſi⸗
ſchem Gebiete, einen Schlagbaum
traf, den er30
ſonſt auf dieſem Wege nicht
gefunden hatte. Er
hielt, in einem Augenblick, da eben der Regen
heftig ſtuͤrmte, mit den Pferden ſtill, und
rief
den Schlagwaͤrter, der auch bald darauf,
mit
einem graͤmlichen Geſicht, aus dem
Fenſter ſah. 35
Der Roßhaͤndler ſagte, daß er ihm oͤffnen
ſolle.
Was giebt’s
hier Neues? fragte er, da der Zoͤll⸗
ner, nach
einer geraumen Zeit, aus dem Hauſe
trat.
Landesherrliches Privilegium,
antwortete
3Faksimiledieſer, indem
er aufſchloß: dem Junker Wenzel 40
von Tronka
verliehen. — So, ſagte Kohlhaas.
Wenzel heißt der
Junker? und ſah ſich das
Schloß an, das mit
glaͤnzenden Zinnen uͤber das
Feld blickte.
Iſt der alte Herr todt? — Am
Schlagfluß geſtorben,
erwiederte der Zoͤllner, 45
indem er den Baum in
die Hoͤhe ließ. — Hm!
Schade! verſetzte Kohlhaas. Ein wuͤrdiger alter
Herr,
der ſeine Freude am Verkehr der Men⸗
ſchen hatte,
Handel und Wandel, wo er nur
vermogte,
forthalf, und einen Steindamm einſt 50
bauen
ließ, weil mir eine Stute, draußen, wo
der
Weg ins Dorf geht, das Bein gebrochen.
Nun! Was bin ich ſchuldig? — fragte er; und
holte die Groſchen, die der Zollwaͤrter
verlangte,
muͤhſelig unter dem im Winde
flatternden Man⸗55
tel hervor.
„Ja, Alter,“ ſetzte er noch hinzu,
da dieſer: hurtig! hurtig! murmelte, und
uͤber
die Witterung fluchte: „wenn der Baum
im
Walde ſtehen geblieben waͤre, waͤrs beſſer
ge⸗
weſen, fuͤr mich und euch;“
und damit gab er 60
ihm das Geld und wollte
reiten. Er war aber
noch kaum unter den Schlagbaum gekommen,
A
24Faksimileals eine neue Stimme
ſchon: halt dort, der Roß⸗
kamm! hinter ihm vom Thurm
erſcholl, und er
den Burgvoigt ein Fenſter
zuwerfen und zu ihm 65
herabeilen ſah. Nun, was giebt’s Neues?
fragte Kohlhaas bei ſich ſelbſt, und hielt mit den
Pferden an. Der
Burgvoigt, indem er ſich
noch eine Weſte
uͤber ſeinen weitlaͤufigen Leib
zuknuͤpfte,
kam, und fragte, ſchief gegen die 70
Witterung
geſtellt, nach dem Paßſchein. —
Kohlhaas fragte: der Paßſchein? Er ſagte, ein
wenig
betreten, daß er, ſo viel er wiſſe, keinen
habe; daß man ihm aber nur beſchreiben moͤgte,
was dies fuͤr ein Ding des Herrn ſey: ſo
werde 75
er vielleicht zufaͤlligerweiſe damit
verſehen ſeyn.
Der
Schloßvoigt, indem er ihn von der Seite
anſah, verſetzte, daß ohne einen landesherrli⸗
chen Erlaubnißſchein, kein
Roßkamm mit Pfer⸗
den uͤber die Graͤnze
gelaſſen wuͤrde. Der Roß⸗80
kamm verſicherte, daß er ſiebzehn Mal
in ſei⸗
nem Leben, ohne einen ſolchen Schein,
uͤber die
Graͤnze gezogen ſey; daß er alle
landesherrlichen
Verfuͤgungen, die ſein
Gewerbe angingen, genau
kennte; daß dies wohl
nur ein Irrthum ſeyn 85
5Faksimilewuͤrde, wegen deſſen er ſich zu bedenken bitte,
und daß man ihn, da ſeine Tagereiſe lang
ſey,
nicht laͤnger unnuͤtzer Weiſe hier
aufhalten moͤge.
Doch der Voigt erwiederte, daß er das achtzehnte
Mal nicht durchſchluͤpfen wuͤrde, daß die
Ver⸗90
ordnung deshalb erſt
neuerlich erſchienen waͤre,
und daß er
entweder den Paßſchein noch hier
loͤſen, oder
zuruͤckkehren muͤſſe, wo er hergekom⸗
men
ſey. Der Roßhaͤndler, den dieſe
ungeſetz⸗
lichen Erpreſſungen
zu erbittern anfingen, ſtieg, 95
nach einer
kurzen Beſinnung, vom Pferde, gab
es einem
Knecht, und ſagte, daß er den Jun⸗
ker von Tronka
ſelbſt daruͤber ſprechen wuͤrde.
Er ging auch auf die Burg; der Voigt folgte
ihm, indem er von filzigen Geldraffern
und nuͤtz⸗100
lichen Aderlaͤſſen derſelben
murmelte; und beide
traten, mit ihren
Blicken einander meſſend, in
den Saal.
Es traf ſich, daß der Junker eben,
mit einigen muntern Freunden, beim
Becher ſaß,
und, um eines Schwanks willen,
ein unendli⸗105
ches Gelaͤchter unter ihnen
erſcholl, als Kohl⸗
haas, um ſeine Beſchwerde
anzubringen, ſich
ihm naͤherte. Der Junker fragte, was er wolle;
6Faksimile die Ritter, als ſie
den fremden Mann erblick⸗
ten, wurden ſtill;
doch kaum hatte dieſer ſein 110
Geſuch, die
Pferde betreffend, angefangen, als
der ganze
Troß ſchon: Pferde? Wo ſind ſie?
ausrief,
und an die Fenſter eilte, um ſie zu be⸗
trachten. Sie
flogen, da ſie die glaͤnzende Kop⸗
pel ſahen, auf
den Vorſchlag des Junkers, in 115
den Hof hinab;
der Regen hatte aufgehoͤrt;
Schloßvoigt und
Verwalter und Knechte ver⸗
ſammelten
ſich um ſie, und alle muſterten die
Thiere.
Der Eine lobte den Schweißfuchs mit
der Bleſſe, dem Andern gefiel der
Kaſtanien⸗120
braune, der Dritte
ſtreichelte den Schecken mit
ſchwarzgelben
Flecken; und Alle meinten, daß
die Pferde
wie Hirſche waͤren, und im Lande
keine
beſſern gezogen wuͤrden. Kohlhaas
erwie⸗
derte munter, daß die
Pferde nicht beſſer waͤren, 125
als die Ritter,
die ſie reiten ſollten; und forderte
ſie
auf, zu kaufen. Der Junker, den der
maͤch⸗
tige Schweißhengſt ſehr
reizte, befragte ihn auch
um den Preis; der
Verwalter lag ihm an, ein
Paar Rappen zu
kaufen, die er, wegen Pferde⸗130
mangels,
in der Wirthſchaft gebrauchen zu koͤn⸗
7Faksimilenen glaubte; doch als der Roßkamm
ſich erklaͤrt
hatte, fanden die Ritter ihn
zu theuer, und der
Junker ſagte, daß er nach
der Tafelrunde reiten
und ſich den Koͤnig
Arthur aufſuchen muͤſſe, 135
wenn er die Pferde
ſo anſchlage. Kohlhaas, der
den Schloßvoigt und den Verwalter, indem
ſie
ſprechende Blicke auf die Rappen warfen,
mit
einander fluͤſtern ſah, ließ es, aus
einer dun⸗
keln Vorahndung, an nichts fehlen, die
Pferde 140
an ſie los zu werden. Er ſagte zum Junker:
„Herr, die Rappen habe ich vor ſechs Monaten
fuͤr 25 Goldguͤlden gekauft; gebt mir 30,
ſo ſollt
ihr ſie haben.“ Zwei Ritter, die neben dem Jun⸗
ker ſtanden, aͤußerten nicht
undeutlich, daß die 145
Pferde wohl ſo viel
werth waͤren; doch der Jun⸗
ker meinte, daß
er fuͤr den Schweißfuchs wohl,
aber nicht
eben fuͤr die Rappen, Geld ausgeben
moͤgte,
und machte Anſtalten, aufzubrechen;
worauf
Kohlhaas ſagte, er wuͤrde vielleicht das 150
naͤchſte Mal, wenn er wieder mit ſeinen Gaulen
durchzoͤge, einen Handel mit ihm machen;
ſich
dem Junker empfahl, und die Zuͤgel
ſeines Pfer⸗
des ergriff, um abzureiten. In dieſem Augen⸗
8Faksimileblick trat der Schloßvoigt aus dem
Haufen vor, 155
und ſagte, er hoͤre, daß er ohne
einen Paßſchein
nicht reiſen duͤrfe. Kohlhaas wandte ſich und
fragte den Junker, ob es denn mit dieſem Um⸗
ſtand, der ſein ganzes Gewerbe
zerſtoͤre, in der
That ſeine Richtigkeit
habe? Der Junker ant⸗160
wortete, mit einem verlegnen Geſicht,
indem
er abging: ja, Kohlhaas, den Paß mußt
du
loͤſen. Sprich
mit dem Schloßvoigt, und zieh
deiner Wege.
Kohlhaas verſicherte ihn, daß es
gar nicht
ſeine Abſicht ſey, die Verordnungen, 165
die
wegen Ausfuͤhrung der Pferde beſtehen moͤg⸗
ten, zu
umgehen; verſprach, bei ſeinem Durch⸗
zug
durch Dresden, den Paß in der Geheim⸗
ſchreiberei zu loͤſen, und bat, ihn
nur diesmal,
da er von dieſer Forderung
durchaus nichts ge⸗170
wußt, ziehen zu laſſen.
Nun! ſprach der Jun⸗
ker, da eben das Wetter wieder zu
ſtuͤrmen an⸗
fing, und ſeine duͤrren Glieder
durchſauſte: laßt
den Schlucker laufen.
Kommt! ſagte er zu den
Rittern, kehrte ſich um, und wollte nach
dem 175
Schloſſe gehen. Der Schloßvoigt ſagte, zum
Junker gewandt, daß er wenigſtens ein
Pfand,
9Faksimile zur
Sicherheit, daß er den Schein loͤſen wuͤrde,
zuruͤcklaſſen muͤſſe. Der Junker
blieb wieder
unter dem Schloßthor ſtehen.
Kohlhaas fragte, 180
welchen Werth er denn, an
Geld oder an Sa⸗
chen, zum Pfande, wegen der
Rappen, zuruͤck⸗
laſſen ſolle? Der Verwalter meinte, in den
Bart murmelnd, er koͤnne ja die Rappen
ſelbſt
zuruͤcklaſſen. Allerdings, ſagte der Schloßvoigt, 185
das iſt das Zweckmaͤßigſte; iſt der Paß
geloͤſ’t,
ſo kann er ſie zu jeder Zeit
wieder abholen. Kohl⸗
haas, uͤber eine ſo unverſchaͤmte
Forderung be⸗
treten, ſagte dem Junker,
der ſich die Wams⸗
ſchoͤße frierend vor den
Leib hielt, daß er die 190
Rappen ja verkaufen
wolle; doch dieſer, da in
demſelben
Augenblick ein Windſtoß eine ganze
Laſt von
Regen und Hagel durch’s Thor jagte,
rief, um
der Sache ein Ende zu machen: wenn
er die
Pferde nicht loslaſſen will, ſo ſchmeißt ihn 195
wieder uͤber den Schlagbaum zuruͤck; und ging
ab. Der
Roßkamm, der wohl ſah, daß er hier
der
Gewaltthaͤtigkeit weichen mußte, entſchloß
ſich, die Forderung, weil doch nichts anders uͤbrig
blieb, zu erfuͤllen; ſpannte die Rappen
aus, und 200
10Faksimilefuͤhrte ſie in
einen Stall, den ihm der Schloß⸗
voigt
anwies. Er ließ einen Knecht bei
ihnen
zuruͤck, verſah ihn mit Geld, ermahnte
ihn, die
Pferde, bis zu ſeiner Zuruͤckkunft,
wohl in Acht
zu nehmen, und ſetzte ſeine
Reiſe, mit dem Reſt 205
der Koppel, halb und
halb ungewiß, ob nicht
doch wohl, wegen
aufkeimender Pferdezucht, ein
ſolches Gebot,
im Saͤchſiſchen, erſchienen ſeyn
koͤnne,
nach Leipzig, wo er auf die Meſſe woll⸗
te,
fort. 210
In Dresden, wo er, in einer
der Vorſtaͤdte
der Stadt, ein Haus mit
einigen Staͤllen beſaß,
weil er von hier aus
ſeinen Handel auf den klei⸗
neren
Maͤrkten des Landes zu beſtreiten pflegte,
begab er ſich, gleich nach ſeiner Ankunft, auf215
die Geheimſchreiberei, wo er von den
Raͤthen,
Rathen
deren er einige kannte, erfuhr, was ihm
aller⸗
dings ſein erſter Glaube
ſchon geſagt hatte, daß
die Geſchichte von
dem Paßſchein ein Maͤhr⸗
chen ſey. Kohlhaas, dem
die mißvergnuͤgten 220
Raͤthe, auf ſein
Anſuchen, einen ſchriftlichen
Schein uͤber
den Ungrund derſelben gaben, laͤ⸗
chelte uͤber
den Witz des duͤrren Junkers, obſchon
11Faksimileer noch nicht recht einſah, was er damit
bezwek⸗
kenbezwecken mogte;
und die Koppel der Pferde, die er 225
bei ſich
fuͤhrte, einige Wochen darauf, zu ſeiner
Zufriedenheit, verkauft, kehrte er, ohne irgend
weiter ein bitteres Gefuͤhl, als das der
allgemei⸗
nen Noth der Welt,
zur Tronkenburg zuruͤck.
Der Schloßvoigt, dem er den Schein zeigte,
230
ließ ſich nicht weiter daruͤber aus,
und ſagte, auf
die Frage des Roßkamms, ob er
die Pferde jetzt
wieder bekommen koͤnne: er
moͤgte nur hinunter
gehen und ſie holen.
Kohlhaas hatte aber ſchon,
da er uͤber den Hof ging, den
unangenehmen235
Auftritt, zu erfahren,
daß ſein Knecht, ungebuͤhr⸗
lichen
Betragens halber, wie es hieß, wenige
Tage
nach deſſen Zuruͤcklaſſung in der Tronken⸗
burg, zerpruͤgelt und weggejagt worden
ſey.
Er fragte
den Jungen, der ihm dieſe Nachricht 240
gab, was
denn derſelbe gethan? und wer waͤh⸗
rend deſſen
die Pferde beſorgt haͤtte? worauf dieſer
aber erwiederte, er wiſſe es nicht, und darauf dem
Roßkamm, dem das Herz ſchon von Ahnungen
ſchwoll, den Stall, in welchem ſie
ſtanden, oͤff⸗245
nete. Wie groß war aber ſein Erſtaunen, als
12Faksimileer, ſtatt ſeiner zwei
glatten und wohlgenaͤhrten
Rappen, ein Paar
duͤrre, abgehaͤrmte Maͤhren
erblickte;
Knochen, denen man, wie Riegeln,
haͤtte
Sachen aufhaͤngen koͤnnen; Maͤhnen und 250
Haare, ohne Wartung und Pflege, zuſammen⸗
geknetet: das wahre Bild des
Elends im Thier⸗
reiche! Kohlhaas, den die Pferde, mit einer
ſchwachen Bewegung, anwieherten, war auf
das Aeußerſte entruͤſtet, und fragte,
was ſeinen 255
Gaulen widerfahren waͤre? Der
Junge, der
bei ihm ſtand, antwortete, daß
ihnen weiter
kein Ungluͤck zugeſtoßen waͤre,
daß ſie auch das
gehoͤrige Futter bekommen
haͤtten, daß ſie aber,
da gerade Ernte
geweſen ſey, wegen Mangels 260
an Zugvieh, ein
wenig auf den Feldern gebraucht
worden
waͤren. Kohlhaas fluchte uͤber
dieſe
ſchaͤndliche und abgekartete
Gewaltthaͤtigkeit,
verbiß jedoch, im Gefuͤhl
ſeiner Ohnmacht, ſei⸗
nen Ingrimm, und machte
ſchon, da doch nichts 265
anders uͤbrig blieb,
Anſtalten, das Raubneſt mit
den Pferden nur
wieder zu verlaſſen, als der
Schloßvoigt,
von dem Wortwechſel herbeigerufen,
erſchien,
und fragte, was es hier gaͤbe? Was es
13Faksimilegiebt? antwortete
Kohlhaas. Wer hat dem Jun⸗270
ker von Tronka und deſſen Leuten die
Erlaubniß
gegeben, ſich meiner bei ihm
zuruͤckgelaſſenen
Rappen zur Feldarbeit zu
bedienen? Er ſetzte
hinzu, ob das wohl menſchlich waͤre?
verſuchte,
die erſchoͤpften Gaule durch
einen Gertenſtreich 275
zu erregen, und zeigte
ihm, daß ſie ſich nicht
ruͤhrten. Der Schloßvoigt, nachdem er ihn eine
Weile trotzig angeſehen hatte, verſetzte:
ſeht den
Grobian!
Ob der Flegel nicht Gott danken
ſollte, daß die Maͤhren uͤberhaupt noch
leben? 280
Er fragte,
wer ſie, da der Knecht weggelaufen,
haͤtte
pflegen ſollen? Ob es nicht billig
geweſen
waͤre, daß die Pferde das Futter,
das man ih⸗
nen gereicht habe, auf den Feldern
abverdient
haͤtten? Er ſchloß, daß er hier keine Flauſen 285
machen moͤgte, oder daß er die Hunde
rufen,
und ſich durch ſie Ruhe im Hofe zu
verſchaffen
wiſſen wuͤrde. — Dem Roßhaͤndler ſchlug das
Herz gegen den Wams. Es draͤngte ihn, den
nichtswuͤrdigen Dickwanſt in den Koth zu wer⸗290
fen, und den Fuß auf ſein kupfernes
Antlitz
zu ſetzen. Doch ſein Rechtgefuͤhl, das einer
14FaksimileGoldwaage glich,
wankte noch; er war, vor
der Schranke ſeiner
eigenen Bruſt, noch nicht
gewiß, ob eine
Schuld ſeinen Gegner druͤcke; 295
und waͤhrend
er, die Schimpfreden niederſchluk⸗
kendniederſchluckend, zu den Pferden trat,
und ihnen, in ſtil⸗
ler Erwaͤgung der
Umſtaͤnde, die Maͤhnen zurecht
legte, fragte
er mit geſenkter Stimme: um wel⸗
chen Verſehens
halber der Knecht denn aus der 300
Burg entfernt
worden ſey? Der Schloßvoigt
erwiederte: weil der Schlingel trotzig im
Hofe
geweſen iſt! Weil er ſich gegen einen nothwen⸗
digen
Stallwechſel geſtraͤubt, und verlangt hat,
daß die Pferde zweier Jungherren, die auf die 305
Tronkenburg kamen, um ſeiner Maͤhren
willen,
auf der freien Straße uͤbernachten
ſollten! —
Kohlhaas haͤtte den Werth der Pferde darum
gegeben, wenn er den Knecht zur Hand gehabt,
und deſſen Ausſage mit der Ausſage dieſes
dick⸗310
maͤuligen Burgvoigts
haͤtte vergleichen koͤnnen.
Er ſtand noch, und ſtreifte den Rappen die
Zod⸗
deln aus, und ſann, was in
ſeiner Lage zu thun
ſey, als ſich die Scene
ploͤtzlich aͤnderte, und der
Junker Wenzel
von Tronka, mit einem Schwarm 315
15Faksimilevon Rittern, Knechten und Hunden, von der
Haſenhetze kommend, in den Schloßplatz
ſprengte.
Der
Schloßvoigt, als er fragte, was vorgefal⸗
len
ſey, nahm ſogleich das Wort, und waͤhrend
die Hunde, beim Anblick des Fremden, von der 320
einen Seite, ein Mordgeheul gegen ihn
anſtimm⸗
ten, und die Ritter
ihnen, von der andern, zu
ſchweigen geboten,
zeigte er ihm, unter der ge⸗
haͤſſigſten Entſtellung der Sache, an, was
die⸗
ſer Roßkamm, weil ſeine
Rappen ein wenig ge⸗325
braucht worden waͤren, fuͤr
eine Rebellion ver⸗
fuͤhre. Er ſagte, mit Hohngelaͤchter, daß er
ſich weigere, die Pferde als die ſeinigen
anzuer⸗
kennen. Kohlhaas rief: „das ſind nicht meine
Pferde, geſtrenger Herr! Das ſind die Pferde
330
nicht, die dreißig Goldguͤlden werth waren!
Ich
will meine
wohlgenaͤhrten und geſunden Pferde
wieder
haben!“ —Der Junker, indem ihm
eine fluͤchtige Blaͤſſe in’s Geſicht trat,
ſtieg vom
Pferde, und ſagte: wenn der H...
A... die 335
Pferde nicht wiedernehmen will, ſo
mag er es
bleiben laſſen. Komm, Guͤnther! rief er —
Hans! Kommt! indem er ſich den Staub mit
16Faksimileder Hand von den Beinkleidern
ſchuͤttelte; und:
ſchafft Wein! rief er
noch, da er mit den Rittern 340
unter der Thuͤr
war; und ging in’s Haus.
Kohlhaas ſagte, daß er eher den Abdecker
rufen,
und die Pferde auf den Schindanger
ſchmeißen
laſſen, als ſie ſo, wie ſie
waͤren, in ſeinen Stall
zu Kohlhaaſenbruͤck
fuͤhren wolle. Er ließ die 345
Gaule, ohne ſich um ſie zu bekuͤmmern, auf
dem
Platz ſtehen, ſchwang ſich, indem er
verſicherte,
daß er ſich Recht zu
verſchaffen wiſſen wuͤrde, auf
ſeinen
Braunen, und ritt davon.
Spornſtreichs auf dem Wege nach Dresden 350
war er ſchon, als er, bei dem Gedanken an
den
Knecht, und an die Klage, die man auf
der
Burg gegen ihn fuͤhrte, ſchrittweis zu
reiten an⸗
fieng, ſein Pferd, ehe er noch tauſend
Schritt
gemacht hatte, wieder wandte, und
zur vorgaͤn⸗355
gigen Vernehmung des
Knechts, wie es ihm klug
und gerecht ſchien,
nach Kohlhaaſenbruͤck ein⸗
bog. Denn ein richtiges, mit der gebrechlichen
Ein⸗
richtung der Welt ſchon
bekanntes Gefuͤhl machte
ihn, trotz der
erlittenen Beleidigungen, geneigt, 360
falls nur
wirklich dem Knecht, wie der Schloß⸗
voigt17FaksimileSchloßvoigtvoigt behauptete, eine Art von
Schuld beizumeſ⸗
ſen ſey, den Verluſt
der Pferde, als eine gerechte
Folge davon,
zu verſchmerzen. Dagegen ſagte
ihm ein eben ſo vortreffliches Gefuͤhl,
und dies 365
Gefuͤhl faßte tiefere und tiefere
Wurzeln, in dem
Maaße, als er weiter ritt,
und uͤberall, wo er
einkehrte, von den
Ungerechtigkeiten hoͤrte, die
taͤglich auf
der Tronkenburg gegen die Reiſenden
veruͤbt
wurden: daß wenn der ganze Vorfall, 370
wie es
allen Anſchein habe, bloß abgekartet ſeyn
ſollte, er mit ſeinen Kraͤften der Welt in der
Pflicht verfallen ſey, ſich Genugthuung
fuͤr die
erlittene Kraͤnkung, und Sicherheit
fuͤr zukuͤnf⸗
tige ſeinen
Mitbuͤrgern zu verſchaffen. 375
Sobald er, bei ſeiner Ankunft in Kohlhaa⸗
ſenbruͤck, Lisbeth, ſein treues
Weib, umarmt,
und ſeine Kinder, die um ſeine
Kniee frohlockten,
gekuͤßt hatte, fragte er
gleich nach Herſe, dem
Großknecht: und ob
man nichts von ihm gehoͤrt 380
habe? Lisbeth ſagte: ja liebſter Michael, dieſer
Herſe! Denke dir, daß dieſer unſeelige Menſch,
vor
etwa vierzehn Tagen, auf das jaͤmmerlichſte
zerſchlagen, hier eintrifft; nein, ſo zerſchlagen,
Kleiſts
Erzaͤhl. B18Faksimiledaß er auch nicht frei athmen kann. Wir brin⸗385
gen ihn zu Bett, wo er heftig Blut
ſpeit, und
vernehmen, auf unſre wiederholten
Fragen, eine
Geſchichte, die keiner
verſteht. Wie er von dir
mit Pferden, denen man den Durchgang nicht
verſtattet, auf der Tronkenburg
zuruͤckgelaſſen 390
worden ſey, wie man ihn,
durch die ſchaͤndlich⸗
ſten
Mißhandlungen, gezwungen habe, die Burg
zu
verlaſſen, und wie es ihm unmoͤglich geweſen
waͤre, die Pferde mitzunehmen. So?
ſagte
Kohlhaas, indem er den Mantel ablegte.
Iſt 395
er denn ſchon wieder hergeſtellt? —
Bis auf
das
Blutſpeien, antwortete ſie, halb und halb.
Ich wollte ſogleich einen
Knecht nach der Tron⸗
kenburg ſchicken, um die
Pflege der Roſſe, bis
zu deiner Ankunft
daſelbſt, beſorgen zu laſſen. 400
Denn da ſich der Herſe immer wahrhaftig
ge⸗
zeigt hat, und ſo getreu
uns, in der That wie kein
Anderer, ſo kam es
mir nicht zu, in ſeine Aus⸗
ſage, von ſo
viel Merkmalen unterſtuͤtzt, einen
Zweifel
zu ſetzen, und etwa zu glauben, daß er 405
der
Pferde auf eine andere Art verluſtig gegan⸗
gen
waͤre. Doch er beſchwoͤrt mich,
Nieman⸗
19Faksimileden
zuzumuthen, ſich in dieſem Raubneſte zu zei⸗
gen, und
die Thiere aufzugeben, wenn ich keinen
Menſchen dafuͤr aufopfern wolle. — Liegt er denn 410
noch im Bette? fragte
Kohlhaas, indem er ſich
von der Halsbinde
befreite. — Er geht, erwie⸗
derte ſie, ſeit einigen Tagen ſchon
wieder im
Hofe umher. Kurz, du wirſt ſehen, fuhr ſie
fort, daß Alles ſeine Richtigkeit hat, und
daß 415
dieſe Begebenheit einer von den Freveln
iſt, die
man ſich ſeit Kurzem auf der
Tronkenburg gegen
die Fremden erlaubt. —
Das muß ich doch erſt
unterſuchen, erwiederte Kohlhaas. Ruf’ ihn
mir, Lisbeth,
wenn er auf iſt, doch her! Mit 420
dieſen Worten ſetzte er ſich in den
Lehnſtuhl;
und die Hausfrau, die ſich uͤber
ſeine Gelaſſen⸗
heit ſehr freute,
ging, und holte den Knecht.
Was haſt du in der Tronkenburg gemacht?
fragte Kohlhaas, da Lisbeth mit ihm in das
425
Zimmer trat. Ich bin nicht eben wohl mit dir
zufrieden. — Der Knecht, auf deſſen blaſſem
Geſicht
ſich, bei dieſen Worten, eine Roͤthe
fleckig
zeigte, ſchwieg eine Weile; und: da habt
ihr
Recht, Herr! antwortete er; denn einen 430
B
220FaksimileSchwefelfaden, den ich durch
Gottes Fuͤgung
bei mir trug, um das
Raubneſt, aus dem ich
verjagt worden war, in
Brand zu ſtecken, warf
ich, als ich ein Kind
darin jammern hoͤrte, in
das Elbwaſſer, und
dachte: mag es Gottes 435
Blitz einaͤſchern; ich
will’s nicht! — Kohlhaas
ſagte betroffen: wodurch aber haſt du dir
die
Verjagung aus der Tronkenburg zugezogen?
Drauf Herſe:
durch einen ſchlechten Streich,
Herr; und
trocknete ſich den Schweiß von der 440
Stirn:
Geſchehenes iſt aber nicht zu aͤndern.
Ich wollte die Pferde nicht auf der
Feldar⸗
beit zu Grunde richten
laſſen, und ſagte, daß ſie
noch jung waͤren
und nicht gezogen haͤtten. —
Kohlhaas erwiederte, indem er ſeine
Verwirrung 445
zu verbergen ſuchte, daß er
hierin nicht ganz die
Wahrheit geſagt, indem
die Pferde ſchon zu An⸗
fange des verfloſſenen
Fruͤhjahrs ein wenig im
Geſchirr geweſen
waͤren. Du haͤtteſt dich auf
der Burg, fuhr er fort, wo du doch eine
Art 450
von Gaſt wareſt, ſchon ein oder etliche
Mal,
wenn gerade, wegen ſchleuniger
Einfuͤhrung der
Ernte Noth war, gefaͤllig
zeigen koͤnnen. —
21FaksimileDas habe ich auch gethan, Herr, ſprach
Herſe.
Ich
dachte, da ſie mir graͤmliche Geſichter mach⸗455
ten, es wird doch die Rappen juſt
nicht koſten.
Am
dritten Vormittag ſpannt’ ich ſie vor, und
drei Fuhren Getreide fuͤhrt’ ich ein. Kohlhaas,
dem das Herz
emporquoll, ſchlug die Augen zu
Boden, und
verſetzte: davon hat man mir nichts 460
geſagt,
Herſe! — Herſe verſicherte ihn, daß
es
ſo ſey. Meine
Ungefaͤlligkeit, ſprach er, be⸗
ſtand darin,
daß ich die Pferde, als ſie zu Mit⸗
tag kaum
ausgefreſſen hatten, nicht wieder in’s
Joch
ſpannen wollte; und daß ich dem Schloß⸗465
voigt und dem Verwalter, als ſie mir
vorſchlu⸗
gen frei Futter
dafuͤr anzunehmen, und das
Geld, das ihr mir
fuͤr Futterkoſten zuruͤckgelaſſen
hattet, in
den Sack zu ſtecken, antwortete —
ich wuͤrde
ihnen ſonſt was thun; mich umkehrte 470
und
wegging. — Um dieſer Ungefaͤlligkeit
aber,
ſagte Kohlhaas, biſt du von der
Tronkenburg
nicht weggejagt worden. — Behuͤte Gott, rief
der
Knecht, um eine gottvergeſſene Miſſethat!
Denn auf den Abend wurden die Pferde
zweier 475
Ritter, welche auf die Tronkenburg
kamen, in
22Faksimileden Stall
gefuͤhrt, und meine an die Stallthuͤre
angebunden. Und da ich dem
Schloßvoigt, der
ſie daſelbſt einquartirte,
die Rappen aus der
Hand nahm, und fragte, wo
die Thiere jetzo 480
bleiben ſollten, ſo zeigte
er mir einen Schweine⸗
koben an, der von
Latten und Brettern an der
Schloßmauer
auferbaut war. — Du meinſt,
unterbrach ihn Kohlhaas, es war ein ſo
ſchlecht⸗
es Behaͤltniß fuͤr
Pferde, daß es einem Schwei⸗485
nekoben
aͤhnlicher war, als einem Stall. — Es
war ein Schweinekoben, Herr,
antwortete
Herſe; wirklich und wahrhaftig
ein Schweine⸗
koben, in welchem die
Schweine aus- und ein⸗
liefen, und ich nicht
aufrecht ſtehen konnte. — 490
Vielleicht war ſonſt kein Unterkommen fuͤr
die
Rappen aufzufinden, verſetzte Kohlhaas;
die
Pferde der Ritter gingen, auf eine
gewiſſe Art,
vor. — Der Platz, erwiederte der Knecht, in⸗
dem er die Stimme fallen ließ, war eng.
Es 495
hauſeten jetzt
in Allem ſieben Ritter auf der
Burg. Wenn ihr es geweſen waͤret, ihr haͤttet
die Pferde ein wenig zuſammenruͤcken
laſſen.
Ich
ſagte, ich wolle mir im Dorf einen Stall
23Faksimilezu miethen ſuchen; doch der Schloßvoigt
ver⸗500
ſetzte, daß er die Pferde
unter ſeinen Augen be⸗
halten muͤſſe, und daß ich
mich nicht unterſtehen
ſolle, ſie vom Hofe
wegzufuͤhren. — Hm! ſagte
Kohlhaas. Was
gabſt du darauf an? — Weil
der Verwalter ſprach, die beiden Gaͤſte
wuͤrden 505
bloß uͤbernachten, und am andern
Morgen weiter
reiten, ſo fuͤhrte ich die
Pferde in den Schweine⸗
koben hinein. Aber der folgende Tag verfloß,
ohne daß es geſchah; und als der dritte
anbrach,
hieß es, die Herren wuͤrden noch
einige Wochen 510
auf der Burg verweilen. —
Am Ende wars
nicht ſo ſchlimm, Herſe, im Schweinekoben,
ſagte Kohlhaas, als es dir, da du zuerſt die Naſe
hineinſteckteſt, vorkam. — S’ iſt wahr, erwie⸗
derte jener. Da
ich den Ort ein Biſſel ausfegte, 515
gings an.
Ich gab der Magd einen Groſchen,
daß ſie die Schweine wo anders einſtecke.
Und
den Tag uͤber
bewerkſtelligte ich auch, daß die
Pferde
aufrecht ſtehen konnten, indem ich die
Bretter oben, wenn der Morgen daͤmmerte, von 520
den Latten abnahm, und Abends wieder
auf⸗
legte. Sie guckten nun, wie Gaͤnſe, aus dem
24FaksimileDach vor, und ſahen
ſich nach Kohlhaaſenbruͤck,
oder ſonſt, wo
es beſſer iſt, um. — Nun denn,
fragte Kohlhaas, warum alſo, in aller
Welt, 525
jagte man dich fort? — Herr, ich ſags euch,
verſetzte der Knecht, weil man meiner los ſeyn
wollte. Weil
ſie die Pferde, ſo lange ich dabei
war,
nicht zu Grunde richten konnten. Ueberall
ſchnitten ſie mir, im Hofe und in
der Geſinde⸗530
ſtube, widerwaͤrtige
Geſichter; und weil ich
dachte, zieht ihr
die Maͤuler, daß ſie verrenken,
ſo brachen
ſie die Gelegenheit vom Zaune, und
warfen
mich vom Hofe herunter. — Aber die
Veranlaſſung! rief Kohlhaas. Sie werden doch 535
irgend
eine Veranlaſſung gehabt haben! —
O allerdings, antwortete Herſe, und die
aller⸗
gerechteſte. Ich nahm, am Abend des zweiten
Tages, den ich im Schweinekoben
zugebracht,
die Pferde, die ſich darin doch
zugeſudelt hatten, 540
und wollte ſie zur
Schwemme reiten. Und da
ich eben unter dem Schloßthore bin, und
mich
wenden will, hoͤr’ ich den Voigt und
den Ver⸗
walter, mit Knechten, Hunden und
Pruͤgeln,
aus der Geſindeſtube, hinter mir
herſtuͤrzen, 545
25Faksimileund: halt,
den Spitzbuben! rufen: halt, den
Galgenſtrick! als ob ſie beſeſſen waͤren. Der
Thorwaͤchter tritt
mir in den Weg; und da ich
ihn und den
raſenden Haufen, der auf mich an⸗
laͤuft, frage:
was auch giebt’s? was es giebt? 550
antwortet
der Schloßvoigt; und greift meinen
beiden
Rappen in den Zuͤgel. Wo will er hin
mit den Pferden? fragt er, und packt
mich an
die Bruſt. Ich ſage, wo ich hin will? Him⸗
meldonner!
Zur Schwemme will ich reiten. 555
Denkt er, daß ich — ?
Zur Schwemme? ruft
der Schloßvoigt. Ich will dich,
Gauner, auf
der Heerſtraße, nach
Kohlhaaſenbruͤck ſchwim⸗
men lehren! und
ſchmeißt mich, mit einem haͤ⸗
miſchen
Mordzug, er und der Verwalter, der 560
mir das
Bein gefaßt hat, vom Pferd’ herunter,
daß
ich mich, lang wie ich bin, in den Koth
meſſe. Mord! Hagel! ruf’ ich,
Sielzeug und
Decken liegen, und ein Buͤndel
Waͤſche von mir,
im Stall; doch er und die
Knechte, indeſſen 565
der Verwalter die Pferde
wegfuͤhrt, mit Fuͤßen
und Peitſchen und
Pruͤgeln uͤber mich her, daß
ich halbtodt
hinter dem Schloßthor niederſinke.
26FaksimileUnd da ich ſage: die Raubhunde! Wo fuͤhren
ſie mir die Pferde hin? und mich
erhebe: heraus 570
aus dem Schloßhof! ſchreit
der Voigt, und:
hetz, Kaiſer! hetz, Jaͤger!
erſchallt es, und:
hetz, Spitz! und eine
Koppel von mehr denn
zwoͤlf Hunden faͤllt
uͤber mich her. Drauf brech’
ich, war es eine Latte, ich weiß nicht
was, vom 575
Zaune, und drei Hunde todt ſtreck’
ich neben
mir nieder; doch da ich, von
jaͤmmerlichen Zer⸗
fleiſchungen gequaͤlt, weichen muß:
Fluͤt! gellt
eine Pfeife; die Hunde in den
Hof, die Thor⸗
fluͤgel zuſammen, der
Riegel vor: und auf der 580
Straße ohnmaͤchtig
ſink’ ich nieder. — Kohl⸗
haas ſagte, bleich im Geſicht, mit
erzwungener
Schelmerei: haſt du auch nicht
entweichen wol⸗
len, Herſe? Und da dieſer, mit dunkler Roͤ⸗
the, vor ſich niederſah: geſteh’
mir’s, ſagte er; 585
es gefiel dir im
Schweinekoben nicht; du dach⸗
teſt, im Stall
zu Kohlhaaſenbruͤck iſt’s doch beſ⸗
ſer. — Himmelſchlag! rief Herſe: Sielzeug
und Decken ließ ich ja, und einen Buͤndel
Waͤ⸗
ſche, im Schweinekoben
zuruͤck. Wuͤrd’ ich drei 590
Reichsguͤlden nicht zu mir geſteckt haben,
die ich,
27Faksimileim rothſeidnen
Halstuch, hinter der Krippe ver⸗
ſteckt hatte?
Blitz, Hoͤll’ und Teufel! Wenn
ihr ſo ſprecht, ſo
moͤgt’ ich nur gleich den Schwe⸗
felfaden,
den ich wegwarf, wieder anzuͤnden! 595
Nun, nun! ſagte der Roßhaͤndler; es war eben
nicht boͤſe gemeint! Was du geſagt haſt, ſchau,
Wort fuͤr Wort, ich glaub’ es dir; und das
Abendmahl, wenn es zur Sprache kommt,
will
ich ſelbſt nun darauf nehmen. Es thut mir leid, 600
daß es
dir in meinen Dienſten nicht beſſer ergan⸗
gen
iſt; geh, Herſe, geh zu Bett, laß dir eine
Flache
Flaſche
Wein geben, und troͤſte dich: dir ſoll Ge⸗
rechtigkeit widerfahren!
Und damit ſtand er
auf, fertigte ein Verzeichniß der Sachen an, die 605
der Großknecht im Schweinekoben
zuruͤckgelaſ⸗
ſen; ſpecificirte
den Werth derſelben, fragte ihn
auch, wie
hoch er die Kurkoſten anſchlage; und
ließ
ihn, nachdem er ihm noch einmal die Hand
gereicht, abtreten. 610
Hierauf erzaͤhlte er Lisbeth, ſeiner Frau, den
ganzen Verlauf und inneren
Zuſammenhang der
Geſchichte, erklaͤrte ihr,
wie er entſchloſſen ſey,
die oͤffentliche
Gerechtigkeit fuͤr ſich aufzufordern,
28Faksimileund hatte die Freude, zu ſehen, daß ſie
ihn, in 615
dieſem Vorſatz, aus voller Seele
beſtaͤrkte. Denn
ſie ſagte, daß noch mancher andre Reiſende, viel⸗
leicht minder duldſam, als er, uͤber
jene Burg
ziehen wuͤrde; daß es ein Werk
Gottes waͤre,
Unordnungen, gleich dieſen,
Einhalt zu thun; 620
und daß ſie die Koſten, die
ihm die Fuͤhrung des
Prozeſſes verurſachen
wuͤrde, ſchon beitreiben
wolle. Kohlhaas nannte ſie ſein wackeres Weib,
erfreute ſich dieſen und den folgenden Tag
in
ihrer und ſeiner Kinder Mitte, und brach,
ſo⸗625
bald es ſeine Geſchaͤfte
irgend zuließen, nach
Dresden auf, um ſeine
Klage vor Gericht zu
bringen.
Hier verfaßte er, mit Huͤlfe eines Rechts⸗
gelehrten, den er kannte, eine
Beſchwerde, in 630
welcher er, nach einer
umſtaͤndlichen Schilderung
des Frevels, den
der Junker Wenzel von Tronka,
an ihm ſowohl,
als an ſeinem Knecht Herſe,
veruͤbt hatte,
auf geſetzmaͤßige Beſtrafung des⸗
ſelben,
Wiederherſtellung der Pferde in den vo⸗635
rigen
Stand, und auf Erſatz des Schadens an⸗
trug,
den er ſowohl, als ſein Knecht, dadurch
29Faksimileerlitten hatten. Die Rechtsſache war in der
That klar. Der
Umſtand, daß die Pferde ge⸗
ſetzwidriger Weiſe feſtgehalten worden waren,
640
warf ein entſcheidendes Licht auf
alles Uebrige;
und ſelbſt wenn man haͤtte
annehmen wollen,
daß die Pferde durch einen
bloßen Zufall erkrankt
waͤren, ſo wuͤrde die
Forderung des Roßkamms,
ſie ihm geſund
wieder zuzuſtellen, noch gerecht 645
geweſen
ſeyn. Es fehlte Kohlhaas auch,
waͤh⸗
rend er ſich in der
Reſidenz umſah, keineswegs
an Freunden, die
ſeine Sache lebhaft zu unter⸗
ſtuͤtzen
verſprachen; der ausgebreitete Handel,
den
er mit Pferden trieb, hatte ihm die Be⸗650
kanntſchaft, und die Redlichkeit, mit
welcher er
dabei zu Werke ging, ihm das
Wohlwollen der
bedeutendſten Maͤnner des
Landes verſchafft. Er
ſpeiſete bei ſeinem Advocaten, der ſelbſt
ein an⸗
ſehnlicher Mann war,
mehrere Mal heiter zu 655
Tiſch; legte eine
Summe Geldes, zur Beſtrei⸗
tung der
Prozeßkoſten, bei ihm nieder; und
kehrte,
nach Verlauf einiger Wochen, voͤllig von
demſelben uͤber den Auſgang ſeiner Rechtsſache
beruhigt, zu Lisbeth, ſeinem Weibe, nach
Kohl⸗660
30Faksimilehaaſenbruͤck zuruͤck. Gleichwohl vergingen Mo⸗
nate,
und das Jahr war daran, abzuſchließen,
bevor
er, von Sachſen aus, auch nur eine Er⸗
klaͤrung uͤber die Klage, die er daſelbſt
anhaͤn⸗
gig gemacht hatte,
geſchweige denn die Reſolu⸗665
tion ſelbſt,
erhielt. Er fragte, nachdem er
meh⸗
rere Male von neuem bei
dem Tribunal
einge⸗
eingekommen
einge⸗
kommen
war, ſeinen
Rechtsgehuͤlfen, in
einem vertrauten Briefe,
was eine ſo uͤbergroße
Verzoͤgerung
verurſache; und erfuhr, daß die 670
Klage, auf
eine hoͤhere Inſinuation, bei dem
Dresdner
Gerichtshofe, gaͤnzlich niedergeſchlagen
worden ſey. — Auf die befremdete
Ruͤckſchrift
des Roßkamms, worin dies ſeinen
Grund habe,
meldete ihm jener: daß der
Junker Wenzel von 675
Tronka mit zwei
Jungherren, Hinz und Kunz
von Tronka,
verwandt ſey, deren Einer, bei
der Perſon
des Herrn, Mundſchenk, der Andre
gar
Kaͤmmerer ſey. — Er rieth ihm noch,
er
moͤgte, ohne weitere Bemuͤhungen bei der
680
Rechtsinſtanz, ſeiner, auf der
Tronkenburg be⸗
findlichen, Pferde wieder
habhaft zu werden
ſuchen; gab ihm zu
verſtehen, daß der Junker,
31Faksimileder ſich jetzt in der Hauptſtadt aufhalte, ſeine
Leute angewieſen zu haben ſcheine, ſie
ihm aus⸗685
zuliefern; und ſchloß mit
dem Geſuch, ihn wenig⸗
ſtens, falls er ſich
hiermit nicht beruhigen wolle, mit
ferneren
Auftraͤgen in dieſer Sache zu verſchonen.
Kohlhaas befand ſich um dieſe Zeit gerade in
Brandenburg, wo der Stadthauptmann,
Hein⸗690
rich von Geuſau, unter
deſſen Regierungsbezirk
Kohlhaaſenbruͤck
gehoͤrte, eben beſchaͤftigt war,
aus einem
betraͤchtlichen Fonds, der der Stadt
zugefallen war, mehrere wohlthaͤtige Anſtalten,
fuͤr Kranke und Arme, einzurichten. Beſonders 695
war er
bemuͤht, einen mineraliſchen Quell, der
auf
einem Dorf in der Gegend ſprang, und von
deſſen Heilkraͤften man ſich mehr, als die Zu⸗
kunft nachher bewaͤhrte, verſprach,
fuͤr den Ge⸗
brauch der Preßhaften
einzurichten; und da 700
Kohlhaas ihm, wegen
manchen Verkehrs, in
dem er, zur Zeit ſeines
Aufenthalts am Hofe,
mit demſelben geſtanden
hatte, bekannt war, ſo
erlaubte er Herſen,
dem Großknecht, dem ein
Schmerz beim
Athemholen uͤber der Bruſt, ſeit 705
jenem
ſchlimmen Tage auf der Tronkenburg,
32Faksimilezuruͤckgeblieben war, die Wirkung der
kleinen,
mit Dach und Einfaſſung verſehenen,
Heilquelle
zu verſuchen. Es traf ſich, daß der Stadthaupt⸗
mann eben, am Rande des
Keſſels, in welchen 710
Kohlhaas den Herſe
gelegt hatte, gegenwaͤrtig
war, um einige
Anordnungen zu treffen, als
jener, durch
einen Boten, den ihm ſeine Frau
nachſchickte, den niederſchlagenden Brief ſeines
Rechtsgehuͤlfen aus Dresden empfing.
Der 715
Stadthauptmann, der, waͤhrend er mit dem
Arzte ſprach, bemerkte, daß Kohlhaas eine
Thraͤne auf den Brief, den er bekommen und
eroͤffnet hatte, fallen ließ, naͤherte ſich ihm, auf
eine freundliche und herzliche Weiſe, und
fragte 720
ihn, was fuͤr ein Unfall ihn
betroffen; und da
der Roßhaͤndler ihm, ohne
ihm zu antworten,
den Brief uͤberreichte: ſo
klopfte dieſer wuͤrdige
Mann, dem die
abſcheullche
abſcheuliche
Ungerechtigkeit, die
man auf der
Tronkenburg an ihm veruͤbt hatte, 725
und an
deren Folgen Herſe eben, vielleicht auf
die
Lebenszeit, krank danieder lag, bekannt war,
auf die Schulter, und ſagte ihm: er ſolle nicht
muthlos ſeyn; er werde ihm zu ſeiner
Genug⸗
thuung33Faksimilethuung verhelfen! Am Abend, da ſich der Roß⸗730
kamm, ſeinem Befehl gemaͤß, zu ihm
auf’s
Schloß begeben hatte, ſagte er ihm,
daß er nur
eine Supplik, mit einer kurzen
Darſtellung des
Vorfalls, an den Kurfuͤrſten
von Brandenburg
aufſetzen, den Brief des
Advocaten beilegen, 735
und wegen der
Gewaltthaͤtigkeit, die man ſich,
auf
ſaͤchſiſchem Gebiet, gegen ihn erlaubt, den
landesherrlichen Schutz aufrufen moͤgte. Er
verſprach ihm, die
Bittſchrift, unter einem an⸗
deren Paket,
das ſchon bereit liege, in die Haͤnde 740
des
Kurfuͤrſten zu bringen, der ſeinethalb unfehl⸗
bar, wenn es die Verhaͤltniſſe
zuließen, bei dem
Kurfuͤrſten von Sachſen
einkommen wuͤrde; und
mehr als eines ſolchen
Schrittes beduͤrfe es nicht,
um ihm bei dem
Tribunal in Dresden, den 745
Kuͤnſten des
Junkers und ſeines Anhanges zum
Trotz,
Gerechtigkeit zu verſchaffen. Kohlhaas,
lebhaft erfreut, dankte dem
Stadthauptmann,
fuͤr dieſen neuen Beweis
ſeiner Gewogenheit,
aufs herzlichſte; ſagte,
es thue ihm nur leid, 750
daß er nicht, ohne
irgend Schritte in Dresden
zu thun, ſeine
Sache gleich in Berlin anhaͤngig
Kleiſts Erzaͤhl. C34Faksimilegemacht habe; und nachdem er, in der Schrei⸗
berei des Stadtgerichts, die
Beſchwerde, ganz
den Forderungen gemaͤß,
verfaßt, und dem 755
Stadthauptmann uͤbergeben
hatte, kehrte er, be⸗
ruhigter uͤber den Ausgang
ſeiner Geſchichte, als
je, nach
Kohlhaaſenbruͤck zuruͤck. Er hatte
aber
ſchon, in wenig Wochen, den Kummer,
durch
einen Gerichtsherrn, der in
Geſchaͤften des 760
Stadthauptmanns nach Potsdam
ging, zu er⸗
fahren, daß der Kurfuͤrſt
die Supplik ſeinem
Kanzler, dem Grafen
Kallheim, uͤbergeben
habe, und daß dieſer
nicht unmittelbar, wie es
zweckmaͤßig
ſchien, bei dem Hofe zu Dresden, 765
um
Unterſuchung und Beſtrafung der Gewalt⸗
that, ſondern um vorlaͤufige, naͤhere
Informa⸗
tion bei dem Junker
von Tronka eingekommen
ſey. Der Gerichtsherr, der, vor Kohlhaaſens
Wohnung, im Wagen haltend, den Auftrag zu
770
haben ſchien, dem Roßhaͤndler dieſe
Eroͤffnung
zu machen, konnte ihm auf die
betroffene Frage:
warum man alſo verfahren?
keine befriedigende
Auskunft geben. Er fuͤgte nur noch hinzu: der
Stadthauptmann ließe ihm ſagen, er moͤgte
775
35Faksimileſich in Geduld
faſſen; ſchien bedraͤngt, ſeine
Reiſe
fortzuſetzen; und erſt am Schluß der kur⸗
zen
Unterredung errieth Kohlhaas, aus einigen
hingeworfenen Worten, daß der Graf Kall⸗
heim
mit dem Hauſe derer von Tronka verſchwaͤ⸗780
gert ſey. — Kohlhaas, der keine Freude mehr,
weder an
ſeiner Pferdezucht, noch an Haus und
Hof,
kaum an Weib und Kind hatte, durch⸗
harrte, in
truͤber Ahndung der Zukunft, den
naͤchſten
Mond; und ganz ſeiner Erwartung ge⸗785
maͤß kam, nach
Verlauf dieſer Zeit, Herſe, dem
das Bad
einige Linderung verſchafft hatte, von
Brandenburg zuruͤck, mit einem, ein groͤßeres
Reſcript begleitenden, Schreiben des
Stadt⸗
hauptmanns, des Inhalts:
es thue ihm leid, 790
daß er nichts in ſeiner
Sache thun koͤnne; er
ſchicke ihm eine, an
ihn ergangene, Reſolution
der Staatskanzlei,
und rathe ihm, die Pferde,
die er in der
Tronkenburg zuruͤckgelaſſen, wieder
abfuͤhren, und die Sache uͤbrigens ruhen zu laſ⸗795
ſen. — Die
Reſolution lautete: „er ſey, nach
dem
Bericht des Tribunals in Dresden, ein un⸗
nuͤtzer Quaͤrulant; der Junker, bei dem er
die
C 236Faksimile
die Pferde
Pferde
Durch Seitenumbruch
entſtandene Dopplung von ›die‹.
zuruͤckgelaſſen, halte ihm dieſelben,
auf keine Weiſe, zuruͤck; er moͤgte nach der 800
Burg ſchicken, und ſie holen, oder dem
Jun⸗
ker wenigſtens wiſſen
laſſen, wohin er ſie ihm
ſenden ſolle; die
Staatskanzlei aber, auf jeden
Fall, mit
ſolchen Plackereien und Staͤnke⸗
reien
verſchonen.“ Kohlhaas, dem es nicht
um 805
die Pferde zu thun war — er haͤtte
gleichen
Schmerz empfunden, wenn es ein Paar
Hunde
gegolten haͤtte — Kohlhaas ſchaͤumte
vor Wuth,
als er dieſen Brief empfing.
Er ſah, ſo oft
ſich ein Geraͤuſch im Hofe hoͤren ließ, mit der 810
widerwaͤrtigſten Erwartung, die ſeine
Bruſt je⸗
mals bewegt hatte, nach dem Thorwege,
ob die
Leute des Jungherren erſcheinen, und
ihm, viel⸗
leicht gar mit einer Entſchuldigung,
die Pferde,
abgehungert und abgehaͤrmt,
wieder zuſtellen 815
wuͤrden; der einzige Fall,
in welchem ſeine von
der Welt wohlerzogene
Seele, auf nichts das
ihrem Gefuͤhl voͤllig
entſprach gefaßt war. Er
hoͤrte aber in kurzer Zeit ſchon, durch
einen Be⸗
kannten, der die Straße gereiſet war,
daß die 820
Gaule auf der Tronkenburg, nach wie
vor, den
37Faksimileuͤbrigen
Pferden des Landjunkers gleich, auf dem
Felde gebraucht wuͤrden; und mitten durch den
Schmerz, die Welt in einer ſo ungeheuren
Un⸗
ordnung zu erblicken,
zuckte die innerliche Zu⸗825
friedenheit empor, ſeine eigne Bruſt nunmehr
in
Ordnung zu ſehen. Er lud einen Amtmann,
ſeinen Nachbar, zu ſich, der laͤngſt mit dem
Plan umgegangen war, ſeine Beſitzungen
durch
den Ankauf der, ihre Graͤnze
beruͤhrenden, Grund⸗830
ſtuͤcke zu vergroͤßern,
und fragte ihn, nachdem
ſich derſelbe bei
ihm niedergelaſſen, was er fuͤr
ſeine
Beſitzungen, im Brandenburgiſchen und
im
Saͤchſiſchen, Haus und Hof, in Pauſch und
Bogen, es ſey nagelfeſt oder nicht, geben wolle? 835
Lisbeth, ſein Weib,
erblaßte bei dieſen Worten.
Sie wandte ſich, und hob ihr Juͤngſtes auf,
das
hinter ihr auf dem Boden ſpielte,
Blicke, in
welchen ſich der Tod malte, bei
den rothen Wan⸗
gen des Knaben vorbei, der
mit ihren Halsbaͤn⸗840
dern ſpielte, auf den
Roßkamm, und ein Pa⸗
pier werfend, das er in der
Hand hielt. Der
Amtmann fragte, indem er ihn befremdet an⸗
ſah, was
ihn ploͤtzlich auf ſo ſonderbare Gedan⸗
38Faksimileken bringe; worauf jener, mit ſo
viel Heiterkeit, 845
als er erzwingen konnte,
erwiederte: der Ge⸗
danke, ſeinen Meierhof, an
den Ufern der Ha⸗
vel, zu verkaufen, ſey
nicht allzuneu; ſie haͤtten
beide ſchon oft
uͤber dieſen Gegenſtand verhan⸗
delt; ſein
Haus in der Vorſtadt in Dresden ſey, 850
in
Vergleich damit, ein bloßer Anhang, der nicht
in Erwaͤgung komme; und kurz, wenn er ihm
ſeinen Willen thun, und beide Grundſtuͤcke uͤber⸗
nehmen wolle, ſo ſey er bereit, den
Contract
daruͤber mit ihm abzuſchließen.
Er ſetzte, mit 855
einem etwas erzwungenen Scherz hinzu, Kohl⸗
haaſenbruͤck ſey ja nicht
die Welt; es koͤnne
Zwecke geben, in
Vergleich mit welchen, ſeinem
Hausweſen, als
ein ordentlicher Vater, vorzu⸗
ſtehen,
untergeordnet und nichtswuͤrdig ſey; 860
und
kurz, ſeine Seele, muͤſſe er ihm ſagen, ſey
auf große Dinge geſtellt, von welchen er vielleicht
bald hoͤren werde. Der Amtmann, durch dieſe
Worte beruhigt, ſagte, auf eine luſtige Art, zur
Frau, die das Kind einmal uͤber das andere
865
kuͤßte: er werde doch nicht gleich
Bezahlung ver⸗
langen? legte Huth und
Stock, die er zwiſchen
39Faksimileden Knieen gehalten hatte, auf den Tiſch, und
nahm das Blatt, das der Roßkamm in der
Hand hielt, um es zu durchleſen. Kohlhaas, 870
indem er
demſelben naͤher ruͤckte, erklaͤrte ihm,
daß
es ein von ihm aufgeſetzter eventueller in
vier Wochen verfallener Kaufcontract ſey; zeigte
ihm, daß darin nichts fehle, als die
Unterſchrif⸗
ten, und die
Einruͤckung der Summen, ſowohl 875
was den
Kaufpreis ſelbſt, als auch den Reukauf,
d.
h. die Leiſtung betreffe, zu der er ſich, falls
er binnen vier Wochen zuruͤcktraͤte,
verſtehen
wolle; und forderte ihn noch
einmal munter auf,
ein Gebot zu thun, indem
er ihm verſicherte, daß 880
er billig ſeyn, und
keine großen Umſtaͤnde ma⸗
chen wuͤrde.
Die Frau ging in der Stube auf
und ab; ihre Bruſt flog, daß das Tuch, an
welchem der Knabe gezupft hatte, ihr
voͤllig von
der Schulter herabzufallen
drohte. Der Amt⸗885
mann
ſagte, daß er ja den Werth der Beſitzung
in
Dresden keineswegs beurtheilen koͤnne; wor⸗
auf ihm
Kohlhaas, Briefe, die bei ihrem An⸗
kauf gewechſelt
worden waren, hinſchiebend,
antwortete: daß
er ſie zu 100 Goldguͤlden an⸗890
40Faksimileſchlage; obſchon daraus hervorgieng, daß
ſie
ihm faſt um die Haͤlfte mehr gekoſtet
hatten.
Der
Amtmann, der den Kaufcontract noch ein⸗
mal
uͤberlas, und darin auch von ſeiner Seite,
auf eine ſonderbare Art, die Freiheit ſtipulirt 895
fand, zuruͤckzutreten, ſagte, ſchon halb
entſchloſ⸗
ſen: daß er ja die
Geſtuͤtpferde, die in ſeinen
Staͤllen
waͤren, nicht brauchen koͤnne; doch da
Kohlhaas erwiederte, daß er die Pferde auch gar
nicht loszuſchlagen willens ſey, und daß
er auch 900
einige Waffen, die in der
Ruͤſtkammer hingen,
fuͤr ſich behalten
wolle, ſo — zoͤgerte jener noch
und
zoͤgerte, und wiederholte endlich ein Gebot,
das er ihm vor kurzem ſchon einmal, halb im
Scherz, halb im Ernſt, nichtswuͤrdig gegen den 905
Werth der Beſitzung, auf einem
Spaziergange
gemacht hatte. Kohlhaas ſchob ihm Tinte und
Feder hin, um zu ſchreiben; und da der
Amt⸗
mann, der ſeinen Sinnen
nicht traute, ihn noch
einmal gefragt hatte,
ob es ſein Ernſt ſey? und 910
der Roßkamm ihm
ein wenig empfindlich geant⸗
wortet
hatte: ob er glaube, daß er bloß ſeinen
Scherz mit ihm treibe? ſo nahm jener zwar, mit
41Faksimileeinem bedenklichen
Geſicht, die Feder, und
ſchrieb; dagegen
durchſtrich er den Punct, in 915
welchem von der
Leiſtung, falls dem Verkaͤufer
der Handel
gereuen ſollte, die Rede war; ver⸗
pflichtete ſich, zu einem Darlehn von 100
Gold⸗
guͤlden, auf die Hypothek
des Dresdenſchen
Grundſtuͤcks, das er auf
keine Weiſe kaͤuflich an 920
ſich bringen
wollte; und ließ ihm, binnen zwei
Monaten
voͤllige Freiheit, von dem Handel wie⸗
der
zuruͤckzutreten. Der Roßkamm, von
dieſem
Verfahren geruͤhrt, ſchuͤttelte ihm
mit vieler Herz⸗
lichkeit die Hand; und
nachdem ſie noch, welches 925
eine
Hauptbedingung war, uͤbereingekommen
waren,
daß des Kaufpreiſes vierter Theil un⸗
fehlbar gleich baar, und der Reſt, in drei
Mo⸗
naten, in der Hamburger
Bank, gezahlt wer⸗
den ſollte, rief jener
nach Wein, um ſich eines 930
ſo gluͤcklich
abgemachten Geſchaͤfts zu erfreuen.
Er ſagte einer Magd, die mit den Flaſchen
her⸗
eintrat, Sternbald, der
Knecht, ſolle ihm den
Fuchs ſatteln; er
muͤſſe, gab er an, nach der
Hauptſtadt
reiten, wo er Verrichtungen habe; 935
und gab zu
verſtehen, daß er in Kurzem, wenn
42Faksimileer zuruͤckkehre, ſich offenherziger uͤber
das, was
er jetzt noch fuͤr ſich behalten
muͤſſe, auslaſſen
wuͤrde. Hierauf, indem er die Glaͤſer
einſchenk⸗
te, fragte er nach
dem Pohlen und Tuͤrken, die 940
gerade damals
mit einander im Streit lagen;
verwickelte
den Amtmann in mancherlei politiſche
Conjecturen daruͤber; trank ihm ſchluͤßlich hierauf
noch einmal das Gedeihen ihres Geſchaͤfts
zu, und
entließ ihn. — Als der Amtmann das Zimmer 945
verlaſſen hatte, fiel Lisbeth auf Knieen
vor ihm
nieder. Wenn du mich irgend, rief ſie, mich
und die
Kinder, die ich dir geboren habe, in dei⸗
nem
Herzen traͤgſt; wenn wir nicht im Voraus
ſchon, um welcher Urſach willen, weiß ich nicht, 950
verſtoßen ſind: ſo ſage mir, was dieſe
entſetzli⸗
chen Anſtalten zu
bedeuten haben! Kohlhaas
ſagte: liebſtes Weib, nichts, das dich
noch, ſo
wie die Sachen ſtehn, beunruhigen
duͤrfte. Ich
habe
eine Reſolution erhalten, in welcher man 955
mir
ſagt, daß meine Klage gegen den Junker
Wenzel von Tronka eine nichtsnutzige Staͤnkerei
ſey. Und weil
hier ein Mißverſtaͤndniß obwal⸗
ten muß: ſo
habe ich mich entſchloſſen, meine
43FaksimileKlage noch einmal, perſoͤnlich bei dem
Landes⸗960
herrn ſelbſt,
einzureichen. — Warum willſt du
dein Haus verkaufen? rief ſie, indem ſie
mit
einer verſtoͤrten Gebaͤhrde, aufſtand.
Der Roß⸗
kamm, indem er
ſie ſanft an ſeine Bruſt druͤckte,
erwiederte: weil ich in einem Lande, liebſte Lis⸗965
beth, in welchem man mich, in meinen
Rechten,
nicht ſchuͤtzen will, nicht bleiben
mag. Lieber
ein
Hund ſeyn, wenn ich von Fuͤßen getreten
werden ſoll, als ein Menſch! Ich
bin gewiß,
daß meine Frau hierin ſo denkt,
als ich. — 970
Woher
weißt du, fragte jene wild, daß man
dich in
deinen Rechten nicht ſchuͤtzen wird?
Wenn du dem Herrn beſcheiden, wie es dir
zu⸗
kommt, mit deiner
Bittſchrift nahſt: woher
weißt du, daß ſie
bei Seite geworfen, oder mit 975
Verweigerung,
dich zu hoͤren, beantwortet wer⸗
den wird? —
Wohlan, antwortete Kohlhaas,
wenn meine Furcht hierin ungegruͤndet iſt,
ſo iſt
auch mein Haus noch nicht verkauft.
Der Herr
ſelbſt,
weiß ich, iſt gerecht; und wenn es mir 980
nur
gelingt, durch die, die ihn umringen, bis
an
ſeine Perſon zu kommen, ſo zweifle ich nicht,
44Faksimileich verſchaffe mir Recht, und kehre
froͤhlich, noch
ehe die Woche verſtreicht,
zu dir und meinen
alten Geſchaͤften zuruͤck.
Moͤgt’ ich alsdann 985
noch, ſetzt’ er hinzu, indem er ſie kuͤßte, bis an
das Ende meines Lebens bei dir verharren!
—
Doch rathſam
iſt es, fuhr er fort, daß ich mich
auf jeden
Fall gefaßt mache; und daher wuͤnſchte
ich,
daß du dich, auf einige Zeit, wenn es ſeyn 990
kann, entfernteſt, und mit den Kindern zu dei⸗
ner Muhme nach Schwerin gingſt, die du
uͤber⸗
dies laͤngſt haſt
beſuchen wollen. — Wie? rief
die Hausfrau. Ich ſoll nach Schwerin gehen?
Ueber die Graͤnze mit den Kindern, zu meiner
995
Muhme nach Schwerin? Und das Entſetzen
erſtickte ihr die Sprache. —
Allerdings, ant⸗
wortete
Kohlhaas, und das, wenn es ſeyn kann,
gleich, damit ich in den Schritten, die ich fuͤr
meine Sache thun will, durch keine
Ruͤckſichten 1000
geſtoͤrt werde. — „O! ich verſtehe dich!“ rief
ſie. „Du
brauchſt jetzt nichts mehr, als Waf⸗
fen und
Pferde; alles Andere kann nehmen, wer
will!“ Und damit wandte ſie ſich,
warf ſich
auf einen Seſſel nieder, und
weinte. — Kohl⸗1005
45Faksimilehaas ſagte betroffen: liebſte
Lisbeth, was machſt
du? Gott hat mich mit Weib und Kindern und
Guͤtern geſegnet; ſoll ich heute zum
Erſtenmal
wuͤnſchen, daß es anders waͤre? —
— — Er
ſetzte
ſich zu ihr, die ihm, bei dieſen Worten, 1010
erroͤthend um den Hals gefallen war, freundlich
nieder. — Sag’
mir an, ſprach er, indem er
ihr die Locken
von der Stirne ſtrich: was ſoll
ich thun?
Soll ich meine Sache aufgeben?
Soll ich nach
der Tronkenburg gehen, und den 1015
Ritter
bitten, daß er mir die Pferde wieder gebe,
mich aufſchwingen, und ſie dir herreiten? — Lis⸗
beth wagte nicht: ja! ja!
ja! zu ſagen — ſie
ſchuͤttelte weinend mit
dem Kopf, ſie druͤckte ihn
heftig an ſich,
und uͤberdeckte mit heißen Kuͤſſen 1020
ſeine
Bruſt. „Nun alſo!“ rief Kohlhaas.
„Wenn du
fuͤhlſt, daß mir, falls ich mein Ge⸗
werbe
forttreiben ſoll, Recht werden muß: ſo
goͤnne mir auch die Freiheit, die mir noͤthig iſt,
es mir zu verſchaffen! Und damit ſtand er auf, 1025
und ſagte dem Knecht, der ihm meldete, daß der
Fuchs geſattelt ſtuͤnde: morgen muͤßten
auch die
Braunen eingeſchirrt werden, um
ſeine Frau
46Faksimilenach
Schwerin zu fuͤhren. Lisbeth ſagte:
ſie
habe einen Einfall! Sie erhob ſich, wiſchte ſich 1030
die Thraͤnen aus den Augen, und fragte
ihn, der
ſich an einem Pult niedergeſetzt
hatte: ob er ihr die
Bittſchrift geben, und
ſie, ſtatt ſeiner, nach
Berlin gehen laſſen
wolle, um ſie dem Landes⸗
herrn zu
uͤberreichen. Kohlhaas, von dieſer
Wen⸗1035
dung, um mehr als einer
Urſach willen, geruͤhrt,
zog ſie auf ſeinen
Schooß nieder, und ſprach:
liebſte Frau,
das iſt nicht wohl moͤglich! Der
Landesherr iſt vielfach umringt,
mancherlei Ver⸗
drießlichkeiten iſt der auſgeſetzt,
der ihm naht. 1040
Lisbeth verſetzte, daß es in tauſend Faͤllen einer
Frau leichter ſey, als einem Mann, ihm zu
na⸗
hen. Gieb mir die Bittſchrift, wiederholte ſie;
und wenn du weiter nichts willſt, als
ſie in ſei⸗
nen Haͤnden wiſſen, ſo verbuͤrge ich
mich dafuͤr: 1045
er ſoll ſie bekommen! Kohlhaas, der von ihrem
Muth ſowohl, als ihrer Klugheit, mancherlei
Proben hatte, fragte, wie ſie es denn
anzuſtel⸗
len denke; worauf
ſie, indem ſie verſchaͤmt vor
ſich
niederſah, erwiederte: daß der Caſtellan des 1050
kurfuͤrſtlichen Schloſſes, in fruͤheren Zeiten, da
47Faksimileer zu Schwerin in
Dienſten geſtanden, um ſie
geworben habe;
daß derſelbe zwar jetzt verheira⸗
thet ſey,
und mehrere Kinder habe; daß ſie aber
immer
noch nicht ganz vergeſſen waͤre; — und 1055
kurz, daß er es ihr nur uͤberlaſſen moͤgte, aus
dieſem und manchem andern Umſtand, der zu
beſchreiben zu weitlaͤufig waͤre,
Vortheil zu zie⸗
hen. Kohlhaas kuͤßte ſie mit vieler Freude,
ſag⸗
te, daß er ihren Vorſchlag
annaͤhme, belehrte 1060
ſie, daß es weiter
nichts beduͤrfe, als einer Woh⸗
nung bei der
Frau desſelben, um den Landes⸗
herrn, im
Schloſſe ſelbſt, anzutreten, gab ihr
die
Bittſchrift, ließ die Braunen anſpannen,
und ſchickte ſie mit Sternbald, ſeinem treuen 1065
Knecht, wohleingepackt ab.
Dieſe Reiſe war aber von allen erfolgloſen
Schritten, die er in ſeiner Sache gethan
hatte, der
allerungluͤcklichſte. Denn ſchon nach wenig Ta⸗
gen zog Sternbald in den Hof wieder
ein, Schritt 1070
vor Schritt den Wagen
fuͤhrend, in welchem
die Frau, mit einer
gefaͤhrlichen Quetſchung an
der Bruſt,
ausgeſtreckt darnieder lag. Kohl⸗
haas, der bleich an das
Fuhrwerk trat, konnte
48Faksimilenichts Zuſammenhaͤngendes uͤber das, was die⸗1075
ſes Ungluͤck verurſacht hatte,
erfahren. Der
Caſtellan war, wie der Knecht ſagte, nicht zu
Hauſe geweſen; man war alſo genoͤthigt
worden,
in einem Wirthshauſe, das in der
Naͤhe des
Schloſſes lag, abzuſteigen; dies
Wirthshaus 1080
hatte Lisbeth am andern Morgen
verlaſſen,
und dem Knecht befohlen, bei den
Pferden zu⸗
ruͤckzubleiben; und eher
nicht, als am Abend,
ſey ſie, in dieſem
Zuſtand, zuruͤckgekommen.
Es ſchien, ſie hatte ſich zu dreiſt an die
Perſon 1085
des Landesherrn vorgedraͤngt, und,
ohne Ver⸗
ſchulden desſelben, von
dem bloßen rohen Eifer
einer Wache, die ihn
umringte, einen Stoß,
mit dem Schaft einer
Lanze, vor die Bruſt er⸗
halten. Wenigſtens berichteten die Leute ſo, die 1090
ſie, in bewußtloſem Zuſtand, gegen Abend
in
den Gaſthof brachten; denn ſie ſelbſt
konnte,
von aus dem Mund vorquellendem
Blute gehin⸗
dert, wenig ſprechen.
Die Bittſchrift war ihr
nachher durch einen Ritter abgenommen
worden. 1095
Sternbald ſagte, daß es ſein Wille geweſen ſey,
ſich gleich auf ein Pferd zu ſetzen, und
ihm von
dieſem49Faksimiledieſem ungluͤcklichen
Vorfall Nachricht zu geben;
doch ſie habe,
trotz der Vorſtellungen des herbei⸗
gerufenen Wundarztes, darauf
beſtanden, ohne 1100
alle vorgaͤngige
Benachrichtigungen, zu ihrem
Manne nach
Kohlhaaſenbruͤck abgefuͤhrt zu wer⸗
den.
Kohlhaas brachte ſie, die von der
Reiſe
voͤllig zu Grunde gerichtet worden
war, in ein
Bett, wo ſie, unter
ſchmerzhaften Bemuͤhun⸗1105
gen, Athem zu holen,
noch einige Tage lebte.
Man verſuchte vergebens, ihr das Bewußtſeyn
wieder zu geben, um uͤber das, was
vorgefallen
war, einige Aufſchluͤſſe
zu erhalten; ſie lag, mit
ſtarrem, ſchon
gebrochenen Auge, da, und ant⸗1110
wortete
nicht. Nur kurz vor ihrem Tode kehrte
ihr noch einmal die Beſinnung wieder.
Denn
da ein
Geiſtlicher lutheriſcher Religion (zu wel⸗
chem
eben damals aufkeimenden Glauben ſie ſich,
nach dem Beiſpiel ihres Mannes, bekannt hatte) 1115
neben ihrem Bette ſtand, und ihr mit
lauter
und
empfindlich-feierlicher
Stimme, ein Capitel
aus der Bibel
vorlas: ſo ſah ſie ihn ploͤtzlich, mit
einem finſtern Ausdruck, an, nahm ihm, als
ob ihr daraus nichts vorzuleſen waͤre, die Bibel 1120
Kleiſts Erzaͤhl. D50Faksimileaus der Hand, blaͤtterte und blaͤtterte, und
ſchien etwas darin zu ſuchen; und zeigte
dem
Kohlhaas, der an ihrem Bette ſaß, mit
dem
Zeigefinger, den Vers: „Vergieb deinen
Fein⸗
den; thue wohl auch
denen, die dich haſſen.“ — 1125
Sie druͤckte ihm dabei mit einem uͤberaus
ſeelen⸗
vollen Blick die Hand,
und ſtarb. — Kohlhaas
dachte: „ſo moͤge mir Gott nie vergeben,
wie
ich dem Junker vergebe!“ kuͤßte ſie,
indem ihm
haͤufig die Thraͤnen floſſen,
druͤckte ihr die Augen 1130
zu, und verließ das
Gemach. Er nahm die hun⸗
dert Goldguͤlden, die ihm der Amtmann
ſchon,
fuͤr die Staͤlle in Dresden,
zugefertigt hatte,
und beſtellte ein
Leichenbegaͤngniß, das weniger
fuͤr ſie,
als fuͤr eine Fuͤrſtinn, angeordnet ſchien: 1135
ein eichener Sarg, ſtark mit Metall beſchlagen,
Kiſſen von Seide, mit goldnen und
ſilbernen
Troddeln, und ein Grab von acht
Ellen Tiefe,
mit Feldſteinen gefuͤttert und
Kalk. Er ſtand
ſelbſt, ſein Juͤngſtes auf dem Arm, bei der 1140
Gruft, und ſah der Arbeit zu. Als der Begraͤb⸗
nißtag kam, ward die Leiche, weiß
wie Schnee,
in einen Saal aufgeſtellt, den
er mit ſchwarzem
51FaksimileTuch
hatte beſchlagen laſſen. Der
Geiſtliche
hatte eben eine ruͤhrende Rede
an ihrer Bahre 1145
vollendet, als ihm die
landesherrliche Reſolution
auf die
Bittſchrift zugeſtellt ward, welche die
Abgeſchiedene uͤbergeben hatte, des Inhalts: er
ſolle die Pferde von der Tronkenburg
abholen,
und bei Strafe, in das Gefaͤngniß
geworfen zu 1150
werden, nicht weiter in dieſer
Sache einkom⸗
men. Kohlhaas ſteckte den Brief ein, und ließ
den Sarg auf den Wagen bringen. Sobald der
Huͤgel
geworfen, das Kreuz darauf gepflanzt,
und
die Gaͤſte, die die Leiche beſtattet hatten, 1155
entlaſſen waren, warf er ſich noch einmal vor
ihrem, nun veroͤdeten Bette nieder, und
uͤber⸗
nahm ſodann das
Geſchaͤft der Rache. Er ſetzte
ſich nieder und verfaßte einen
Rechtsſchluß, in
welchem er den Junker
Wenzel von Tronka, 1160
kraft der ihm
angeborenen Macht, verdammte,
die Rappen,
die er ihm abgenommen, und auf
den Feldern
zu Grunde gerichtet, binnen drei
Tagen nach
Sicht, nach Kohlhaaſenbruͤck zu
fuͤhren,
und in Perſon in ſeinen Staͤllen dick 1165
zu
fuͤttern. Dieſen Schluß ſandte er
durch einen
D 252Faksimilereitenden Boten an ihn ab, und inſtruirte
den⸗
ſelben, flugs nach
Uebergabe des Papiers, wie⸗
der bei ihm in
Kohlhaaſenbruͤck zu ſeyn. Da die
drei Tage, ohne Ueberlieferung der
Pferde, ver⸗1170
floſſen, ſo rief er
Herſen; eroͤffnete ihm, was er
dem
Jungherrn, die Dickfuͤtterung derſelben an⸗
betreffend, aufgegeben; fragte ihn
zweierlei, ob
er mit ihm nach der
Tronkenburg reiten und den
Jungherrn holen;
auch, ob er uͤber den Herge⸗1175
holten,
wenn er bei Erfuͤllung des Rechtsſchluſ⸗
ſes, in den Staͤllen von
Kohlhaaſenbruͤck, faul
ſey, die Peitſche
fuͤhren wolle? und da Herſe,
ſo wie er ihn
nur verſtanden hatte: „Herr, heute
noch!“
aufjauchzte, und, indem er die Muͤtze 1180
in
die Hoͤhe warf, verſicherte: einen Riemen,
mit zehn Knoten, um ihm das Striegeln zu leh⸗
ren, laſſe er ſich flechten! ſo
verkaufte Kohlhaas
das Haus, ſchickte die
Kinder, in einen Wagen
gepackt, uͤber die
Graͤnze; rief, bei Anbruch der 1185
Nacht, auch
die uͤbrigen Knechte zuſammen,
ſieben an
der Zahl, treu ihm jedweder, wie
Gold;
bewaffnete und beritt ſie, und brach
nach
der Tronkenburg auf.
Er fiel auch, mit dieſem kleinen Haufen, 1190
ſchon, beim Einbruch der dritten Nacht,
den
Zollwaͤrter und Thorwaͤchter, die im
Geſpraͤch
unter dem Thor ſtanden,
niederreitend, in die
Burg, und waͤhrend,
unter ploͤtzlicher Aufpraſ⸗
ſelung
aller Baraken im Schloßraum, die ſie 1195
mit
Feuer bewarfen, Herſe, uͤber die Windel⸗
treppe, in den Thurm der Voigtei eilte,
und den
Schloßvoigt und Verwalter, die,
halb entkleidet,
beim Spiel ſaßen, mit
Hieben und Stichen
uͤberfiel, ſtuͤrzte
Kohlhaas zum Junker Wenzel 1200
ins Schloß.
Der Engel des Gerichts faͤhrt alſo
vom Himmel herab; und der Junker, der
eben,
unter vielem Gelaͤchter, dem Troß
junger Freun⸗
de, der bei ihm war, den
Rechtsſchluß, den ihm
der Roßkamm
uͤbermacht hatte, vorlas, hatte 1205
nicht
ſobald deſſen Stimme im Schloßhof ver⸗
nommen: als er den Herren ſchon, ploͤtzlich
lei⸗
chenbleich: Bruͤder,
rettet euch! zurief, und ver⸗
ſchwand.
Kohlhaas, der, beim Eintritt in den
Saal, einen Junker Hans von Tronka,
der 1210
ihm entgegen kam, bei der Bruſt faßte,
und in
den Winkel des Saals ſchleuderte,
daß er ſein
54FaksimileHirn an den
Steinen verſpruͤtzte, fragte, waͤhrend
die
Knechte die anderen Ritter, die zu den
Waffen gegriffen hatten, uͤberwaͤltigten, und 1215
zerſtreuten: wo der Junker Wenzel von
Tronka
ſey? Und
da er, bei der Unwiſſenheit der betaͤub⸗
ten
Maͤnner, die Thuͤren zweier Gemaͤcher, die
in die Seitenfluͤgel des Schloſſes fuͤhrten, mit
einem Fußtritt ſprengte, und in allen
Richtun⸗1220
gen, in denen er das
weitlaͤufige Gebaͤude durch⸗
kreuzte,
niemanden fand, ſo ſtieg er fluchend in
den
Schloßhof hinab, um die Ausgaͤnge beſetzen
zu laſſen. Inzwiſchen war, vom
Feuer der
Baraken ergriffen, nun ſchon das
Schloß, mit 1225
allen Seitengebaͤuden, ſtarken
Rauch gen Him⸗
mel qualmend, angegangen,
und waͤhrend Stern⸗
bald, mit drei
geſchaͤftigen Knechten, Alles,
was niet-
und nagelfeſt war, zuſammenſchlepp⸗
ten, und zwiſchen den
Pferden, als gute Beu⸗1230
te, umſtuͤrzten, flogen,
unter dem Jubel Her⸗
ſens, aus den offenen
Fenſtern der Voigtei, die
Leichen des
Schloßvoigts und Verwalters, mit
Weib und
Kindern, herab. Kohlhaas, dem
ſich, als er die Treppe vom Schloß
niederſtieg, 1235
55Faksimiledie alte,
von der Gicht geplagte Haushaͤlte⸗
rinn,
die dem Junker die Wirthſchaft fuͤhrte,
zu
Fuͤßen warf, fragte ſie, indem er auf der
Stufe ſtehen blieb: wo der Junker Wenzel von
Tronka ſey? und da ſie ihm, mit
ſchwacher, 1240
zitternder Stimme, zur Antwort
gab: ſie glau⸗
be, er habe ſich in die
Kapelle gefluͤchtet; ſo
rief er zwei
Knechte mit Fackeln, ließ, in Er⸗
mangelung
der Schluͤſſel, den Eingang mit
Brechſtangen und Beilen eroͤffnen, kehrte Al⸗1245
taͤre und Baͤnke um, und fand
gleichwohl, zu
ſeinem grimmigen Schmerz,
den Junker nicht.
Es traf ſich, daß ein junger, zum Geſinde
de
der
Tronkenburg gehoͤriger Knecht, in dem
Augen⸗
blick, da Kohlhaas aus
der Kapelle zuruͤckkam, 1250
herbeieilte, um aus
einem weitlaͤufigen, ſteiner⸗
nen Stall,
den die Flamme bedrohte, die
Streithengſte
des Junkers herauszuziehen. Kohl⸗
haas, der, in eben dieſem
Augenblick, in einem
kleinen, mit Stroh
bedeckten Schuppen, ſeine 1255
beiden Rappen
erblickte, fragte den Knecht:
warum er die
Rappen nicht rette? und da die⸗
ſer, indem er
den Schluͤſſel in die Stallthuͤr
56Faksimileſteckte, antwortete: der Schuppen ſtehe ja
ſchon
in Flammen; ſo warf Kohlhaas den
Schluͤſſel, 1260
nachdem er ihn mit Heftigkeit
aus der Stallthuͤre
geriſſen, uͤber die
Mauer, trieb den Knecht,
mit hageldichten,
flachen Hieben der Klinge,
in den
brennenden Schuppen hinein, und zwang
ihn,
unter entſetzlichem Gelaͤchter der Umſte⸗1265
henden, die Rappen zu retten. Gleichwohl,
als der
Knecht ſchreckenblaß, wenige Momente
nachdem der Schuppen hinter ihm zuſammen⸗
ſtuͤrzte, mit den Pferden, die er
an der Hand
hielt, daraus hervortrat, fand
er den Kohl⸗1270
haas nicht mehr; und da
er ſich zu den Knech⸗
ten auf den Schloßplatz
begab, und den Roß⸗
haͤndler, der ihm
mehreremal den Ruͤcken zu⸗
kehrte,
fragte: was er mit den Thieren nun
anfangen
ſolle? — hob dieſer ploͤtzlich, mit 1275
einer
fuͤrchterlichen Gebaͤhrde, den Fuß, daß
der
Tritt, wenn er ihn gethan haͤtte, ſein Tod
geweſen waͤre: beſtieg, ohne ihm zu antwor⸗
ten, ſeinen Braunen, ſetzte ſich
unter das Thor
der Burg, und erharrte,
inzwiſchen die Knechte 1280
ihr Weſen
forttrieben, ſchweigend den Tag.
Als der
Morgen anbrach, war das ganze
Schloß,
bis auf die Mauern, niedergebrannt,
und nie⸗
mand befand ſich mehr darin, als
Kohlhaas
und ſeine ſieben Knechte. Er ſtieg vom Pferde, 1285
und unterſuchte noch einmal, beim hellen Schein
der Sonne, den ganzen, in allen ſeinen
Win⸗
keln jetzt von ihr
erleuchteten Platz, und da
er ſich, ſo
ſchwer es ihm auch ward, uͤberzeu⸗
gen mußte,
daß die Unternehmung auf die Burg 1290
fehlgeſchlagen war, ſo ſchickte er, die Bruſt
voll Schmerz und Jammer, Herſen mit
eini⸗
gen Knechten aus, um
uͤber die Richtung, die
der Junker auf
ſeiner Flucht genommen, Nach⸗
richt
einzuziehen. Beſonders beunruhigte
ihn 1295
ein reiches Fraͤuleinſtift, Namens
Erlabrunn,
das an den Ufern der Mulde lag,
und deſſen
Aebtiſſinn, Antonia von Tronka,
als eine
fromme, wohlthaͤtige und heilige
Frau, in der
Gegend bekannt war; denn es
ſchien dem un⸗1300
gluͤcklichen Kohlhaas nur
zu wahrſcheinlich, daß
der Junker ſich,
entbloͤßt von aller Nothdurft,
wie er war,
in dieſes Stift gefluͤchtet hatte,
indem
die Aebtiſſinn ſeine leibliche Tante und
58Faksimiledie Erzieherinn ſeiner erſten
Kindheit war. 1305
Kohlhaas, nachdem er ſich von dieſem Um⸗
ſtand
unterrichtet hatte, beſtieg den Thurm der
Voigtei, in deſſen Innerem ſich noch ein Zim⸗
mer, zur Bewohnung brauchbar, darbot,
und
verfaßte ein ſogenanntes
„Kohlhaaſiſches Man⸗1310
dat,“ worin er das Land
aufforderte, dem Jun⸗
ker Wenzel von Tronka, mit
dem er in einem
gerechten Krieg liege,
keinen Vorſchub zu thun,
vielmehr jeden
Bewohner, ſeine Verwandten
und Freunde
nicht auſgenommen, verpflichtete, 1315
demſelben
bei Strafe Leibes und des Lebens,
und
unvermeidlicher Einaͤſcherung alles deſſen,
was ein Beſitzthum heißen mag, an ihn aus⸗
zuliefern. Dieſe Erklaͤrung ſtreute er, durch
Reiſende und Fremde, in der Gegend aus; ja, 1320
er gab Waldmann, dem Knecht, eine
Abſchrift
davon, mit dem beſtimmten
Auftrage, ſie in
die Haͤnde der Dame
Antonia nach Erlabrunn
zu bringen. Hierauf beſprach er einige Tronken⸗
burgiſche Knechte, die mit dem
Junker unzu⸗1325
frieden waren, und von
der Ausſicht auf Beute
gereizt, in ſeine
Dienſte zu treten wuͤnſchten;
59Faksimilebewaffnete ſie, nach Art des Fußvolks, mit
Armbruͤſten und Dolchen, und lehrte ſie,
hin⸗
ter den berittenen
Knechten aufſitzen; und nach⸗1330
dem er Alles,
was der Troß zuſammengeſchleppt
hatte, zu
Geld gemacht und das Geld unter
denſelben
vertheilt hatte, ruhete er einige Stun⸗
den,
unter dem Burgthor, von ſeinen jaͤmmer⸗
lichen Geſchaͤften aus. 1335
Gegen Mittag kam Herſe und beſtaͤtigte
ihm, was ihm ſein Herz, immer auf die
truͤb⸗
ſten Ahnungen geſtellt,
ſchon geſagt hatte:
naͤmlich, daß der
Junker in dem Stift zu Er⸗
labrunn, bei
der alten Dame Antonia von 1340
Tronka, ſeiner
Tante, befindlich ſey. Es ſchien,
er hatte ſich, durch eine Thuͤr, die, an
der
hinteren Wand des Schloſſes, in die
Luft hin⸗
ausging, uͤber eine
ſchmale, ſteinerne Treppe
gerettet, die,
unter einem kleinen Dach, zu ei⸗1345
nigen Kaͤhnen
in die Elbe hinablief. Wenig⸗
ſtens berichtete Herſe, daß er, in
einem Elb⸗
dorf, zum Befremden der Leute, die
wegen des
Brandes in der Tronkenburg
verſammelt gewe⸗
ſen, um Mitternacht, in
einem Nachen, ohne 1350
60FaksimileSteuer und Ruder, angekommen, und mit
einem Dorffuhrwerk nach Erlabrunn weiter ge⸗
reiſet ſey. — — — Kohlhaas ſeufzte bei die⸗
ſer Nachricht tief auf; er fragte, ob
die Pferde
gefreſſen haͤtten? und da man
ihm antwortete: 1355
ja: ſo ließ er den Haufen
aufſitzen, und ſtand
ſchon in drei Stunden
vor Erlabrunn. Eben,
unter dem Gemurmel eines entfernten
Gewit⸗
ters am Horizont, mit
Fackeln, die er ſich vor
dem Ort
angeſteckt, zog er mit ſeiner Schaar 1360
in den
Kloſterhof ein, und Waldmann, der
Knecht,
der ihm entgegen trat, meldete ihm,
daß das
Mandat richtig abgegeben ſey, als er
die
Aebtiſſin und den Stiftsvoigt, in einem ver⸗
ſtoͤrten Wortwechſel, unter das Portal
des 1365
Kloſters treten ſah; und waͤhrend
jener, der
Stiftsvoigt, ein kleiner, alter,
ſchneeweißer
Mann, grimmige Blicke auf
Kohlhaas ſchie⸗
ßend, ſich den Harniſch
anlegen ließ, und den
Knechten, die ihn
umringten, mit dreiſter 1370
Stimme zurief, die
Sturmglocke zu ziehn: trat
jene, die
Stiftsfrau, das ſilberne Bildniß des
Gekreuzigten in der Hand, bleich, wie Linnen⸗
61Faksimilezeug, von
der Rampe herab, und warf ſich mit
allen
ihren Jungfrauen, vor Kohlhaaſens 1375
Pferd
nieder. Kohlhaas, waͤhrend Herſe und
Sternbald den Stiftsvoigt, der kein
Schwerdt
in der Hand hatte,
uͤberwaͤltigten, und als Ge⸗
fangenen
zwiſchen die Pferde fuͤhrten, fragte ſie:
wo der Junker Wenzel von Tronka ſey? und 1380
da ſie, einen großen Ring mit Schluͤſſeln von
ihrem Gurt losloͤſend: in Wittenberg,
Kohlhaas,
wuͤrdiger Mann! antwortete, und,
mit beben⸗
der Stimme, hinzuſetzte: fuͤrchte
Gott und
thue kein Unrecht! — ſo wandte
Kohlhaas, in 1385
die Hoͤlle unbefriedigter
Rache zuruͤckgeſchleudert,
das Pferd, und
war im Begriff: ſteckt an! zu
rufen, als
ein ungeheurer Wetterſchlag, dicht
neben
ihm, zur Erde niederfiel. Kohlhaas,
in⸗
dem er ſein Pferd zu ihr
zuruͤckwandte, fragte 1390
ſie: ob ſie ſein
Mandat erhalten? und da die
Dame mit
ſchwacher, kaum hoͤrbarer Stimme,
antwortete: eben jetzt! — „Wann?“ —
Zwei
Stunden, ſo
wahr mir Gott helfe, nach des
Junkers,
meines Vetters, bereits vollzogener 1395
Abreiſe! — — — und Waldmann, der Knecht,
62Faksimilezu dem Kohlhaas ſich, unter
finſteren Blicken,
umkehrte, ſtotternd
dieſen Umſtand beſtaͤtigte,
indem er ſagte,
daß die Gewaͤſſer der Mulde,
vom Regen
geſchwellt, ihn verhindert haͤtten, 1400
fruͤher, als eben jetzt, einzutreffen: ſo ſammelte
ſich Kohlhaas; ein ploͤtzlich fruchtbarer
Regen⸗
guß, der die Fackeln
verloͤſchend, auf das Pfla⸗
ſter des
Platzes niederrauſchte, loͤſte den Schmerz
in ſeiner ungluͤcklichen Bruſt; er wandte, indem 1405
er kurz den Huth vor der Dame ruͤckte,
ſein
Pferd, druͤckte ihm, mit den Worten:
folgt
mir meine Bruͤder; der Junker iſt in
Witten⸗
berg! die Sporren ein,
und verließ das Stift.
Er kehrte, da die Nacht einbrach, in einem 1410
Wirthshauſe auf der Landſtraße ein, wo
er,
wegen großer Ermuͤdung der Pferde,
einen Tag
ausruhen mußte, und da er wohl
einſah, daß er
mit einem Haufen von zehn
Mann (denn ſo
ſtark war er jetzt), einem
Platz wie Wittenberg 1415
war, nicht trotzen
konnte, ſo verfaßte er ein
zweites Mandat,
worin er, nach einer kurzen
Erzaͤhlung
deſſen, was ihm im Lande begegnet,
„jeden
guten Chriſten“, wie er ſich ausdruͤckte,
63Faksimile „unter Angelobung eines Handgelds
und ande⸗1420
rer kriegeriſchen Vortheile“,
aufforderte „ſeine
Sache gegen den Junker
von Tronka, als dem
allgemeinen Feind aller
Chriſten, zu ergreifen.“
In einem anderen Mandat, das bald darauf
erſchien, nannte er ſich: „einen Reichs-
und 1425
Weltfreien, Gott allein unterworfenen
Herrn;“
eine Schwaͤrmerei krankhafter und
mißgeſchaf⸗
fener Art, die ihm
gleichwohl, bei dem Klang
ſeines Geldes und
der Ausſicht auf Beute, un⸗
ter dem Geſindel,
das der Friede mit Pohlen 1430
außer Brodt
geſetzt hatte, Zulauf in Menge
verſchaffte:
dergeſtalt, daß er in der That drei⸗
ßig und
etliche Koͤpfe zaͤhlte, als er ſich, zur
Einaͤſcherung von Wittenberg, auf die rechte
Seite der Elbe zuruͤckbegab. Er lagerte ſich, 1435
mit
Pferden und Knechten, unter dem Dache
einer
alten verfallenen Ziegelſcheune, in der Ein⸗
ſamkeit eines finſteren Waldes, der
damals dieſen
Platz umſchloß, und hatte
nicht ſobald durch
Sternbald, den er, mit
dem Mandat, verklei⸗1440
det in die Stadt
ſchickte, erfahren, daß das
Mandat daſelbſt
ſchon bekannt ſey, als er auch
64Faksimilemit ſeinen Haufen ſchon, am heiligen Abend vor
Pfingſten, aufbrach, und den Platz,
waͤhrend
die Bewohner im tiefſten Schlaf
lagen, an 1445
mehreren Ecken zugleich, in Brand
ſteckte.
Dabei
klebte er, waͤhrend die Knechte in der
Vorſtadt pluͤnderten, ein Blatt an den Thuͤr⸗
pfeiler einer Kirche an, des
Inhalts: „er,
Kohlhaas, habe die Stadt in
Brand geſteckt, 1450
und werde ſie, wenn man ihm
den Junker nicht
ausliefere, dergeſtalt
einaͤſchern, daß er,“ wie
er ſich
ausdruͤckte, „hinter keiner Wand werde
zu
ſehen brauchen, um ihn zu finden.“ — Das
Entſetzen der Einwohner, uͤber dieſen
unerhoͤr⸗1455
ten Frevel, war
unbeſchreiblich; und die Flamme,
die bei
einer zum Gluͤck ziemlich ruhigen Sommer⸗
nacht, zwar nicht mehr als neunzehn
Haͤuſer, wor⸗
unter gleichwohl eine
Kirche war, in den Grund
gelegt hatte, war
nicht ſobald, gegen Anbruch 1460
des Tages,
einigermaaßen gedaͤmpft worden,
als der
alte Landvoigt, Otto von Gorgas, be⸗
reits
ein Faͤhnlein von funfzig Mann ausſandte,
um den entſetzlichen Wuͤtherich aufzuheben. Der
Hauptmann aber, der
es fuͤhrte, Namens 1465
Gerſten⸗65FaksimileGerſtenberg, benahm ſich ſo ſchlecht dabei, daß
die ganze Expedition Kohlhaaſen, ſtatt
ihn zu
ſtuͤrzen, vielmehr zu einem hoͤchſt
gefaͤhrlichen
kriegeriſchen Ruhm verhalf;
denn da dieſer Kriegs⸗
mann ſich in mehrere
Abtheilungen aufloͤſete, um 1470
ihn, wie er
meinte, zu umzingeln und zu erdruͤk⸗
kenerdruͤcken, ward er
von Kohlhaas, der ſeinen Haufen
zuſammenhielt, auf vereinzelten Puncten, ange⸗
griffen und geſchlagen, dergeſtalt,
daß ſchon, am
Abend des naͤchſtfolgenden
Tages, kein Mann 1475
mehr von dem ganzen
Haufen, auf den die Hoff⸗
nung des
Landes gerichtet war, gegen ihm im
Felde
ſtand. Kohlhaas, der durch dieſe
Gefechte
einige Leute eingebuͤßt hatte,
ſteckte die Stadt,
am Morgen des naͤchſten
Tages, von neuem in 1480
Brand, und ſeine
moͤrderiſchen Anſtalten waren
ſo gut, daß
wiederum eine Menge Haͤuſer, und
faſt alle
Scheunen der Vorſtadt, in die Aſche ge⸗
legt
wurden. Dabei plackte er das bewußte
Mandat wieder, und zwar an die Ecken
des 1485
Rathhauſes ſelbſt, an, und fuͤgte eine
Nach⸗
richt uͤber das Schickſal
des, von dem Landvoigt
abgeſchickten und
von ihm zu Grunde gerichte⸗
Kleiſts Erzaͤhl. E66Faksimileten,
Hauptmanns von Gerſtenberg bei. Der
Landvoigt, von dieſem Trotz aufs
Aeußerſte ent⸗1490
ruͤſtet, ſetzte ſich
ſelbſt, mit mehreren Rittern,
an die Spitze
eines Haufens von hundert und
funfzig Mann.
Er gab dem Junker Wenzel von
Tronka, auf ſeine ſchriftliche Bitte,
eine Wache,
die ihn vor der
Gewaltthaͤtigkeit des Volks, das 1495
ihn
platterdings aus der Stadt entfernt wiſſen
wollte, ſchuͤtzte; und nachdem er, auf allen
Doͤrfern in der Gegend, Wachen
ausgeſtellt,
auch die Ringmauer der Stadt,
um ſie vor
einem Ueberfall zu decken, mit
Poſten beſetzt 1500
hatte, zog er, am Tage des
heiligen Gervaſius,
ſelbſt aus, um den
Drachen, der das Land ver⸗
wuͤſtete,
zu fangen. Dieſen Haufen war der
Roßkamm klug genug, zu vermeiden; und
nach⸗
dem er den Landvoigt,
durch geſchickte Maͤrſche, 1505
fuͤnf Meilen von
der Stadt hinweggelockt, und
vermittelſt
mehrerer Anſtalten, die er traf, zu
dem
Wahn verleitet hatte, daß er ſich, von der
Uebermacht gedraͤngt, ins Brandenburgiſche wer⸗
fen wuͤrde: wandte er ſich ploͤtzlich,
beim Ein⸗1510
bruch der dritten Nacht, kehrte, in
einem Ge⸗
67Faksimilewaltritt,
nach Wittenberg zuruͤck, und ſteckte
die
Stadt zum drittenmal in Brand. Herſe,
der ſich verkleidet in die Stadt
ſchlich, fuͤhrte
dieſes entſetzliche
Kunſtſtuͤck aus; und die Feuers⸗1515
brunſt
war, wegen eines ſcharf wehenden Nord⸗
windes, ſo verderblich und um ſich
freſſend, daß,
in weniger als drei Stunden,
zwei und vierzig
Haͤuſer, zwei Kirchen,
mehrere Kloͤſter und
Schulen, und das
Gebaͤude der kurfuͤrſtlichen 1520
Landvoigtei
ſelbſt, in Schutt und Aſche lagen.
Der Landvoigt, der ſeinen Gegner, beim
An⸗
bruch des Tages, im
Brandenburgiſchen glaubte,
fand, als er von
dem, was vorgefallen, benach⸗
richtigt, in beſtuͤrzten Maͤrſchen
zuruͤckkehrte, die 1525
Stadt in allgemeinem
Aufruhr; das Volk hatte
ſich zu Tauſenden
vor dem, mit Balken und
Pfaͤhlen
verrammelten, Hauſe des Junkers ge⸗
lagert, und forderte, mit raſendem Geſchrei,
ſeine Abfuͤhrung aus der Stadt. Zwei Buͤrger⸗1530
meiſter,
Namens Jenkens und Otto, die in
Amtskleidern an der Spitze des ganzen Magi⸗
ſtrats gegenwaͤrtig waren, bewieſen
vergebens,
daß man platterdings die
Ruͤckkehr eines Eilbo⸗
E
268Faksimileten abwarten muͤſſe, den man wegen
Erlaub⸗1535
niß den Junker nach
Dresden bringen zu duͤr⸗
fen, wohin er ſelbſt aus
mancherlei Gruͤnden
abzugehen wuͤnſche, an
den Praͤſidenten der
Staatskanzlei
geſchickt habe; der unvernuͤnftige,
mit
Spießen und Stangen bewaffnete Haufen 1540
gab
auf dieſe Worte nichts, und eben war man,
unter Mißhandlung einiger zu kraͤftigen Maaß⸗
regeln auffordernden Raͤthe, im
Begriff das
Haus worin der Junker war zu
ſtuͤrmen, und
der Erde gleich zu machen,
als der Landvoigt, 1545
Otto von Gorgas, an der
Spitze ſeines Reuter⸗
haufens, in der Stadt
erſchien. Dieſem wuͤrdi⸗
gen Herrn, der ſchon durch ſeine
bloße Gegen⸗
wart dem Volk Ehrfurcht
und Gehorſam ein⸗
zufloͤßen gewohnt war, war
es, gleichſam zum 1550
Erſatz fuͤr die
fehlgeſchlagene Unternehmung,
von welcher
er zuruͤckkam, gelungen, dicht vor
den
Thoren der Stadt drei zerſprengte Knechte
von der Bande des Mordbrenners aufzufangen;
und da er, inzwiſchen die Kerle vor dem
Ange⸗1555
ſicht des Volks mit
Ketten belaſtet wurden,
den Magiſtrat in
einer klugen Anrede verſicherte,
69Faksimileden Kohlhaas ſelbſt denke er in kurzem,
indem
er ihm auf die Spur ſey, gefeſſelt
einzubrin⸗
gen: ſo gluͤckte es
ihm, durch die Kraft aller 1560
dieſer
beſchwichtigenden Umſtaͤnde, die Angſt
des
verſammelten Volks zu entwaffnen, und
uͤber
die Anweſenheit des Junkers, bis zur
Zuruͤckkunft des Eilboten aus Dresden, einiger⸗
maßen zu beruhigen. Er ſtieg, in Begleitung 1565
einiger Ritter, vom Pferde, und verfuͤgte
ſich, nach Wegraͤumung der Palliſaden und
Pfaͤhle, in das Haus, wo er den Junker, der
aus einer Ohnmacht in die andere fiel,
unter
den Haͤnden zweier Aerzte fand, die
ihn mit 1570
Eſſenzen und Irritanzen wieder ins
Leben zuruͤck
zu bringen ſuchten; und da
Herr Otto von Gor⸗
gas wohl fuͤhlte, daß dies
der Augenblick nicht
war, wegen der
Auffuͤhrung, die er ſich zu
Schulden kommen
laſſe, Worte mit ihm zu 1575
wechſeln: ſo ſagte
er ihm bloß, mit einem Blick
ſtiller
Verachtung, daß er ſich ankleiden, und
ihm,
zu ſeiner eigenen Sicherheit, in die Ge⸗
maͤcher der Ritterhaft folgen moͤgte. Als man
dem Junker ein
Wams angelegt, und einen 1580
70FaksimileHelm aufgeſetzt hatte, und er, die Bruſt, we⸗
gen Mangels an Luft, noch halb offen,
am
Arm des Landvoigts und ſeines Schwagers,
des
Grafen von Gerſchau, auf der Straße
erſchien,
ſtiegen gotteslaͤſterliche und
entſetzliche Verwuͤn⸗1585
ſchungen gegen ihn zum Himmel auf.
Das Volk,
von
den Landsknechten nur muͤhſam zuruͤckgehal⸗
ten, nannte ihn einen Blutigel,
einen elenden
Landplager und
Menſchenquaͤler, den Fluch
der Stadt
Wittenberg, und das Verderben von 1590
Sachſen;
und nach einem jaͤmmerlichen Zuge
durch die
in Truͤmmern liegende Stadt, waͤh⸗
rend welchem
er mehreremal, ohne ihn zu ver⸗
miſſen, den
Helm verlor, den ihm ein Ritter
von hinten
wieder aufſetzte, erreichte man end⸗1595
lich
das Gefaͤngniß, wo er in einem Thurm,
unter
dem Schutz einer ſtarken Wache, ver⸗
ſchwand. Mittlerweile ſetzte die Ruͤckkehr des
Eilboten, mit der
kurfuͤtſtlichen
kurfuͤrſtlichen
Reſolution, die
Stadt in neue
Beſorgniß. Denn die Landes⸗1600
regierung, bei welcher die Buͤrgerſchaft
von
Dresden, in einer dringenden Supplik,
unmit⸗
telbar eingekommen war,
wollte, vor Ueber⸗
71Faksimilewaͤltigung des Mordbrenners, von dem
Aufent⸗
halt des Junkers in der
Reſidenz nichts wiſſen; 1605
vielmehr
verpflichtete ſie den Landvoigt, denſel⸗
ben
da, wo er ſey, weil er irgendwo ſeyn muͤſſe,
mit der Macht, die ihm zu Gebote ſtehe, zu
beſchirmen: wogegen ſie der guten Stadt Wit⸗
tenberg, zu ihrer Beruhigung, meldete,
daß 1610
bereits ein Heerhaufen von fuͤnfhundert
Mann,
unter Anfuͤhrung des Prinzen
Friedrich von
Meißen im Anzuge ſey, um ſie
vor den ferneren
Belaͤſtigungen desſelben
zu beſchuͤtzen. Der Land⸗
voigt, der wohl einſah, daß eine
Reſolution 1615
dieſer Art, das Volk keinesweges
beruhigen
konnte: denn nicht nur, daß
mehrere kleinen
Vortheile, die der
Roßhaͤndler, an verſchiede⸗
nen
Punkten, vor der Stadt erfochten, uͤber
die
Staͤrke, zu der er herangewachſen, aͤußerſt 1620
unangenehme Geruͤchte verbreiteten; der Krieg,
den er, in der Finſterniß der Nacht,
durch ver⸗
kleidetes Geſindel, mit
Pech, Stroh und
Schwefel fuͤhrte, haͤtte,
unerhoͤrt und beiſpiel⸗
los, wie er war,
ſelbſt einen groͤßeren Schutz, 1625
als mit
welchem der Prinz von Meißen heran⸗
72Faksimileruͤckte, unwirkſam machen
koͤnnen: der Land⸗
voigt, nach einer kurzen
Ueberlegung, entſchloß
ſich, die
Reſolution, die er empfangen, ganz
und gar
zu unterdruͤcken. Er plackte bloß
einen 1630
Brief, in welchem ihm der Prinz von
Meiſſen
ſeine Ankunft meldete, an die Ecken
der Stadt
an; ein verdeckter Wagen, der,
beim Anbruch
des Tages, aus dem Hofe des
Herrenzwingers
kam, fuhr, von vier ſchwer
bewaffneten Reu⸗1635
tern begleitet, auf die
Straße nach Leipzig hin⸗
aus, wobei die Reuter, auf
eine unbeſtimmte
Art verlauten ließen, daß
es nach der Pleißen⸗
burg gehe; und da das
Volk uͤber den heilloſen
Junker, an deſſen
Daſeyn Feuer und Schwerdt 1640
gebunden,
dergeſtalt beſchwichtigt war, brach
er
ſelbſt, mit einem Haufen von dreihundert
Mann, auf, um ſich mit dem Prinzen
Fried⸗
drich
Fried⸗
rich
von Meißen zu
vereinigen. Inzwiſchen
war Kohlhaas in der That, durch die
ſonder⸗1645
bare Stellung, die er
in der Welt einnahm,
auf hundert und neun
Koͤpfe herangewachſen;
und da er auch in
Jaſſen einen Vorrath an
Waffen
aufgetrieben, und ſeine Schaar, auf
73Faksimiledas Vollſtaͤndigſte, damit auſgeruͤſtet
hatte: 1650
ſo faßte er, von dem doppelten
Ungewitter, das
auf ihn heranzog,
benachrichtigt, den Entſchluß,
demſelben,
mit der Schnelligkeit des Sturm⸗
winds, ehe
es uͤber ihn zuſammenſchluͤge, zu be⸗
gegnen. Demnach griff er
ſchon, Tags darauf, 1655
den Prinzen von Meißen,
in einem naͤchtlichen
Ueberfall, bei
Muͤhlberg an; bei welchem Ge⸗
fechte er
zwar, zu ſeinem großen Leidweſen, den
Herſe
einbuͤßte, der gleich durch die erſten
Schuͤſſe an ſeiner Seite zuſammenſtuͤrzte: 1660
durch dieſen Verluſt erbittert aber, in einem
drei Stunden langen Kampfe, den Prinzen,
unfaͤhig ſich in dem Flecken zu
ſammeln, ſo zu⸗
richtete, daß er beim
Anbruch des Tages, meh⸗
rerer ſchweren Wunden, und
einer gaͤnzlichen 1665
Unordnung ſeines Haufens
wegen, genoͤthigt
war, den Ruͤckweg nach
Dresden einzuſchlagen.
Durch dieſen Vortheil tollkuͤhn gemacht,
wandte
er ſich, ehe derſelbe noch davon
unterrichtet ſeyn
konnte, zu dem Landvoigt
zuruͤck, fiel ihn bei 1670
dem Dorfe Damerow, am
hellen Mittag, auf
freiem Felde an, und
ſchlug ſich, unter moͤr⸗
74Faksimilederiſchem Verluſt zwar, aber mit
gleichen Vor⸗
theilen, bis in die
ſinkende Nacht mit ihm
herum. Ja, er wuͤrde den Landvoigt, der ſich 1675
in den Kirchhof zu Damerow geworfen
hatte,
am andern Morgen unfehlbar mit dem
Reſt
ſeines Haufens wieder angegriffen
haben, wenn
derſelbe nicht durch
Kundſchafter von der Nie⸗
derlage, die
der Prinz bei Muͤhlberg erlitten, 1680
benachrichtigt worden waͤre, und ſomit fuͤr rath⸗
ſamer gehalten haͤtte, gleichfalls,
bis auf einen
beſſeren Zeitpunct, nach
Wittenberg zuruͤckzu⸗
kehren. Fuͤnf Tage, nach Zerſprengung dieſer
beiden Haufen, ſtand er vor Leipzig, und
ſteckte 1685
die Stadt an drei Seiten in Brand.
— Er nannte
ſich
in dem Mandat, das er, bei dieſer Gele⸗
genheit, ausſtreute, „einen Statthalter
Michaels,
des Erzengels, der gekommen ſey,
an Allen,
die in dieſer Streitſache des
Junkers Parthei 1690
ergreifen wuͤrden, mit
Feuer und Schwerdt, die
Argliſt, in welcher
die ganze Welt verſunken ſey,
zu
beſtrafen.“ Dabei rief er, von dem
Luͤtzner
Schloß aus, das er uͤberrumpelt,
und worin
er ſich feſtgeſetzt hatte, das
Volk auf, ſich, zur 1695
75FaksimileErrichtung einer beſſeren Ordnung der Dinge,
an ihn anzuſchließen; und das Mandat war,
mit einer Art von Verruͤckung,
unterzeichnet:
„Gegeben auf dem Sitz
unſerer proviſoriſchen
Weltregierung, dem
Erzſchloſſe zu Luͤtzen.“ Das 1700
Gluͤck der Einwohner von Leipzig wollte,
daß
das Feuer, wegen eines anhaltenden
Regens
der vom Himmel fiel, nicht um ſich
griff, der⸗
geſtalt, daß bei der
Schnelligkeit der beſtehenden
Loͤſchanſtalten, nur einige Kramlaͤden, die um 1705
die Pleißenburg lagen, in Flammen
aufloderten.
Gleichwohl war die Beſtuͤrzung in der Stadt,
uͤber das Daſeyn des raſenden
Mordbrenners,
und den Wahn, in welchem
derſelbe ſtand, daß
der Junker in Leipzig
ſey, unausſprechlich; und 1710
da ein Haufen von
hundert und achtzig Reiſigen,
den man gegen
ihn ausſchickte, zerſprengt in die
Stadt
zuruͤckkam: ſo blieb dem Magiſtrat, der
den
Reichthum der Stadt nicht ausſetzen wollte,
nichts anderes uͤbrig, als die Thore gaͤnzlich zu 1715
ſperren, und die Buͤrgerſchaft Tag und
Nacht,
außerhalb der Mauern, wachen zu
laſſen. Ver⸗
gebens ließ der Magiſtrat, auf den Doͤrfern
der
76Faksimileumliegenden Gegend,
Deklarationen anheften,
mit der beſtimmten
Verſicherung, daß der Jun⸗1720
ker nicht in der
Pleißenburg ſey; der Roßkamm,
in aͤhnlichen
Blaͤttern, beſtand darauf, daß er
in der
Pleißenburg ſey, und erklaͤrte, daß, wenn
derſelbe nicht darin befindlich waͤre, er minde⸗
ſtens verfahren wuͤrde, als ob er
darin waͤre, 1725
bis man ihm den Ort, mit Namen
genannt,
werde angezeigt haben, worin er
befindlich ſey.
Der Kurfuͤrſt, durch einen Eilboten, von der
Noth, in welcher ſich die Stadt Leipzig
befand,
benachrichtigt, erklaͤrte, daß er
bereits einen 1730
Heerhaufen von zweitauſend
Mann zuſammen⸗
zoͤge, und ſich
ſelbſt an deſſen Spitze ſetzen wuͤr⸗
de, um
den Kohlhaas zu fangen. Er ertheilte
dem Herrn Otto von Gorgas einen
ſchweren
Verweis, wegen der zweideutigen
und unuͤber⸗1735
legten Liſt, die er
angewendet, um des Mord⸗
brenners
aus der Gegend von Wittenberg loszu⸗
werden; und niemand beſchreibt die
Verwirrung,
die ganz Sachſen und
insbeſondere die Reſidenz
ergriff, als man
daſelbſt erfuhr, daß, auf den 1740
Doͤrfern bei
Leipzig, man wußte nicht von wem,
77Faksimileeine Deklaration an den Kohlhaas
angeſchlagen
worden ſey, des Inhalts:
„Wenzel, der Jun⸗
ker, befinde ſich bei
ſeinen Vettern Hinz und
Kunz, in Dresden.“
1745
Unter dieſen Umſtaͤnden uͤbernahm der
Doctor Martin Luther das Geſchaͤft, den
Kohl⸗
haas, durch die Kraft
beſchwichtigender Worte,
von dem Anſehn,
das ihm ſeine Stellung in
der Welt gab,
unterſtuͤtzt, in den Damm der 1750
menſchlichen
Ordnung zuruͤckzudruͤcken, und auf
ein
tuͤchtiges Element in der Bruſt des Mord⸗
brenners bauend, erließ er ein Placat
folgenden
Inhalts an ihn, das in allen
Staͤdten und Flek⸗
kenFlecken des
Kurfuͤrſtenthums angeſchlagen ward:1755
„Kohlhaas, der du dich geſandt zu ſeyn
vor⸗
giebſt, das Schwerdt der
Gerechtigkeit
zu handhaben, was
unterfaͤngſt du
dich, Vermeſſener,
ihm
im
Wahnſinn ſtock⸗
blinder
Leidenſchaft, du, den Ungerech⸗1760
tigkeit
ſelbſt, vom Wirbel bis zur Sohle
erfuͤllt?
Weil der Landesherr dir, dem
du unterthan biſt, dein Recht
verwei⸗
gert hat, dein Recht in
dem Streit um
78Faksimileein
nichtiges Gut, erhebſt du dich, Heil⸗1765
loſer, mit Feuer und Schwerdt, und
brichſt, wie der Wolf der Wuͤſte, in die
friedliche Gemeinheit, die er
beſchirmt.
Du,
der die Menſchen mit dieſer An⸗
gabe, voll
Unwahrhaftigkeit und Argliſt, 1770
verfuͤhrt:
meinſt du, Suͤnder, vor Gott
dereinſt, an
dem Tage, der in die Fal⸗
ten aller Herzen ſcheinen
wird, damit
auszukommen? Wie kannſt du ſagen,
daß dir dein Recht verweigert worden 1775
iſt,
du, deſſen grimmige Bruſt, vom
Kitzel
ſchnoͤder Selbſtrache gereizt, nach
den
erſten, leichtfertigen Verſuchen, die
dir
geſcheitert, die Bemuͤhung gaͤnzlich
aufgegeben hat, es dir zu verſchaffen? 1780
Iſt eine Bank voll Gerichtsdienern und
Schergen, die einen Brief, der ge⸗
bracht
wird, unterſchlagen, oder ein Er⸗
kenntniß,
das ſie abliefern ſollen, zu⸗
ruͤckhalten, deine Obrigkeit? Und muß 1785
ich dir ſagen,
Gottvergeſſener, daß deine
Obrigkeit von
deiner Sache nichts weiß —
79Faksimilewas ſag ich? daß der Landesherr, gegen
den du dich auflehnſt, auch deinen
Na⸗
men nicht kennt,
dergeſtalt, daß wenn 1790
dereinſt du vor Gottes
Thron trittſt, in
der Meinung, ihn
anzuklagen, er, hei⸗
teren Antlitzes, wird
ſprechen koͤnnen:
dieſem Mann, Herr, that
ich kein Un⸗
recht,
den
denn
ſein Daſeyn iſt meiner Seele 1795
fremd?
Das Schwerdt, wiſſe, das
du fuͤhrſt, iſt das Schwerdt des Raubes
und der Mordluſt, ein Rebell biſt du
und kein Krieger des gerechten
Gottes,
und dein Ziel auf Erden iſt Rad und
1800
Galgen, und jenſeits die Verdammniß,
die uͤber die Miſſethat und die
Gottloſig⸗
keit verhaͤngt iſt.
Wittenberg, u. s. w.
Martin Luther.“1805
Kohlhaas waͤlzte eben, auf dem Schloſſe zu
Luͤtzen, einen neuen Plan, Leipzig
einzuaͤſchern,
in ſeiner zerriſſenen Bruſt
herum: — denn auf
die, in den Doͤrfern
angeſchlagene Nachricht,
daß der Junker
Wenzel in Dresden ſey, gab er 1810
80Faksimilenichts, weil ſie von Niemand, geſchweige denn
vom Magiſtrat, wie er verlangt hatte,
unter⸗
ſchrieben war: — als
Sternbald und Waldmann
das Placat, das, zur
Nachtzeit, an den Thor⸗
weg des Schloſſes,
angeſchlagen worden war, 1815
zu ihrer großen
Beſtuͤrzung, bemerkten. Ver⸗
gebens hofften ſie, durch mehrere
Tage, daß
Kohlhaas, den ſie nicht gern
deshalb antreten
wollten, es erblicken
wuͤrde; finſter und in ſich
gekehrt, in der
Abendſtunde erſchien er zwar, 1820
aber bloß, um
ſeine kurzen Befehle zu geben,
und ſah
nichts: dergeſtalt, daß ſie an einem
Morgen, da er ein Paar Knechte, die in der
Gegend, wieder ſeinen Willen, gepluͤndert hat⸗
ten, aufknuͤpfen laſſen wollte, den
Entſchluß 1825
faßten, ihn darauf aufmerkſam zu
machen. Eben
kam
er, waͤhrend das Volk von beiden Seiten
ſchuͤchtern auswich, in dem Aufzuge, der ihm,
ſeit ſeinem letzten Mandat, gewoͤhnlich
war,
von dem Richtplatz zuruͤck: ein großes
Cherubs⸗1830
ſchwerdt, auf einem
rothledernen Kiſſen, mit
Quaſten von Gold
verziert, ward ihm vorange⸗
tragen,
und zwoͤlf Knechte, mit brennenden
Fackeln81FaksimileFackeln folgten ihm: da traten die beiden
Maͤnner, ihre Schwerdter unter dem Arm,
ſo, 1835
daß es ihn befremden mußte, um den
Pfeiler,
an welchen das Placat angeheftet
war, herum.
Kohlhaas, als er, mit auf dem Ruͤcken zuſam⸗
mengelegten Haͤnden, in
Gedanken vertieft, un⸗
ter das Portal kam, ſchlug
die Augen auf und 1840
ſtutzte; und da die
Knechte, bei ſeinem Anblick,
ehrerbietig
auswichen: ſo trat er, indem er ſie
zerſtreut anſah, mit einigen raſchen Schritten,
an den Pfeiler heran. Aber wer beſchreibt, was
in ſeiner Seele vorging, als er das Blatt, deſſen 1845
Inhalt ihn der Ungerechtigkeit zieh,
daran er⸗
blickte: unterzeichnet von
dem theuerſten und
verehrungswuͤrdigſten
Namen, den er kannte,
von dem Namen Martin
Luthers! Eine dunkle
Roͤthe ſtieg in ſein Antlitz empor; er
durchlas 1850
es, indem er den Helm abnahm,
zweimal von
Anfang bis zu Ende; wandte
ſich, mit unge⸗
wiſſen Blicken, mitten
unter die Knechte zuruͤck,
als ob er etwas
ſagen wollte, und ſagte nichts;
loͤſte das
Blatt von der Wand los, durchlas 1855
es noch
einmal; und rief: Waldmann! laß
Kleiſts Erzaͤhl. F82Faksimilemir
mein Pferd ſatteln! ſodann: Sternbald!
folge mir ins Schloß! und verſchwand. Mehr als
dieſer wenigen
Worte bedurfte es nicht, um ihn,
in der
ganzen Verderblichkeit, in der er daſtand, 1860
ploͤtzlich zu entwaffnen. Er warf
ſich in die Ver⸗
kleidung eines
thuͤringiſchen Landpaͤchters; ſagte
Sternbald, daß ein Geſchaͤft, von bedeutender
Wichtigkeit, ihn nach Wittenberg zu
reiſen noͤ⸗
thige; uͤbergab ihm, in
Gegenwart einiger der 1865
vorzuͤglichſten
Knechte, die Anfuͤhrung des in
Luͤtzen
zuruͤckbleibenden Haufens; und zog, un⸗
ter der
Verſicherung, daß er in drei Tagen,
binnen
welcher Zeit kein Angriff zu fuͤrchten ſey,
wieder zuruͤck ſeyn werde, nach Wittenberg ab. 1870
Er kehrte, unter einem fremden Namen, in
ein Wirthshaus ein, wo er, ſobald die
Nacht
angebrochen war, in ſeinem Mantel,
und mit
einem Paar Piſtolen verſehen, die
er in der Tron⸗
kenburg erbeutet hatte,
zu Luthern ins Zimmer 1875
trat. Luther, der unter Schriften und Buͤchern an
ſeinem Pulte ſaß, und den fremden,
beſonderen
Mann die Thuͤr oͤffnen und
hinter ſich verriegeln
ſah, fragte ihn: wer
er ſey? und was er wolle?
83Faksimileund der Mann, der ſeinen Huth ehrerbietig in 1880
der Hand hielt, hatte nicht ſobald, mit
dem
ſchuͤchternen Vorgefuͤhl des
Schreckens, den er
verurſachen wuͤrde,
erwiedert: daß er Michael
Kohlhaas, der
Roßhaͤndler ſey; als Luther
ſchon: weiche
fern hinweg! ausrief, und indem 1885
er, vom
Pult erſtehend, nach einer Klingel eilte,
hinzuſetzte: dein Odem iſt Peſt und deine Naͤhe
Verderben! Kohlhaas, indem er, ohne ſich vom
Platz zu
regen, ſein Piſtol zog, ſagte: Hoch⸗
wuͤrdiger Herr, dies Piſtol, wenn ihr
die Klin⸗1890
gel ruͤhrt, ſtreckt mich leblos zu
euren Fuͤßen
nieder! Setzt euch und hoͤrt
mich an; unter den
Engeln, deren Pſalmen
ihr aufſchreibt, ſeyd
ihr nicht ſicherer,
als bei mir. Luther, indem
er ſich niederſetzte, fragte: was willſt
du? Kohl⸗1895
haas
erwiederte: eure Meinung von mir, daß
ich
ein ungerechter Mann ſey, widerlegen! Ihr
habt mir in eurem Placat geſagt, daß
meine
Obrigkeit von meiner Sache nichts
weiß: wohl⸗
an, verſchafft mir freies Geleit, ſo
gehe ich nach 1900
Dresden, und lege ſie ihr
vor. „Heilloſer und
entſetzlicher Mann!“ rief Luther, durch
dieſe
F 284Faksimile
Worte verwirrt zugleich und beruhigt: „wer gab
dir das Recht, den Junker von Tronka, in
Verfolg eigenmaͤchtiger
Rechtsſchluͤſſe, zu uͤber⸗1905
fallen, und
da du ihn auf ſeiner Burg nicht
fandſt mit
Feuer und Schwerdt die ganze Ge⸗
meinſchaft
heimzuſuchen, die ihn beſchirmt?“
Kohlhaas erwiderte: hochwuͤrdiger Herr,
nie⸗
mand, fortan! Eine Nachricht, die ich aus 1910
Dresden erhielt, hat mich getaͤuſcht,
mich ver⸗
fuͤhrt! Der
Krieg, den ich mit der Gemeinheit
der
Menſchen fuͤhre, iſt eine Miſſethat, ſobald
ich aus ihr nicht, wie ihr mir die Verſicherung
gegeben habt, verſtoßen war! Verſtoßen! rief 1915
Luther,
indem er ihn anſah. Welch eine
Ra⸗
ſerei der Gedanken ergriff
dich? Wer haͤtte dich
aus der Gemeinſchaft des Staats, in
welchem
du lebteſt, verſtoßen? Ja, wo iſt, ſo lange
Staaten beſtehen, ein Fall, daß jemand, wer 1920
es auch ſey, daraus verſtoßen worden
waͤre? —
Verſtoßen, antwortete Kohlhaas, indem er die
Hand zuſammendruͤckte, nenne ich den, dem
der
Schutz der Geſetze verſagt iſt! Denn dieſes
Schutzes,
zum Gedeihen meines friedlichen Ge⸗1925
85Faksimilewerbes, bedarf ich; ja, er
iſt es, deſſenhalb
ich mich, mit dem Kreis
deſſen, was ich er⸗
worben, in dieſe
Gemeinſchaft fluͤchte; und wer
mir ihn
verſagt, der ſtoͤßt mich zu den Wilden
der
Einoͤde hinaus; er giebt mir, wie wollt ihr das 1930
leugnen, die Keule, die mich ſelbſt
ſchuͤtzt, in die
Hand. — Wer hat dir den Schutz der Geſetze ver⸗
ſagt? rief Luther. Schrieb ich dir nicht, daß die
Klage, die du eingereicht, dem
Landesherrn,
dem du ſie eingereicht, fremd
iſt? Wenn Staats⸗1935
diener hinter ſeinem Ruͤcken
Prozeſſe unterſchla⸗
gen, oder ſonſt
ſeines geheiligten Namens, in ſei⸗
ner
Unwiſſenheit, ſpotten; wer anders als Gott
darf ihn wegen der Wahl ſolcher Diener zur Re⸗
chenſchaft ziehen, und biſt
du, gottverdammter 1940
und entſetzlicher
Menſch, befugt, ihn deshalb zu
richten? —
Wohlan, verſetzte Kohlhaas, wenn
mich der Landesherr nicht verſtoͤßt, ſo
kehre ich
auch wieder in die Gemeinſchaft,
die er beſchirmt,
zuruͤck. Verſchafft mir, ich wiederhol’ es, freies
1945
Geleit nach Dresden: ſo laſſe ich den
Haufen,
den ich im Schloß zu Luͤtzen
verſammelt, aus⸗
einander gehen, und bringe
die Klage, mit der
86Faksimileich
abgewieſen worden bin, noch einmal bei dem
Tribunal des Landes vor. — Luther,
mit einem 1950
verdrießlichen Geſicht, warf die
Papiere, die
auf ſeinem Tiſch lagen,
uͤbereinander, und ſchwieg.
Die trotzige Stellung, die dieſer ſeltſame
Menſch
im Staat einnahm, verdroß ihn; und
den
Rechtsſchluß, den er, von
Kohlhaaſenbruͤck aus, 1955
an den Junker
erlaſſen, erwaͤgend, fragte er:
was er denn
von dem Tribunal zu Dresden ver⸗
lange? Kohlhaas antwortete: Beſtrafung des
Junkers, den Geſetzen gemaͤß;
Wiederherſtel⸗
lung
der Pferde in den vorigen Stand; und Er⸗1960
ſatz des
Schadens, den ich ſowohl, als mein bei
Muͤhlberg gefallener Knecht Herſe, durch die
Gewaltthat, die man an uns veruͤbte,
erlitten.
—
Luther rief: Erſatz des Schadens! Summen
zu Tauſenden, bei Juden und
Chriſten, auf 1965
Wechſeln und Pfaͤndern, haſt
du, zur Beſtrei⸗
tung deiner wilden
Selbſtrache, aufgenommen.
Wirſt du den Werth auch, auf der Rechnung,
wenn es zur Nachfrage kommt,
anſetzen? —
Gott
behuͤte! erwiderte Kohlhaas. Haus und
1970
Hof, und den Wohlſtand, den ich
beſeſſen, for⸗
87Faksimiledere ich nicht
zuruͤck; ſo wenig als die Koſten des
Begraͤbniſſes meiner Frau! Herſens
alte Mut⸗
ter wird eine Berechnung der
Heilkoſten, und
eine Specification deſſen,
was ihr Sohn in der 1975
Tronkenburg eingebuͤßt,
beibringen; und den
Schaden, den ich wegen
Nichtverkaufs der Rap⸗
pen erlitten, mag die
Regierung durch einen
Sachverſtaͤndigen
abſchaͤtzen laſſen. — Luther
ſagte: raſender, unbegreiflicher und
entſetzlicher 1980
Menſch! und ſah ihn an.
Nachdem dein
Schwerdt ſich, an dem Junker, Rache, die
grimmigſte, genommen, die ſich erdenken laͤßt:
was treibt dich, auf ein Erkenntniß gegen
ihn zu
beſtehen, deſſen Schaͤrfe, wenn es
zuletzt faͤllt, 1985
ihn mit einem Gewicht von
ſo geringer Erheb⸗
lichkeit nur trifft? —
Kohlhaas erwiederte, in⸗
dem ihm eine Thraͤne uͤber die Wangen
rollte:
hochwuͤrdiger Herr! es hat mich
meine Frau ge⸗
koſtet; Kohlhaas will der
Welt zeigen, daß ſie 1990
in keinem ungerechten
Handel umgekommen iſt.
Fuͤgt euch in dieſen Stuͤcken meinem Willen,
und laßt den Gerichtshof ſprechen; in
allem An⸗
deren, was ſonſt noch ſtreitig ſeyn
mag, fuͤge
88Faksimileich mich
euch. — Luther ſagte: ſchau her, 1995
was du forderſt, wenn anders die
Umſtaͤnde
ſo ſind, wie die oͤffentliche
Stimme hoͤren
laͤßt, iſt gerecht; und
haͤtteſt du den Streit,
bevor du
eigenmaͤchtig zur Selbſtrache geſchrit⸗
ten, zu des Landesherrn Entſcheidung zu
brin⸗2000
gen gewußt, ſo waͤre dir
deine Forderung,
zweifle ich nicht, Punkt
vor Punkt bewilligt
worden. Doch haͤtteſt du nicht, Alles wohl
erwogen, beſſer gethan, du haͤtteſt, um
dei⸗
nes Erloͤſers willen, dem
Junker vergeben, 2005
die Rappen, duͤrre und
abgehaͤrmt, wie ſie
waren, bei der Hand
genommen, dich aufge⸗
ſetzt, und zur
Dickfuͤtterung in deinen Stall
nach
Kohlhaaſenbruͤck heimgeritten? — Kohl⸗
haas antwortete: kann
ſeyn! indem er ans Fen⸗2010
ſter trat: kann ſeyn, auch
nicht! Haͤtte ich ge⸗
wußt, daß ich ſie mit Blut aus dem
Herzen
meiner lieben Frau wuͤrde auf die
Beine brin⸗
gen muͤſſen: kann ſeyn, ich haͤtte
gethan, wie
ihr geſagt, hochwuͤrdiger Herr,
und einen 2015
Scheffel Hafer nicht geſcheut!
Doch, weil ſie
mir einmal ſo theuer zu ſtehen gekommen ſind,
89Faksimileſo habe es denn,
meine ich, ſeinen Lauf: laßt
das
Erkenntniß, wie es mir zukoͤmmt, ſprechen,
und den Junker mir die Rappen auffuͤttern. — — 2020
Luther ſagte, indem er,
unter mancherlei Ge⸗
danken, wieder zu ſeinen
Papieren griff: er
wolle mit dem
Kurfuͤrſten ſeinethalben in Unter⸗
handlung
treten. Inzwiſchen moͤgte er ſich,
auf dem Schloſſe zu Luͤtzen, ſtill
halten; wenn 2025
der Herr ihm freies Geleit
bewillige, ſo werde
man es ihm auf dem Wege
oͤffentlicher Anplak⸗
kungAnplackung bekannt machen. — Zwar, fuhr er fort,
da
Kohlhaas ſich herabbog, um ſeine Hand zu
kuͤſſen: ob der Kurfuͤrſt Gnade fuͤr Recht ergehen 2030
laſſen wird, weiß ich nicht; denn einen
Heer⸗
haufen, vernehm’ ich, zog
er zuſammen, und
ſteht im Begriff, dich im
Schloſſe zu Luͤtzen
aufzuheben: inzwiſchen,
wie ich dir ſchon geſagt
habe, an meinem
Bemuͤhen ſoll es nicht liegen. 2035
Und damit ſtand er auf, und machte Anſtalt,
ihn zu entlaſſen. Kohlhaas meinte, daß ſeine
Fuͤrſprache ihn uͤber dieſen Punkt
voͤllig beruhige;
worauf Luther ihn mit der
Hand gruͤßte, jener
aber ploͤtzlich ein
Knie vor ihm ſenkte und ſprach: 2040
90Faksimileer habe noch eine Bitte auf ſeinem Herzen. Zu
Pfingſten naͤmlich,
wo er an den Tiſch des
Herrn zu gehen
pflege, habe er die Kirche, die⸗
ſer ſeiner
kriegeriſchen
Unternehmung
wegen,
verſaͤumt; ob er die
Gewogenheit haben wolle, 2045
ohne weitere
Vorbereitung, ſeine Beichte zu em⸗
pfangen, und
ihm, zur Auswechſelung dagegen,
die
Wohlthat des heiligen Sakraments zu erthei⸗
len?
Luther, nach einer kurzen Beſinnung,
in⸗
dem er ihn ſcharf anſah,
ſagte: ja, Kohlhaas, 2050
das will ich thun!
Der Herr aber, deſſen Leib
du begehrſt, vergab ſeinem Feind. —
Willſt du,
ſetzte er, da jener ihn betreten anſah, hinzu,
dem Junker, der dich beleidigt hat,
gleichfalls
vergeben: nach der Tronkenburg
gehen, dich auf 2055
deine Rappen ſetzen, und
ſie zur Dickfuͤtterung
nach
Kohlhaaſenbruͤck heimreiten? — „Hochwuͤr⸗
diger Herr,“ ſagte
Kohlhaas erroͤthend, indem
er ſeine Hand
ergriff, — nun? — „der Herr
auch vergab
allen ſeinen Feinden nicht. Laßt 2060
mich den Kurfuͤrſten, meinen beiden
Herren,
dem Schloßvoigt und Verwalter, den
Herren
Hinz und Kunz, und wer mich ſonſt in
dieſer
91FaksimileSache gekraͤnkt
haben mag, vergeben: den Jun⸗
ker aber, wenn
es ſeyn kann, noͤthigen, daß er 2065
mir die
Rappen wieder dick fuͤttere.“ — Bei
die⸗
ſen Worten kehrte ihm
Luther, mit einem miß⸗
vergnuͤgten Blick, den Ruͤcken zu, und zog
die
Klingel. Kohlhaas, waͤhrend, dadurch herbei⸗
gerufen, ein Famulus ſich mit Licht
in dem Vor⸗2070
ſaal meldete, ſtand betreten, indem er
ſich die
Augen trocknete, vom Boden auf;
und da der
Famulus vergebens, weil der
Riegel vorgeſcho⸗
ben war, an der
Thuͤre wirkte, Luther aber ſich
wieder zu
ſeinen Papieren niedergeſetzt hatte: ſo 2075
machte Kohlhaas dem Mann die Thuͤre auf.
Luther, mit einem
kurzen, auf den fremden
Mann gerichteten
Seitenblick, ſagte dem Fa⸗
mulus: leuchte!
worauf dieſer, uͤber den Beſuch,
den er
erblickte, ein wenig befremdet, den Haus⸗2080
ſchluͤſſel von der Wand nahm, und
ſich, auf die
Entfernung desſelben wartend,
unter die halb⸗
offene Thuͤr des Zimmers
zuruͤckbegab. — Kohl⸗
haas ſprach, indem er ſeinen Huth
bewegt zwi⸗
ſchen beide Haͤnde nahm:
und ſo kann ich, hoch⸗2085
wuͤrdigſter Herr, der Wohlthat verſoͤhnt zu
wer⸗
92Faksimileden, die
ich mir von euch erbat, nicht theilhaftig
werden? Luther antwortete kurz:
deinem Hei⸗
land, nein; dem Landesherrn, — das
bleibt einem
Verſuch, wie ich dir
verſprach, vorbehalten! 2090
Und damit winkte er dem Famulus, das
Ge⸗
ſchaͤft, das er ihm
aufgetragen, ohne weiteren
Aufſchub,
abzumachen. Kohlhaas legte, mit
dem Ausdruck ſchmerzlicher Empfindung,
ſeine
beiden Haͤnde auf die Bruſt; folgte
dem Mann, 2095
der ihm die Treppe hinunter
leuchtete, und ver⸗
ſchwand.
Am anderen Morgen erließ Luther ein Send⸗
ſchreiben an den Kurfuͤrſten von
Sachſen, wor⸗
in er, nach einem bitteren Seitenblick
auf die 2100
ſeine Perſon umgebenden Herren Hinz
und
Kunz, Kaͤmmerer und Mundſchenk von
Tronka,
welche die Klage, wie allgemein
bekannt war,
untergeſchlagen hatten, dem
Herrn, mit der
Freimuͤthigkeit, die ihm
eigen war, eroͤffnete, 2105
daß bei ſo
aͤrgerlichen Umſtaͤnden, nichts An⸗
deres
zu thun uͤbrig ſey, als den Vorſchlag des
Roßhaͤndlers anzunehmen, und ihm des Vorge⸗
fallenen wegen, zur Erneuerung
ſeines Pro⸗
93Faksimilezeſſes,
Amneſtie zu ertheilen. Die
oͤffentliche 2110
Meinung, bemerkte er, ſey auf
eine hoͤchſt ge⸗
faͤhrliche Weiſe, auf
dieſes Mannes Seite, der⸗
geſtalt, daß
ſelbſt in dem dreimal von ihm einge⸗
aͤſcherten Wittenberg, eine Stimme
zu ſeinem
Vortheil ſpreche; und da er ſein
Anerbieten, 2115
falls er damit abgewieſen
werden ſollte, unfehl⸗
bar, unter gehaͤſſigen
Bemerkungen, zur Wiſ⸗
ſenſchaft
des Volks bringen wuͤrde, ſo koͤnne
dasſelbe leicht in dem Grade verfuͤhrt werden,
daß mit der Staatsgewalt gar nichts mehr
gegen 2120
ihn auszurichten ſey. Er ſchloß, daß man, in
dieſem außerordentlichen Fall, uͤber die Bedenk⸗
lichkeit, mit einem Staatsbuͤrger,
der die Waf⸗
fen ergriffen, in Unterhandlung zu
treten, hin⸗
weggehen muͤſſe; daß
derselbe in der That durch 2125
das Verfahren,
das man gegen ihn beobachtet,
auf gewiſſe
Weiſe außer der Staatsverbindung
geſetzt
worden ſey; und kurz, daß man ihn, um
aus
dem Handel zu kommen, mehr als eine
fremde,
in das Land gefallene Macht, wozu er 2130
ſich
auch, da er ein Auslaͤnder ſey, gewiſſer⸗
maßen qualifizire, als einen Rebellen,
der ſich
94Faksimilegegen den
Thron auflehne, betrachten muͤſſe. —
Der Kurfuͤrſt erhielt dieſen Brief eben, als
der
Prinz Chriſtiern von Meißen,
Generaliſſimus 2135
des Reichs, Oheim des bei
Muͤhlberg geſchlagenen
und an ſeinen Wunden
noch daniederliegenden
Prinzen Friedrich
von Meißen; der Großkanzler
des Tribunals,
Graf Wrede; Graf Kallheim,
Praͤſident der
Staatskanzlei; und die beiden 2140
Herren Hinz
und Kunz von Tronka, dieſer
Kaͤmmerer,
jener Mundſchenk, die Jugend⸗
freunde
und Vertrauten des Herrn, in dem
Schloſſe
gegenwaͤrtig waren. Der Kaͤmmerer,
Herr Kunz, der, in der Qualitaͤt
eines Geheimen⸗2145
raths, des Herrn
geheime Correſpondenz, mit der
Befugniß,
ſich ſeines Namens und Wappens zu
bedienen,
beſorgte, nahm zuerſt das Wort, und
nachdem
er noch einmal weitlaͤufig auseinander
gelegt hatte, daß er die Klage, die der Roßhaͤnd⸗2150
ler gegen den Junker, ſeinen
Vetter, bei dem
Tribunal eingereicht,
nimmermehr durch eine
eigenmaͤchtige
Verfuͤgung niedergeſchlagen haben
wuͤrde,
wenn er ſie nicht, durch falſche Anga⸗
ben
verfuͤhrt, fuͤr eine voͤllig grundloſe und 2155
95Faksimilenichtsnutzige Plackerei gehalten
haͤtte, kam er
auf die gegenwaͤrtige Lage
der Dinge. Er be⸗
merkte, daß, weder nach goͤttlichen
noch menſch⸗
lichen Geſetzen, der
Roßkamm, um dieſes Miß⸗
griffs
willen, befugt geweſen waͤre, eine ſo un⸗2160
geheure Selbſtrache, als er ſich erlaubt,
auszu⸗
uͤben; ſchilderte den
Glanz, der durch eine Ver⸗
handlung
mit demſelben, als einer rechtlichen
Kriegsgewalt, auf ſein gottverdammtes Haupt
falle; und die Schmach, die dadurch auf
die ge⸗2165
heiligte Perſon des Kurfuͤrſten
zuruͤckſpringe,
ſchien ihm ſo
unertraͤglich, daß er, im Feuer
der
Beredtſamkeit, lieber das Aeußerſte erleben,
den Rechtsſchluß des raſenden Rebellen erfuͤllt,
und den Junker, ſeinen Vetter, zur
Dickfuͤtte⸗2170
rung der Rappen
nach Kohlhaaſenbruͤck abge⸗
fuͤhrt
ſehen, als den Vorſchlag, den der Doctor
Luther gemacht, angenommen wiſſen wollte.
Der Großkanzler des
Tribunals, Graf Wrede,
aͤußerte, halb zu
ihm gewandt, ſein Bedauern, 2175
daß eine ſo
zarte Sorgfalt, als er, bei der Auf⸗
loͤſung dieſer allerdings mißlichen Sache,
fuͤr den
Ruhm des Herrn zeige, ihn nicht,
bei der erſten
96FaksimileVeranlaſſung derſelben, erfuͤllt haͤtte. Er ſtellte
dem
Kurfuͤrſten ſein Bedenken vor, die Staats⸗2180
gewalt, zur Durchſetzung einer offenbar
unrecht⸗
lichen Maßregel, in
Anſpruch zu nehmen; be⸗
merkte, mit
einem bedeutenden Blick auf den
Zulauf, den
der Roßhaͤndler fortdauernd im
Lande fand,
daß der Faden der Frevelthaten ſich 2185
auf
dieſe Weiſe ins Unendliche fortzuſpinnen
drohe, und erklaͤrte, daß nur ein ſchlichtes Recht⸗
thun, indem man unmittelbar und
ruͤckſichtslos
den Fehltritt, den man ſich
zu Schulden kommen
laſſen, wieder gut
machte, ihn abreißen und die 2190
Regierung
gluͤcklich aus dieſem haͤßlichen Handel
herausziehen koͤnne. Der Prinz
Chriſtiern von
Meißen, auf die Frage des
Herrn, was er da⸗
von halte? aͤußerte, mit
Verehrung gegen den
Großkanzler gewandt:
die Denkungsart, die er 2195
an den Tag lege,
erfuͤlle ihn zwar mit dem groͤ⸗
ßeſten
Reſpect; indem er aber dem Kohlhaas zu
ſeinem Recht verhelfen wolle, bedenke er nicht,
daß er Wittenberg und Leipzig, und das
ganze
durch ihn mißhandelte Land, in ſeinem
gerech⸗2200
ten Anſpruch auf
Schadenerſatz, oder wenigſtens
Beſtraf-97FaksimileBeſtrafung, beeintraͤchtige. Die Ordnung des
Staats
ſey, in Beziehung auf dieſen Mann,
ſo
verruͤckt, daß man ſie ſchwerlich durch einen
Grundſatz, aus der Wiſſenſchaft des
Rechts ent⸗2205
lehnt, werde einrenken
koͤnnen. Daher ſtimme
er, nach der Meinung des Kaͤmmerers,
dafuͤr,
das Mittel, das fuͤr ſolche Faͤlle
eingeſetzt ſey,
ins Spiel zu ziehen: einen
Kriegshaufen, von
hinreichender Groͤße
zuſammenzuraffen, und 2210
den Roßhaͤndler, der
in Luͤtzen aufgepflanzt ſey,
damit
aufzuheben oder zu erdruͤcken. Der
Kaͤm⸗
merer, indem er fuͤr ihn
und den Kurfuͤrſten
Stuͤhle von der Wand
nahm, und auf eine
verbindliche Weiſe ins
Zimmer ſetzte, ſagte: 2215
er freue ſich, daß
ein Mann von ſeiner Recht⸗
ſchaffenheit und Einſicht mit ihm in
dem Mit⸗
tel, dieſe Sache zweideutiger Art
beizulegen,
uͤbereinſtimme. Der Prinz, indem er den Stuhl,
ohne ſich zu ſetzen, in der Hand hielt,
und ihn an⸗2220
ſah, verſicherte ihn: daß er gar nicht
Urſache haͤt⸗
te ſich deshalb zu freuen, indem die
damit verbun⸗
dene Maßregel
nothwendig die waͤre, einen Ver⸗
haftsbefehl vorher gegen ihn zu erlaſſen,
und wegen
Kleiſts Erzaͤhl. G98FaksimileMißbrauchs des
landesherrlichen Namens den 2225
Prozeß zu
machen. Denn wenn Nothwendig⸗
keit
erfordere, den Schleier vor dem Thron der
Gerechtigkeit niederzulaſſen, uͤber eine Reihe von
Frevelthaten, die unabſehbar wie ſie ſich
fort⸗
erzeugt, vor den
Schranken desſelben zu erſchei⸗2230
nen, nicht
mehr Raum faͤnden, ſo gelte das
nicht von
der erſten, die ſie veranlaßt; und al⸗
lererſt ſeine Anklage auf Leben und Tod
koͤnne
den Staat zur Zermalmung des
Roßhaͤndlers
bevollmaͤchtigen, deſſen
Sache, wie bekannt, 2235
ſehr gerecht ſey, und
dem man das Schwerdt,
das er fuͤhre, ſelbſt
in die Hand gegeben. Der
Kurfuͤrſt, den der Junker bei dieſen
Worten
betroffen anſah, wandte ſich, indem
er uͤber das
ganze Geſicht roth ward, und
trat ans Fenſter. 2240
Der Graf Kallheim, nach einer verlegenen
Pauſe von allen Seiten, ſagte, daß man
auf
dieſe Weiſe aus dem Zauberkreiſe, in
dem man
befangen, nicht herauskaͤme. Mit demſelben
Rechte
koͤnne ſeinem Neffen, dem Prinzen 2245
Friedrich, der Prozeß gemacht werden; denn
auch er haͤtte, auf dem Streifzug ſonderbarer
99FaksimileArt, den er gegen den
Kohlhaas unternommen,
ſeine Inſtruktion auf
mancherlei Weiſe uͤber⸗
ſchritten: dergeſtalt, daß wenn man nach
der 2250
weitlaͤufigen Schaar derjenigen frage,
die die
Verlegenheit, in welcher man ſich
befinde, ver⸗
anlaßt, er gleichfalls
unter die Zahl derſelben
wuͤrde benannt,
und von dem Landesherrn we⸗
gen deſſen was
bei Muͤhlberg vorgefallen, zur 2255
Rechenſchaft
gezogen werden muͤſſen. Der
Mundſchenk, Herr Hinz von Tronka,
waͤh⸗
rend der Kurfuͤrſt mit
ungewiſſen Blicken an
ſeinen Tiſch trat,
nahm das Wort und ſagte:
er begriffe nicht,
wie der Staatsbeſchluß, der 2260
zu faſſen ſey,
Maͤnnern von ſolcher Weisheit,
als hier
verſammelt waͤren, entgehen koͤnne.
Der Roßhaͤndler habe, ſeines Wiſſens, gegen
bloß freies Geleit nach Dresden, und
erneuerte
Unterſuchung ſeiner Sache,
verſprochen, den 2265
Haufen, mit dem er in das
Land gefallen, aus⸗
einander gehen zu laſſen.
Daraus aber folge
nicht, daß man ihm, wegen dieſer frevelhaften
Selbſtrache, Amneſtie ertheilen muͤſſe:
zwei
Rechtsbegriffe, die der Doctor Luther
ſowohl,2270
G 2100Faksimileals auch der Staatsrath zu verwechſeln ſcheine.
Wenn, fuhr er
fort, indem er den Finger an
die Naſe
legte, bei dem Tribunal zu Dresden,
gleichviel wie, das Erkenntniß der Rappen we⸗
gen gefallen iſt; ſo hindert nichts,
den Kohl⸗2275
haas auf den Grund ſeiner
Mordbrennereien
und Raͤubereien
einzuſtecken: eine ſtaatskluge
Wendung, die
die Vortheile der Anſichten bei⸗
der
Staatsmaͤnner vereinigt, und des Beifalls
der Welt und Nachwelt gewiß iſt. — Der Kur⸗2280
fuͤrſt, da der Prinz ſowohl als der
Großkanzler
dem Mundſchenk, Herrn Hinz, auf
dieſe Rede
mit einem bloßen Blick
antworteten, und die
Verhandlung mithin
geſchloſſen ſchien, ſagte:
daß er die
verſchiedenen Meinungen, die ſie ihm 2285
vorgetragen, bis zur naͤchſten Sitzung des
Staatsraths bei ſich ſelbſt uͤberlegen wuͤrde. —
Es ſchien, die
Praͤliminar-Maßregel, deren
der Prinz
gedacht, hatte ſeinem fuͤr Freundſchaft
ſehr empfaͤnglichen Herzen die Luſt benommen, 2290
den Heereszug gegen den Kohlhaas, zu
welchem
ſchon Alles vorbereitet war,
auszufuͤhren. We⸗
nigſtens behielt er den
Großkanzier,
Großkanzler,
Großkanzler, [emendiert ohne Hinweis im
Kommentar]
Großkanzler, [emendiert ohne Hinweis im
Kommentar]
Grafen
101FaksimileWrede,
deſſen Meinung ihm die zweckmaͤßigſte
ſchien, bei ſich zuruͤck; und da dieſer ihm Briefe 2295
vorzeigte, aus welchen hervorging, daß
der Roß⸗
haͤndler in der That ſchon
zu einer Staͤrke von
vierhundert Mann
herangewachſen ſey; ja, bei
der allgemeinen
Unzufriedenheit, die wegen der
Unziemlichkeiten des Kaͤmmerers im Lande 2300
herrſchte, in kurzem auf eine doppelte und drei⸗
fache Staͤrke rechnen koͤnne: ſo
entſchloß ſich der
Kurfuͤrſt, ohne weiteren
Anſtand, den Rath,
den ihm der Doctor
Luther ertheilt, anzuneh⸗
men. Dem gemaͤß uͤbergab er dem Grafen 2305
Wrede die ganze Leitung der
Kohlhaaſiſchen
Sache; und ſchon nach
wenigen Tagen erſchien
ein Placat, das wir,
dem Hauptinhalt nach,
folgendermaßen
mittheilen:
„Wir
⁊c. ⁊c.
etc. etc.
etc. etc.
etc. etc.
etc. etc.
Kurfuͤrſt von Sachſen, ertheilen, 2310
in
beſonders gnaͤdiger Ruͤckſicht auf die an
Uns ergangene Fuͤrſprache des Doctors
Martin Luther, dem Michael Kohlhaas,
Roßhaͤndler aus dem Brandenburgiſchen,
unter der Bedingung, binnen drei Tagen 2315
nach Sicht die Waffen, die er ergriffen,
102Faksimileniederzulegen, Behufs einer erneuerten
Unterſuchung ſeiner Sache, freies Geleit
nach Dresden; dergeſtalt zwar, daß,
wenn
derſelbe, wie nicht zu erwarten, 2320
bei dem
Tribunal zu Dresden mit ſeiner
Klage, der
Rappen wegen, abgewieſen
werden ſollte,
gegen ihn, ſeines eigen⸗
maͤchtigen Unternehmens wegen, ſich
ſelbſt Recht zu verſchaffen, mit der
gan⸗2325
zen Strenge des Geſetzes
verfahren wer⸗
den ſolle; im
entgegengeſetzten Fall aber,
ihm mit ſeinem
ganzen Haufen, Gnade
fuͤr Recht bewilligt,
und voͤllige Amne⸗
ſtie, ſeiner in Sachſen
ausgeuͤbten Ge⸗2330
waltthaͤtigkeiten wegen, zugeſtanden
ſeyn
ſolle.“
Kohlhaas hatte nicht ſobald, durch den Doctor
Luther, ein Exemplar dieſes in allen
Plaͤtzen des
Landes angeſchlagenen Placats
erhalten, als er, ſo2335
bedingungsweiſe auch
die darin gefuͤhrte Sprache
war, ſeinen
ganzen Haufen ſchon, mit Geſchen⸗
ken,
Dankſagungen und zweckmaͤßigen Ermah⸗
nungen auseinander gehen ließ. Er legte Alles,
103Faksimilewas er an Geld, Waffen und
Geraͤthſchaften 2340
erbeutet haben mogte, bei
den Gerichten zu
Luͤtzen, als
kurfuͤrſtliches Eigenthum, nieder;
und
nachdem er den Waldmann mit Briefen,
wegen
Wiederkaufs ſeiner Meierei, wenn es
moͤglich ſey, an den Amtmann nach Kohlhaa⸗2345
ſenbruͤck, und den Sternbald zur
Abholung ſei⸗
ner Kinder, die er wieder
bei ſich zu haben
wuͤnſchte, nach Schwerin
geſchickt hatte, verließ
er das Schloß zu
Luͤtzen, und ging, unerkannt,
mit dem Reſt
ſeines kleinen Vermoͤgens, das 2350
er in
Papieren bei ſich trug, nach Dresden.
Der Tag brach eben an, und die ganze Stadt
ſchlief noch, als er an die Thuͤr der
kleinen, in
der Pirnaiſchen Vorſtadt
gelegenen Beſitzung,
die ihm durch die
Rechtſchaffenheit des Amt⸗2355
manns uͤbrig
geblieben war, anklopfte, und
Thomas, dem
alten, die Wirthſchaft fuͤhrenden
Hausmann,
der ihm mit Erſtaunen und Be⸗
ſtuͤrzung
aufmachte, ſagte: er moͤgte dem Prin⸗
zen von
Meißen auf dem Gubernium melden, 2360
daß er,
Kohlhaas der Roßhaͤndler, da waͤre.
Der Prinz von Meißen, der auf dieſe
Mel⸗
104Faksimiledung
fuͤr zweckmaͤßig hielt, augenblicklich ſich
ſelbſt von dem Verhaͤltniß, in welchem man mit
dieſem Mann ſtand, zu unterrichten, fand,
als 2365
er mit einem Gefolge von Rittern und
Troß⸗
knechten bald darauf
erſchien, in den Straßen,
die zu
Kohlhaaſens Wohnung fuͤhrten, ſchon
eine
unermeßliche Menſchenmenge verſammelt.
Die Nachricht, daß der Wuͤrgengel da
ſey, der 2370
die Volksbedruͤcker mit Feuer und
Schwerdt ver⸗
folge, hatte ganz Dresden,
Stadt und Vor⸗
ſtadt, auf die Beine
gebracht; man mußte die
Hausthuͤr vor dem
Andrang des neugierigen
Haufens verriegeln,
und die Jungen kletterten 2375
an den Fenſtern
heran, um den Mordbrenner,
der darin
fruͤhſtuͤckte, in Augenſchein zu nehmen.
Sobald der Prinz, mit Huͤlfe der ihm
Platz
machenden Wache, ins Haus gedrungen,
und
in Kohlhaaſens Zimmer getreten war,
fragte er 2380
dieſen, welcher halb entkleidet
an einem Tiſche
ſtand: ob er Kohlhaas, der
Roßhaͤndler, waͤre?
worauf Kohlhaas, indem
er eine Brieftaſche mit
mehreren uͤber ſein
Verhaͤltniß lautenden Papie⸗
ren aus ſeinem
Gurt nahm, und ihm ehrerbie⸗2385
105Faksimiletig uͤberreichte, antwortete: ja!
und hinzuſetzte:
er finde ſich nach
Aufloͤſung ſeines Kriegshau⸗
fens, der
ihm ertheilten landesherrlichen Freiheit
gemaͤß, in Dresden ein, um ſeine Klage, der
Rappen wegen, gegen den Junker Wenzel von
2390
Tronka vor Gericht zu bringen. Der Prinz,
nach einem
fluͤchtigen Blick, womit er ihn von
Kopf zu
Fuß uͤberſchaute, durchlief die in der
Brieftaſche befindlichen Papiere; ließ ſich von
ihm erklaͤren, was es mit einem von dem
Ge⸗2395
richt zu Luͤtzen
ausgeſtellten Schein, den er
darin fand,
uͤber die zu Gunſten des kurfuͤrſtli⸗
chen Schatzes gemachte
Depoſition fuͤr eine Be⸗
wandtniß
habe; und nachdem er die Art des
Mannes
noch, durch Fragen mancherlei Gat⸗2400
tung, nach
ſeinen Kindern, ſeinem Vermoͤgen
und der
Lebensart die er kuͤnftig zu fuͤhren denke,
gepruͤft, und uͤberall ſo, daß man wohl ſeinet⸗
wegen ruhig ſeyn konnte, befunden
hatte, gab
er ihm die Briefſchaften wieder,
und ſagte: daß 2405
ſeinem Prozeß nichts im Wege
ſtuͤnde, und daß
er ſich nur unmittelbar,
um ihn einzuleiten, an
den Großkanzler des
Tribunals, Grafen Wrede,
106Faksimileſelbſt wenden moͤgte. Inzwiſchen, ſagte der
Prinz, nach einer Pauſe, indem er ans
Fenſter 2410
trat, und mit großen Augen das
Volk, das vor
dem Hauſe verſammelt war,
uͤberſchaute: du
wirſt auf die erſten Tage
eine Wache annehmen
muͤſſen, die dich, in
deinem Hauſe ſowohl, als
wenn du ausgehſt,
ſchuͤtze! — — Kohlhaas ſah 2415
betroffen vor ſich nieder, und ſchwieg.
Der
Prinz ſagte:
„gleichviel!“ indem er das Fenſter
wieder
verließ.
„Was daraus entſteht, du haſt
es dir ſelbſt beizumeſſen;“ und damit
wandte er
ſich wieder nach der Thuͤr, in
der Abſicht, das 2420
Haus zu verlaſſen. Kohlhaas, der ſich beſonnen
hatte, ſprach: Gnaͤdigſter Herr! thut,
was ihr
wollt! Gebt mir euer Wort, die Wache, ſobald
ich
es wuͤnſche, wieder aufzuheben: ſo habe ich
gegen dieſe Maßregel nichts einzuwenden! Der 2425
Prinz erwiederte:
das beduͤrfe der Rede nicht;
und nachdem er
drei Landsknechten, die man
ihm zu dieſem
Zweck vorſtellte, bedeutet hatte:
daß der
Mann, in deſſen Hauſe ſie zuruͤckblie⸗
ben, frei waͤre, und daß ſie ihm
bloß zu ſei⸗2430
nem Schutz, wenn er ausginge, folgen
ſollten,
107Faksimilegruͤßte er
den Roßhaͤndler mit einer herablaſ⸗
ſenden Bewegung der Hand, und
entfernte ſich.
Gegen Mittag begab ſich Kohlhaas, von
ſeinen drei Landsknechten begleitet,
unter dem 2435
Gefolge einer unabſehbaren Menge,
die ihm
aber auf keine Weiſe, weil ſie
durch die Polizei
gewarnt war, etwas zu
Leide that, zu dem
Großkanzler des
Tribunals, Grafen Wrede.
Der Großkanzler, der ihn mit Milde und 2440
Freundlichkeit in ſeinem Vorgemach
empfing,
unterhielt ſich waͤhrend zwei
ganzer Stunden
mit ihm, und nachdem er ſich
den ganzen Ver⸗
lauf der Sache, von Anfang
bis zu Ende,
hatte erzaͤhlen laſſen, wies
er ihn, zur unmit⸗2445
telbaren Abfaſſung und
Einreichung der Klage,
an einen, bei dem
Gericht angeſtellten, beruͤhmt⸗
en Advocaten
der Stadt. Kohlhaas, ohne
weiteren Verzug, verfuͤgte ſich in deſſen
Wo⸗
hnung; und nachdem die
Klage, ganz der erſten 2450
niedergeſchlagenen
gemaͤß, auf Beſtrafung des
Junkers nach den
Geſetzen, Wiederherſtellung
der Pferde in
den vorigen Stand, und Erſatz
ſeines Schadens ſowohl,
als auch deſſen,
108Faksimileden
ſein bei Muͤhlberg gefallener Knecht Herſe 2455
erlitten hatte, zu Gunſten der alten Mutter
desſelben, aufgeſetzt war, begab er ſich
wie⸗
der, unter Begleitung des
ihn immer noch an⸗
gaffenden Volks, nach Hauſe
zuruͤck, wohl ent⸗
ſchloſſen, es anders
nicht, als nur wenn noth⸗2460
wendige
Geſchaͤfte ihn riefen, zu verlaſſen.
Inzwiſchen war auch der Junker ſeiner
Haft in Wittenberg entlaſſen, und nach
Her⸗
ſtellung von einer
gefaͤhrlichen Roſe, die ſeinen
Fuß
entzuͤndet hatte, von dem Landesgericht 2465
unter peremtoriſchen Bedingungen aufgefordert
worden, ſich zur Verantwortung auf die
von
dem Roßhaͤndler Kohlhaas gegen ihn
eingereichte
Klage, wegen widerrechtlich
abgenommener und
zu Grunde gerichteter
Rappen, in Dresden zu 2470
ſtellen. Die Gebruͤder Kaͤmmerer und Mund⸗
ſchenk von Tronka, Lehnsvettern des
Junkers,
in deren Hauſe er abtrat,
empfingen ihn mit
der groͤßeſten
Erbitterung und Verachtung; ſie
nannten ihn
einen Elenden und Nichtswuͤrdi⸗2475
gen,
der Schande und Schmach uͤber die ganze
Familie bringe, kuͤndigten ihm an, daß er ſei⸗
109Faksimilenen Prozeß
nunmehr unfehlbar verlieren wuͤrde,
und
forderten ihn auf, nur gleich zur Herbeiſchaf⸗
fung der Rappen, zu deren
Dickfuͤtterung er, 2480
zum Hohngelaͤchter der
Welt, verdammt wer⸗
den werde, Anſtalt zu
machen. Der Junker
ſagte, mit ſchwacher, zitternder Stimme:
er
ſey der bejammernswuͤrdigſte Menſch von
der
Welt. Er
verſchwor ſich, daß er von dem gan⸗2485
zen
verwuͤnſchten Handel, der ihn ins Ungluͤck
ſtuͤrze, nur wenig gewußt, und daß der Schloß⸗
voigt und der Verwalter an Allem
Schuld waͤ⸗
ren, indem ſie die Pferde, ohne ſein
entfern⸗
teſtes Wiſſen und
Wollen, bei der Ernte ge⸗2490
braucht, und
durch unmaͤßige Anſtrengungen,
zum Theil
auf ihren eigenen Feldern, zu Grunde
gerichtet haͤtten. Er ſetzte ſich,
indem er dies
ſagte, und bat ihn nicht
durch Kraͤnkungen
und Beleidigungen in das
Uebel, von dem er 2495
nur ſo eben erſt
erſtanden ſey, muthwillig zu⸗
ruͤckzuſtuͤrzen. Am andern Tage ſchrieben die
Herren Hinz und Kunz, die in der Gegend
der
eingeaͤſcherten Tronkenburg Guͤter
beſaßen, auf
Anſuchen des Junkers, ihres
Vetters, weil 2500
110Faksimiledoch
nichts anders uͤbrig blieb, an ihre dort
befindlichen Verwalter und Paͤchter, um Nach⸗
richt uͤber die an jenem
ungluͤcklichen Tage ab⸗
handen
gekommenen und ſeitdem gaͤnzlich ver⸗
ſchollenen Rappen einzuziehn. Aber Alles, was 2505
ſie bei
der gaͤnzlichen Verwuͤſtung des Platzes,
und der Niedermetzelung faſt aller Einwohner,
erfahren konnten, war, daß ein Knecht
ſie, von
den flachen Hieben des
Mordbrenners getrieben,
aus dem brennenden
Schuppen, in welchem ſie 2510
ſtanden, gerettet,
nachher aber auf die Frage,
wo er ſie
hinfuͤhren, und was er damit anfangen
ſolle, von dem grimmigen Wuͤtherich einen Fuß⸗
tritt zur Antwort erhalten habe.
Die alte, von
der Gicht geplagte Haushaͤlterin des Junkers, 2515
die ſich nach Meißen gefluͤchtet hatte,
verſicherte
demſelben, auf eine
ſchriftliche Anfrage, daß
der Knecht ſich,
am Morgen jener entſetzlichen
Nacht, mit
den Pferden nach der brandenburgi⸗
ſchen
Graͤnze gewandt habe; doch alle Nachfra⸗2520
gen,
die man daſelbſt anſtellte, waren vergeb⸗
lich, und es ſchien dieſer Nachricht ein
Irrthum
zum Grunde zu liegen, indem der
Junker keinen
111FaksimileKnecht
hatte, der im Brandenburgiſchen, oder
auch
nur auf der Straße dorthin, zu Hauſe 2525
war.
Maͤnner aus Dresden, die wenige Tage
nach dem Brande der Tronkenburg in
Wilsdruf
geweſen waren, ſagten aus, daß um
die benannte
Zeit ein Knecht mit zwei an
der Halfter gehen⸗
den Pferden dort
angekommen, und die Thiere, 2530
weil ſie ſehr
elend geweſen waͤren, und nicht wei⸗
ter fort
gekonnt haͤtten, im Kuhſtall eines
Schaͤfers, der ſie wieder haͤtte aufbringen wol⸗
len, ſtehen gelaſſen haͤtte. Es ſchien mancherlei
Gruͤnde wegen ſehr wahrſcheinlich, daß dies die 2535
in Unterſuchung ſtehenden Rappen waren;
aber
der Schaͤfer aus Wilsdruf hatte ſie,
wie Leute,
die dorther kamen, verſicherten,
ſchon wieder,
man wußte nicht an wen,
verhandelt; und ein
drittes Geruͤcht,
deſſen Urheber unentdeckt blieb, 2540
ſagte gar
aus, daß die Pferde bereits in Gott
verſchieden, und in der Knochengrube zu Wilsdruf
begraben waͤren. Die Herren Hinz und Kunz,
denen dieſe Wendung der Dinge, wie man
leicht
begreift, die erwuͤnſchteſte war,
indem ſie da⸗2545
durch, bei des Junkers
ihres Vetters Erman⸗
112Faksimilegelung eigener Staͤlle, der
Nothwendigkeit, die
Rappen in den ihrigen
aufzufuͤttern, uͤberhoben
waren, wuͤnſchten
gleichwohl, voͤlliger Sicher⸗
heit wegen,
dieſen Umſtand zu bewahrheiten. 2550
Herr Wenzel von Tronka erließ demnach, als
Erb-, Lehns- und Gerichtsherr, ein
Schrei⸗
ben an die Gerichte zu
Wilsdruf, worin er die⸗
ſelben, nach
einer weitlaͤufigen Beſchreibung der
Rappen, die, wie er ſagte, ihm anvertraut und 2555
durch einen Unfall abhanden gekommen
waͤren,
dienſtfreundlichſt erſuchte, den
dermaligen Auf⸗
enthalt derſelben zu
erforſchen, und den Eigner,
wer er auch
ſey, aufzufordern und anzuhalten,
ſie,
gegen reichliche Wiedererſtattung aller Ko⸗2560
ſten, in
den Staͤllen des Kaͤmmerers, Herrn
Kunz, zu
Dresden
abzuliefen.
abzuliefern.
Dem gemaͤß er⸗
ſchien
auch wirklich, wenige Tage darauf, der
Mann
an den ſie der Schaͤfer aus Wilsdruf
verhandelt hatte, und fuͤhrte ſie, duͤrr und wan⸗2565
kend, an die Runge ſeines Karrens
gebunden, auf
den Markt der Stadt; das
Ungluͤck aber Herrn
Wenzels, und noch mehr
des ehrlichen Kohlhaas
wollte, daß es der
Abdecker aus Doͤbbeln war.
Sobald Herr Wenzel, in Gegenwart des 2570
Kaͤmmerers, ſeines Vetters, durch ein
unbeſtimm⸗
tes Geruͤcht
vernommen hatte, daß ein Mann
mit zwei
ſchwarzen aus dem Brande der Tron⸗
kenburg
entkommenen Pferden in der Stadt an⸗
gelangt ſey, begaben ſich beide, in
Begleitung 2575
einiger aus dem Hauſe
zuſammengerafften Knech⸗
te, auf den Schloßplatz,
wo er ſtand, um ſie
demſelben, falls es die
dem Kohlhaas zugehoͤri⸗
gen waͤren, gegen
Erſtattung der Koſten abzu⸗
nehmen, und
nach Hauſe zu fuͤhren. Aber wie 2580
betreten waren die Ritter, als ſie
bereits einen,
von Augenblick zu Augenblick
ſich vergroͤßernden
Haufen von Menſchen,
den das Schauſpiel her⸗
beigezogen, um den zweiraͤdrigen Karren, an
dem die Thiere befeſtigt waren,
erblickten; un⸗2585
ter unendlichem Gelaͤchter
einander zurufend, daß
die Pferde ſchon, um
derenthalben der Staat
wanke, an den
Schinder gekommen waͤren! Der
Junker, der um den Karren herumgegangen
war, und die jaͤmmerlichen Thiere,
die alle Au⸗2590
genblicke ſterben zu wollen
ſchienen, betrachtet
hatte, ſagte verlegen:
das waͤren die Pferde
Kleiſts Erzaͤhl. H114Faksimilenicht, die er dem Kohlhaas
abgenommen; doch
Herr Kunz, der Kaͤmmerer,
einen Blick ſprach⸗
loſen Grimms voll auf
ihn werfend, der, wenn 2595
er von Eiſen geweſen
waͤre, ihn zerſchmettert
haͤtte, trat,
indem er ſeinen Mantel, Orden
und Kette
entbloͤßend, zuruͤckſchlug, zu dem Ab⸗
decker
heran, und fragte ihn: ob das die Rappen
waͤren, die der Schaͤfer von Wilsdruf an ſich 2600
gebracht, und der Junker Wenzel von
Tronka,
dem ſie gehoͤrten, bei den
Gerichten daſelbſt re⸗
quirirt
haͤtte? Der Abdecker, der, einen
Eimer
Waſſer in der Hand, beſchaͤftigt war,
einen
dicken, wohlbeleibten Gaul, der
ſeinen Karren 2605
zog, zu traͤnken, ſagte: „die
ſchwarzen?“ —
Er
ſtreifte dem Gaul, nachdem er den Eimer
niedergeſetzt, das Gebiß aus dem Maul, und
ſagte: „die Rappen, die an die Runge gebun⸗
den waͤren, haͤtte ihm der
Schweinehirte von 2610
Hainichen verkauft.
Wo der ſie her haͤtte, und
ob ſie von dem Wilsdrufer Schaͤfer
kaͤmen, das
wiſſe er nicht. Ihm haͤtte,“ ſprach er, waͤhrend
er den Eimer wieder aufnahm, und zwiſchen
Deichſel und Knie anſtemmte: „ihm
haͤtte der 2615
115FaksimileGerichtsbote aus Wilsdruf geſagt, daß er ſie
nach Dresden in das Haus derer von Tronka
bringen ſolle; aber der Junker, an
den er ge⸗
wieſen ſey, heiße Kunz.“
Bei dieſen Worten
wandte er ſich mit dem Reſt des Waſſers, den 2620
der Gaul im Eimer uͤbrig gelaſſen hatte,
und
ſchuͤttete ihn auf das Pflaſter der
Straße aus.
Der
Kaͤmmerer, der, von den Blicken der
hohnlachenden Menge umſtellt, den Kerl, der
mit empfindungsloſem Eifer ſeine
Geſchaͤfte be⸗2625
trieb, nicht bewegen
konnte, daß er ihn anſah,
ſagte: daß er der
Kaͤmmerer, Kunz von Tronka,
waͤre; die
Rappen aber, die er an ſich bringen
ſolle,
muͤßten dem Junker, ſeinem Vetter, ge⸗
hoͤren; von einem Knecht, der bei Gelegenheit 2630
des Brandes aus der Tronkenburg
entwichen, an
den Schaͤfer zu Wilsdruf
gekommen, und ur⸗
ſpruͤnglich zwei dem
Roßhaͤndler Kohlhaas zuge⸗
hoͤrige
Pferde ſeyen! Er fragte den Kerl, der
mit geſpreizten Beinen daſtand, und
ſich die Ho⸗2635
ſen in die Hoͤhe zog: ob er davon
nichts wiſſe?
Und ob ſie der Schweinehirte von Hainichen
nicht vielleicht, auf welchen Umſtand Alles an⸗
H 2116Faksimilekomme, von dem Wilsdrufer Schaͤfer,
oder von
einem Dritten, der ſie ſeinerſeits
von demſelben 2640
gekauft, erſtanden haͤtte? —
Der Abdecker, der
ſich an den Wagen geſtellt und ſein Waſſer abge⸗
ſchlagen hatte, ſagte: „er waͤre mit
den Rappen
nach Dresden beſtellt, um in dem
Hauſe derer
von Tronka ſein Geld dafuͤr zu
empfangen. Was 2645
er da vorbraͤchte, verſtaͤnde er nicht; und ob ſie,
vor dem Schweinehirten aus Hainichen,
Peter
oder Paul beſeſſen haͤtte, oder der
Schaͤfer aus
Wilsdruf, gelte ihm, da ſie
nicht geſtohlen waͤ⸗
ren, gleich.“Und damit ging er, die Peitſche 2650
quer uͤber ſeinen breiten Ruͤcken, nach
einer
Kneipe, die auf dem Platze lag, in
der Abſicht,
hungrig wie er war, ein
Fruͤhſtuͤck einzunehmen.
Der Kaͤmmerer, der auf der Welt Gottes nicht
wußte, was er mit Pferden, die der
Schweine⸗2655
hirte von Hainichen
an den Schinder in Doͤbbeln
verkauft,
machen ſolle, falls es nicht diejenigen
waͤren, auf welchen der Teufel durch Sachſen
ritt, forderte den Junker auf, ein Wort
zu ſpre⸗
chen; doch da dieſer mit bleichen,
bebenden Lip⸗2660
pen erwiederte: das
Rathſamſte waͤre, daß man
117Faksimiledie Rappen kaufe, ſie moͤgten dem Kohlhaas
ge⸗
hoͤren oder nicht: ſo trat
der Kaͤmmerer, Vater
und Mutter, die ihn
geboren, verfluchend, in⸗
dem er ſich den Mantel
zuruͤckſchlug, gaͤnzlich 2665
unwiſſend, was er
zu thun oder zu laſſen habe,
aus dem Haufen
des Volks zuruͤck. Er rief den
Freiherrn von Wenk, einen Bekannten, der
uͤber die Straße ritt, zu ſich heran,
und trotzig,
den Platz nicht zu verlaſſen,
eben weil das Ge⸗2670
ſindel hoͤhniſch auf ihn
einblickte, und, mit vor
dem Mund
zuſammengedruͤckten Schnupftuͤchern,
nur
auf ſeine Entfernung zu warten ſchien, um
loszuplatzen, bat er ihn, bei dem Großkanzler,
Grafen Wrede, abzuſteigen, und durch
deſſen 2675
Vermittelung den Kohlhaas zur
Beſichtigung der
Rappen herbeizuſchaffen.
Es traf ſich, daß Kohl⸗
haas eben, durch einen Gerichtsboten
herbeige⸗
rufen, in dem Gemach
des Großkanzlers, ge⸗
wiſſer, die Depoſition in
Luͤtzen betreffenden Er⸗2680
laͤuterungen wegen, die man von ihm bedurfte,
gegenwaͤrtig war, als der Freiherr,
in der eben
erwaͤhnten Abſicht, zu ihm ins
Zimmer trat;
und waͤhrend der Großkanzler
ſich mit einem
118Faksimileverdrießlichen Geſicht vom Seſſel erhob, und 2685
den Roßhaͤndler, deſſen Perſon jenem
unbekannt
war, mit den Papieren, die er in
der Hand
hielt, zur Seite ſtehen ließ,
ſtellte der Freiherr
ihm die Verlegenheit,
in welcher ſich die Herren
von Tronka
befanden, vor. Der Abdecker von 2690
Doͤbbeln ſey, auf mangelhafte Requiſition
der
Wilsdrufer Gerichte, mit Pferden
erſchienen,
deren Zuſtand ſo heillos
beſchaffen waͤre, daß der
Junker Wenzel
anſtehen muͤſſe, ſie fuͤr die dem
Kohlhaas
gehoͤrigen anzuerkennen; dergeſtalt, 2695
daß,
falls man ſie gleichwohl dem Abdecker ab⸗
nehmen
ſolle, um in den Staͤllen der Ritter, zu
ihrer Wiederherſtellung, einen Verſuch zu ma⸗
chen, vorher eine Ocular-Inſpection des
Kohl⸗
haas, um den beſagten
Umſtand außer Zweifel 2700
zu ſetzen, nothwendig
ſey. „Habt demnach die
Guͤte, ſchloß er, den Roßhaͤndler durch
eine
Wache aus ſeinem Hauſe abholen und auf
den
Markt, wo die Pferde ſtehen, hinfuͤhren
zu
laſſen.“ Der
Großkanzler, indem er ſich eine 2705
Brille von
der Naſe nahm, ſagte: daß er in
einem
doppelten Irrthum ſtuͤnde; einmal, wenn
119Faksimileer glaube, daß der in Rede ſtehende
Umſtand
anders nicht, als durch eine
Ocular-Inſpection
des Kohlhaas auszumitteln
ſey; und dann, wenn 2710
er ſich einbilde, er,
der Kanzler, ſey befugt, den
Kohlhaas durch
eine Wache, wohin es dem Jun⸗
ker beliebe,
abfuͤhren zu laſſen. Dabei ſtellte er
ihm den Roßhaͤndler, der hinter ihm
ſtand, vor,
und bat ihn, indem er ſich
niederließ und ſeine 2715
Brille wieder
aufſetzte, ſich in dieſer Sache an
ihn
ſelbſt zu wenden. — Kohlhaas, der mit
keiner Miene, was in ſeiner Seele
vorging, zu
erkennen gab, ſagte: daß er
bereit waͤre, ihm
zur Beſichtigung der
Rappen, die der Abdecker 2720
in die Stadt
gebracht, auf den Markt zu folgen.
Er trat, waͤhrend der Freiherr ſich
betroffen zu
ihm umkehrte, wieder an den
Tiſch des Groß⸗
kanzlers heran, und
nachdem er demſelben noch,
aus den Papieren
ſeiner Brieftaſche, mehrere, die 2725
Depoſition
in Luͤtzen betreffende Nachrichten ge⸗
geben
hatte, beurlaubte er ſich von ihm; der Frei⸗
herr, der, uͤber das ganze Geſicht
roth, ans
Fenſter getreten war, empfahl
ſich ihm gleich⸗
falls; und beide
gingen, begleitet von den drei 2730
120Faksimiledurch den Prinzen von Meißen eingeſetzten
Lands⸗
knechten, unter dem Troß
einer Menge von
Menſchen, nach dem
Schloßplatz hin. Der
Kaͤmmerer, Herr Kunz, der inzwiſchen den
Vor⸗
ſtellungen mehrerer
Freunde, die ſich um ihn ein⸗2735
gefunden
hatten, zum Trotz, ſeinen Platz, dem
Abdecker von Doͤbbeln gegenuͤber, unter dem
Volke behauptet hatte, trat, ſobald der
Freiherr
mit dem Roßhaͤndler erſchien, an
den letzteren
heran, und fragte ihn, indem
er ſein Schwerdt, 2740
mit Stolz und Anſehen,
unter dem Arm hielt:
ob die Pferde, die
hinter dem Wagen ſtuͤnden,
die ſeinigen
waͤren? Der Roßhaͤndler, nach⸗
dem er, mit einer beſcheidenen
Wendung gegen
den die Frage an ihn
richtenden Herrn, den er 2745
nicht kannte, den
Huth gezuͤckt hatte, trat, ohne
ihm zu
antworten, im Gefolge ſaͤmmtlicher Rit⸗
ter, an
den Schinderkarren heran; und die Thie⸗
re, die,
auf wankenden Beinen, die Haͤupter
zur Erde
gebeugt, daſtanden, und von dem Heu, 2750
das
ihnen der Abdecker vorgelegt hatte, nicht
fraßen, fluͤchtig, aus einer Ferne von zwoͤlf
Schritt, in welcher er ſtehen blieb,
betrachtet:
121Faksimilegnaͤdigſter Herr! wandte er ſich wieder zu dem
Kaͤmmerer zuruͤck, der Abdecker hat ganz
Recht; 2755
die Pferde, die an ſeinen Karren
gebunden ſind,
gehoͤren mir! Und damit, indem er ſich in dem
ganzen Kreiſe der Herren umſah, ruͤckte
er den
Huth noch einmal, und begab ſich,
von ſeiner
Wache begleitet, wieder von dem
Platz hinweg. 2760
Bei dieſen Worten trat der Kaͤmmerer, mit
einem raſchen, ſeinen Helmbuſch erſchuͤtternden
Schritt zu dem Abdecker heran, und warf
ihm
einen Beutel mit Geld zu; und waͤhrend
dieſer
ſich, den Beutel in der Hand, mit
einem bleier⸗2765
nen Kamm die Haare
uͤber die Stirn zuruͤck⸗
kaͤmmte,
und das Geld betrachtete, befahl er
einem
Knecht, die Pferde abzuloͤſen und nach
Hauſe zu fuͤhren! Der Knecht, der
auf den
Ruf des Herrn, einen Kreis von
Freunden und 2770
Verwandten, die er unter dem
Volke beſaß, ver⸗
laſſen hatte, trat auch,
in der That, ein wenig
roth im Geſicht,
uͤber eine große Miſtpfuͤtze, die
ſich zu
ihren Fuͤßen gebildet hatte, zu den Pfer⸗
den
heran; doch kaum hatte er ihre Halftern er⸗2775
faßt, um
ſie loszubinden, als ihn Meiſter Him⸗
122Faksimileboldt, ſein Vetter, ſchon
beim Arm ergriff, und
mit den Worten: du
ruͤhrſt die Schindmaͤhren
nicht an! von dem
Karren hinwegſchleuderte.
Er ſetzte, indem er ſich mit ungewiſſen
Schrit⸗2780
ten uͤber die
Miſtpfuͤtze wieder zu dem Kaͤmme⸗
rer, der
uͤber dieſen Vorfall ſprachlos daſtand,
zuruͤck wandte, hinzu: daß er ſich einen Schin⸗
derknecht anſchaffen muͤſſe, um ihm
einen ſolchen
Dienſt zu leiſten! Der Kaͤmmerer, der, vor 2785
Wuth ſchaͤumend, den Meiſter auf einen Augen⸗
blick betrachtet hatte, kehrte ſich
um, und rief
uͤber die Haͤupter der Ritter,
die ihn umringten,
hinweg, nach der Wache;
und ſobald, auf die
Beſtellung des
Freiherrn von Wenk, ein Offi⸗2790
cier mit
einigen kurfuͤrſtlichen Trabanten, aus
dem
Schloß erſchienen war, forderte er denſelben
unter einer kurzen Darſtellung der ſchaͤndlichen
Aufhetzerei, die ſich die Buͤrger der
Stadt er⸗
laubten, auf, den
Raͤdelsfuͤhrer, Meiſter Him⸗2795
boldt, in
Verhaft zu nehmen. Er verklagte den
Meiſter, indem er ihn bei der Bruſt
faßte: daß
er ſeinen, die Rappen auf ſeinen
Befehl losbin⸗
denden Knecht von dem
Karren hinweggeſchleu⸗
123Faksimiledert und mißhandelt haͤtte.
Der Meiſter, in⸗2800
dem er
den Kaͤmmerer mit einer geſchickten Wen⸗
dung,
die ihn befreiete, zuruͤckwies, ſagte: gnaͤ⸗
digſter Herr! einem Burſchen von
zwanzig Jah⸗
ren bedeuten, was er zu thun hat,
heißt nicht,
ihn verhetzen! Befragt ihn, ob er ſich gegen 2805
Herkommen und Schicklichkeit mit den
Pferden,
die an die Karre gebunden ſind,
befaſſen will;
will er es, nach dem, was
ich geſagt, thun:
ſey’s! Meinethalb mag er ſie jetzt abludern
und haͤuten! Bei dieſen Worten wandte ſich 2810
der
Kaͤmmerer zu dem Knecht herum, und fragte
ihn: ob er irgend Anſtand naͤhme, ſeinen Be⸗
fehl zu erfuͤllen, und die Pferde, die
dem Kohl⸗
haas gehoͤrten, loszubinden, und nach
Hauſe zu
fuͤhren? und da dieſer
ſchuͤchtern, indem er ſich 2815
unter die
Buͤrger miſchte, erwiederte: die Pferde
muͤßten erſt ehrlich gemacht werden, bevor man
ihm das zumuthe; ſo folgte ihm der
Kaͤmmerer
von hinten, riß ihm den Huth ab,
der mit ſei⸗
nem Hauszeichen geſchmuͤckt war, zog,
nachdem 2820
er den Huth mit Fuͤßen getreten,
von Leder,
und jagte den Knecht mit
wuͤthenden Hieben der
124FaksimileKlinge augenblicklich vom Platz weg und aus
ſeinen Dienſten. Meiſter Himboldt rief: ſchmeißt
den Mordwuͤtherich doch gleich zu Boden!
und 2825
waͤhrend die Buͤrger, von dieſem
Auftritt em⸗
poͤrt, zuſammentraten, und
die Wache hinweg⸗
draͤngten, warf er den
Kaͤmmerer von hinten
nieder, riß ihm
Mantel, Kragen und Helm ab,
wand ihm das
Schwerdt aus der Hand, und 2830
ſchleuderte es,
in einem grimmigen Wurf, weit
uͤber den
Platz hinweg. Vergebens rief der
Junker Wenzel, indem er ſich aus dem
Tumult
rettete, den Rittern zu, ſeinem
Vetter beizuſprin⸗
gen; ehe ſie noch
einen Schritt dazu gethan hat⸗2835
ten, waren ſie
ſchon von dem Andrang des Volks
zerſtreut,
dergeſtalt, daß der Kaͤmmerer, der
ſich den
Kopf beim Fallen verletzt hatte, der gan⸗
zen Wuth
der Menge Preis gegeben war. Nichts,
als die Erſcheinung eines Trupps
berittener 2840
Landsknechte, die zufaͤllig
uͤber den Platz zogen,
und die der Officier
der kurfuͤrſtlichen Trabanten
zu ſeiner
Unterſtuͤtzung herbeirief, konnte den
Kaͤmmerer retten. Der Officier,
nachdem er
den Haufen verjagt, ergriff den
wuͤthenden 2845
125FaksimileMeiſter,
und waͤhrend derſelbe durch einige Reu⸗
ter nach
dem Gefaͤngniß gebracht ward, hoben
zwei
Freunde den ungluͤcklichen mit Blut bedeck⸗
ten
Kaͤmmerer vom Boden auf, und fuͤhrten ihn
nach Hauſe. Einen ſo heilloſen
Ausgang nahm 2850
der wohlgemeinte und redliche
Verſuch, dem Roß⸗
haͤndler wegen des
Unrechts, das man ihm
zuge⸗
gefuͤgt,
zuge⸗
fuͤgt,
Durch
Zeilentrennung bedingter Fehler.
zugefuͤgt, [emendiert ohne Hinweis
im Kommentar]
zugefuͤgt, [emendiert ohne Hinweis im
Kommentar]
Genugthuung zu
verſchaffen. Der Ab⸗
decker von Doͤbbeln, deſſen Geſchaͤft
abgemacht
war, und der ſich nicht laͤnger
aufhalten wollte, 2855
band, da ſich das Volk zu
zerſtreuen anfing, die
Pferde an einen
Laternenpfahl, wo ſie, den gan⸗
zen Tag uͤber,
ohne daß ſich jemand um ſie be⸗
kuͤmmerte,
ein Spott der Straßenjungen und
Tagediebe,
ſtehen blieben; dergeſtalt, daß in Er⸗2860
mangelung aller Pflege und Wartung die
Polizei
ſich ihrer annehmen mußte, und
gegen Einbruch
der Nacht den Abdecker von
Dresden herbeirief,
um ſie, bis auf weitere
Verfuͤgung, auf der
Schinderei vor der
Stadt zu beſorgen. 2865
Dieſer Vorfall, ſo wenig der Roßhaͤndler
ihn in der That verſchuldet hatte,
erweckte
gleichwohl, auch bei den
Gemaͤßigtern und Beſ⸗
126Faksimileſeren,
eine, dem Ausgang ſeiner Streitſache
hoͤchſt gefaͤhrliche Stimmung im Lande. Man 2870
fand das
Verhaͤltniß desſelben zum Staat ganz
unertraͤglich, und in Privathaͤuſern und auf oͤffent⸗
lichen Plaͤtzen, erhob ſich die
Meinung, daß es
beſſer ſey, ein offenbares
Unrecht an ihm zu
veruͤben, und die ganze
Sache von Neuem nie⸗2875
derzuſchlagen, als ihm Gerechtigkeit,
durch Ge⸗
waltthaten ertrotzt, in
einer ſo nichtigen Sache,
zur bloßen
Befriedigung ſeines raſenden Starr⸗
ſinns, zukommen zu laſſen. Zum voͤlligen Ver⸗
derben des armen Kohlhaas mußte der
Groß⸗2880
kanzler ſelbſt, aus
uͤbergroßer Rechtlichkeit, und
einem davon
herruͤhrenden Haß gegen die Fa⸗
milie von
Tronka, beitragen, dieſe Stimmung
zu
befeſtigen und zu verbreiten. Es war
hoͤchſt
unwahrſcheinlich, daß die
Pferde, die der Ab⸗2885
decker von Dresden jetzt
beſorgte, jemals wieder
in den Stand, wie
ſie aus dem Stall zu Kohl⸗
haaſenbruͤck gekommen waren,
hergeſtellt wer⸗
den wuͤrden; doch geſetzt,
daß es durch Kunſt
und anhaltende Pflege
moͤglich geweſen waͤre: die 2890
Schmach, die zu
Folge der beſtehenden Um⸗
127Faksimileſtaͤnde, dadurch auf die Familie des
Junkers
fiel, war ſo groß, daß bei dem
ſtaatsbuͤrgerlichen
Gewicht,
den
das
ſie, als eine
der erſten und edel⸗
ſten, im Lande hatte,
nichts billiger und zweck⸗2895
maͤßiger
ſchien, als eine Verguͤtigung der Pferde
in
Geld einzuleiten. Gleichwohl, auf einen
Brief, in welchem der Praͤſident, Graf Kall⸗
heim, im Namen des Kaͤmmerers, den
ſeine
Krankheit abhielt, dem Großkanzler,
einige 2900
Tage darauf, dieſen Vorſchlag
machte, erließ
derſelbe zwar ein Schreiben
an den Kohlhaas,
worin er ihn ermahnte,
einen ſolchen Antrag,
wenn er an ihn
ergehen ſollte, nicht von der Hand
zu
weiſen; den Praͤſidenten ſelbſt aber bat er, 2905
in einer kurzen, wenig verbindlichen Antwort,
ihn mit Privatauftraͤgen in dieſer Sache
zu
verſchonen, und forderte den Kaͤmmerer
auf,
ſich an den Roßhaͤndler ſelbſt zu
wenden, den
er ihm als einen ſehr billigen
und beſcheidenen 2910
Mann ſchilderte. Der Roßhaͤndler, deſſen
Wille, durch den Vorfall, der ſich auf dem
Markt zugetragen, in der That gebrochen
war, wartete auch nur, dem Rath des Groß⸗
128Faksimilekanzlers gemaͤß, auf eine
Eroͤffnung von Seiten 2915
des Junkers, oder
ſeiner Angehoͤrigen, um ih⸗
nen mit voͤlliger
Bereitwilligkeit und Verge⸗
bung alles
Geſchehenen, entgegenzukommen;
doch eben
dieſe Eroͤffnung war den ſtolzen Rit⸗
tern zu
thun empfindlich; und ſchwer erbittert 2920
uͤber die Antwort, die ſie von dem Großkanz⸗
ler empfangen hatten, zeigten ſie
dieſelbe dem
Kurfuͤrſten, der, am Morgen
des naͤchſtfolgen⸗
den Tages, den
Kaͤmmerer krank, wie er an
ſeinen Wunden
danieder lag, in ſeinem Zim⸗2925
mer beſucht
hatte. Der Kaͤmmerer, mit einer,
durch ſeinen Zuſtand, ſchwachen und
ruͤhren⸗
den Stimme, fragte
ihn, ob er, nachdem er
ſein Leben daran
geſetzt, um dieſe Sache, ſei⸗
nen Wuͤnſchen
gemaͤß, beizulegen, auch noch 2930
ſeine Ehre
dem Tadel der Welt ausſetzen, und
mit einer
Bitte um Vergleich und Nachgie⸗
bigkeit,
vor einem Manne erſcheinen ſolle, der
alle
nur erdenkliche Schmach und Schande uͤber
ihn und ſeine Familie gebracht habe. Der 2935
Kurfuͤrſt, nachdem
er den Brief geleſen hatte,
fragte den
Grafen Kallheim verlegen: ob das
Tri⸗129FaksimileTribunal nicht befugt ſey, ohne weitere
Ruͤck⸗
ſprache mit dem
Kohlhaas, auf den Umſtand,
daß die Pferde
nicht wieder herzuſtellen waͤ⸗2940
ren, zu fußen,
und dem gemaͤß das Urtheil,
gleich, als ob
ſie todt waͤren, auf bloße Ver⸗
guͤtigung
derſelben in Geld abzufaſſen? Der
Graf antwortete: „gnaͤdigſter Herr, ſie
ſind
todt: ſind in ſtaatsrechtlicher Bedeutung
todt, 2945
weil ſie keinen Werth haben, und
werden es
phyſiſch ſeyn, bevor man ſie, aus
der Abdek⸗
kereiAbdeckerei, in die
Staͤlle der Ritter gebracht hat;“
worauf
der Kurfuͤrſt, indem er den Brief ein⸗
ſteckte, ſagte, daß er mit dem Großkanzler
2950
ſelbſt daruͤber ſprechen wolle, den
Kaͤmmerer,
der ſich halb aufrichtete und
ſeine Hand dank⸗
bar ergriff, beruhigte,
und nachdem er ihm
noch empfohlen hatte,
fuͤr ſeine Geſundheit
Sorge zu tragen, mit
vieler Huld ſich von 2955
ſeinem Seſſel erhob,
und das Zimmer verließ.
So ſtanden die Sachen in Dresden, als
ſich uͤber den armen Kohlhaas, noch ein
ande⸗
res, bedeutenderes
Gewitter, von Luͤtzen her,
zuſammenzog,
deſſen Strahl die argliſtigen2960
Kleiſts Erzaͤhl. I130Faksimile
Ritter geſchickt genug waren, auf das un⸗
gluͤckliche Haupt desſelben
herabzuleiten. Jo⸗
hann Nagelſchmidt naͤmlich, Einer von
den
durch den Roßhaͤndler
zuſammengebrachten, und
nach Erſcheinung
der kurfuͤrſtlichen Amneſtie 2965
wieder
abgedankten Knechten, hatte fuͤr gut be⸗
funden, wenige Wochen nachher, an der boͤhmi⸗
ſchen Graͤnze, einen Theil dieſes
zu allen Schand⸗
thaten aufgelegten
Geſindels von neuem zuſam⸗
menzuraffen, und das Gewerbe, auf
deſſen 2970
Spur ihn Kohlhaas gefuͤhrt hatte,
auf ſeine
eigne Hand fortzuſetzen. Dieſer nichtsnutzige
Kerl nannte ſich, theils um den Haͤſchern von
denen er verfolgt ward, Furcht
einzufloͤßen,
theils um das Landvolk, auf
die gewohnte Weiſe, 2975
zur Theilnahme an
ſeine
Spitzbuͤbereien zu ver⸗
leiten, einen Statthalter des Kohlhaas;
ſprengte
mit einer ſeinem Herrn abgelernten
Klugheit
aus, daß die Amneſtie an mehreren,
in ihre Hei⸗
math ruhig
zuruͤckgekehrten Knechten nicht gehal⸗2980
ten,
ja der Kohlhaas ſelbſt, mit himmelſchreien⸗
der Wortbruͤchigkeit, bei
ſeiner Ankunft in Dres⸗
den eingeſteckt, und
einer Wache uͤbergeben wor⸗
131Faksimileden ſey; dergeſtalt, daß in Placaten, die
den
Kohlhaaſiſchen ganz aͤhnlich waren,
ſein Mord⸗2985
brennerhaufen als ein zur
bloßen Ehre Gottes
aufgeſtandener
Kriegshaufen erſchien, beſtimmt,
uͤber die
Befolgung der ihnen von dem Kurfuͤr⸗
ſten angelobten Amneſtie zu wachen;
Alles, wie
ſchon geſagt, keineswegs zur
Ehre Gottes, noch 2990
aus Anhaͤnglichkeit an
den Kohlhaas, deſſen
Schickſal ihnen
voͤllig gleichguͤltig war, ſondern
um unter
dem Schutz ſolcher Vorſpiegelungen
deſto
ungeſtrafter und bequemer zu ſengen und
zu
pluͤndern. Die Ritter, ſobald die
erſten 2995
Nachrichten davon nach Dresden
kamen, konn⸗
ten ihre Freude uͤber dieſen, dem
ganzen Handel
eine andere Geſtalt gebenden
Vorfall nicht un⸗
terdruͤcken. Sie erinnerten mit weiſen und miß⸗
vergnuͤgten Seitenblicken
an den Mißgriff, den 3000
man begangen, indem
man dem Kohlhaas, ih⸗
ren dringenden und
wiederholten Warnungen
zum Trotz, Amneſtie
ertheilt, gleichſam als
haͤtte man die
Abſicht gehabt Boͤſewichtern aller
Art
dadurch, zur Nachfolge auf ſeinem Wege, 3005
das
Signal zu geben; und nicht zufrieden, dem
I
2132FaksimileVorgeben des
Nagelſchmidt, zur bloßen Auf⸗
rechthaltung und Sicherheit ſeines
unterdruͤckten
Herrn die Waffen ergriffen
zu haben, Glauben
zu ſchenken, aͤußerten
ſie ſogar die beſtimmte 3010
Meinung, daß die
ganze Erſcheinung desſelben
nichts, als ein
von dem Kohlhaas angezetteltes
Unternehmen
ſey, um die Regierung in Furcht
zu ſetzen,
und den Fall des Rechtsſpruchs, Punct
vor
Punct, ſeinem raſenden Eigenſinn gemaͤß, 3015
durchzuſetzen und zu beſchleunigen. Ja, der
Mundſchenk, Herr Hinz, ging ſo
weit, eini⸗
gen Jagdjunkern und Hofherren, die
ſich nach
der Tafel im Vorzimmer des
Kurfuͤrſten um ihn
verſammelt hatten, die
Aufloͤſung des Raͤuber⸗3020
haufens
in Luͤtzen als eine verwuͤnſchte Spiegel⸗
fechterei darzuſtellen; und indem
er ſich uͤber die
Gerechtigkeitsliebe des
Großkanzlers ſehr luſtig
machte, erwies er
aus mehreren witzig zuſam⸗
mengeſtellten Umſtaͤnden, daß der
Haufen, nach 3025
wie vor, noch in den Waͤldern
des Kurfuͤrſten⸗
thums vorhanden
ſey, und nur auf den Wink
des Roßhaͤndlers
warte, um daraus von neuem
mit Feuer und
Schwerdt hervorzubrechen. Der
133FaksimilePrinz Chriſtiern von
Meißen, uͤber dieſe Wen⸗3030
dung der Dinge, die ſeines
Herrn Ruhm auf die
empfindlichſte Weiſe zu
beflecken drohete, ſehr
mißvergnuͤgt, begab
ſich ſogleich zu demſelben
aufs Schloß; und
das Intereſſe der Ritter, den
Kohlhaas,
wenn es moͤglich waͤre, auf den 3035
Grund neuer
Vergehungen zu ſtuͤrzen, wohl
durchſchauend, bat er ſich von demſelben die
Erlaubniß aus, unverzuͤglich ein Verhoͤr
uͤber
den Roßhaͤndler anſtellen zu duͤrfen.
Der Roß⸗
haͤndler, nicht ohne Befremden, durch
einen 3040
Haͤſcher in das Gubernium abgefuͤhrt,
erſchien,
den Heinrich und Leopold, ſeine
beiden kleinen
Knaben auf dem Arm; denn
Sternbald, der
Knecht, war Tags zuvor mit
ſeinen fuͤnf Kin⸗
dern aus dem
Mecklenburgiſchen, wo ſie ſich3045
aufgehalten
hatten, bei ihm angekommen, und
Gedanken
mancherlei Art, die zu entwickeln zu
weitlaͤuftig ſind, beſtimmten ihn, die Jungen,
die ihn bei ſeiner Entfernung unter dem
Erguß
kindiſcher Thraͤnen darum baten,
aufzuheben, 3050
und in das Verhoͤr mitzunehmen.
Der Prinz,
nachdem er die Kinder, die Kohlhaas neben
134Faksimileſich niedergeſetzt hatte,
wohlgefaͤllig betrachtet
und auf eine
freundliche Weiſe nach ihrem Al⸗
ter und Namen
gefragt hatte, eroͤffnete ihm, 3055
was der
Nagelſchmidt, ſein ehemaliger Knecht,
ſich
in den Thaͤlern des
Eezgebirges
Erzgebirges
fuͤr Frei⸗
heiten herausnehme; und
indem er ihm die ſo⸗
genannten
Mandate desſelben uͤberreichte, for⸗
derte
er ihn auf, dagegen vorzubringen, was 3060
er zu
ſeiner Rechtfertigung vorzubringen wuͤßte.
Der Roßhaͤndler, ſo
ſchwer er auch in der That
uͤber dieſe
ſchaͤndlichen und verraͤtheriſchen Pa⸗
piere
erſchrack, hatte gleichwohl, einem ſo
rechtſchaffenen Manne, als der Prinz war, 3065
gegenuͤber, wenig Muͤhe, die Grundloſigkeit
der gegen ihn auf die Bahn gebrachten
Be⸗
ſchuldigungen, befriedigend
aus einander zu le⸗
gen. Nicht nur, daß zufolge ſeiner Bemer⸗
kung er, ſo wie die Sachen ſtanden,
uͤberhaupt 3070
noch zur Entſcheidung ſeines, im
beſten Fort⸗
gang begriffenen
Rechtsſtreits, keiner Huͤlfe
von Seiten
eines Dritten beduͤrfte: aus ei⸗
nigen
Briefſchaften, die er bei ſich trug, und
die er dem Prinzen vorzeigte, ging ſogar eine 3075
135FaksimileUnwahrſcheinlichkeit
ganz eigner Art hervor,
daß das Herz des
Nagelſchmidts geſtimmt ſeyn
ſollte, ihm
dergleichen Huͤlfe zu leiſten, indem
er den
Kerl, wegen auf dem platten Lande
veruͤbter
Nothzucht und anderer Schelmereien, 3080
kurz
vor Aufloͤſung des Haufens in Luͤtzen
hatte
haͤngen laſſen wollen; dergeſtalt, daß
nur
die Erſcheinung der kurfuͤrſtlichen Amne⸗
ſtie,
indem ſie das ganze Verhaͤltniß aufhob,
ihn
gerettet hatte, und beide Tags darauf, 3085
als
Todfeinde auseinander gegangen waren.
Kohlhaas, auf ſeinen von dem Prinzen
ange⸗
nommenen Vorſchlag,
ſetzte ſich nieder, und
erließ ein
Sendſchreiben an den Nagelſchmidt,
worin er
das Vorgeben desſelben zur Aufrecht⸗3090
haltung der an ihm und ſeinen
Haufen gebro⸗
chenen Amneſtie
aufgeſtanden zu ſeyn, fuͤr eine
ſchaͤndliche und ruchloſe Erfindung erklaͤrte; ihm
ſagte, daß er bei ſeiner Ankunft in
Dresden weder
eingeſteckt, noch einer Wache
uͤbergeben, auch ſeine 3095
Rechtsſache ganz ſo,
wie er es wuͤnſche, im Fort⸗
gange ſey;
und ihn wegen der, nach Publi⸗
kation der
Amneſtie im Erzgebirge ausgeuͤbten
136FaksimileMordbrennereien, zur Warnung des um ihn
ver⸗
ſammelten Geſindels, der
ganzen Rache der Ge⸗3100
ſetze preis gab. Dabei wurden einige Frag⸗
mente der Criminalverhandlung, die
der Roß⸗
haͤndler auf dem Schloſſe
zu Luͤtzen, in Bezug
auf die oben
erwaͤhnten Schaͤndlichkeiten, uͤber
ihn
hatte anſtellen laſſen, zur Belehrung des 3105
Volks uͤber dieſen nichtsnutzigen, ſchon damals
dem Galgen beſtimmten, und, wie ſchon
er⸗
waͤhnt, nur durch das
Patent das der Kur⸗
fuͤrſt erließ, geretteten
Kerl, angehaͤngt. Dem
gemaͤß beruhigte der Prinz den Kohlhaas
uͤber 3110
den Verdacht, den man ihm, durch die
Um⸗
ſtaͤnde nothgedrungen, in
dieſem Verhoͤr habe
aͤußern muͤſſen;
verſicherte ihn, daß ſo lange
Er in Dresden
waͤre, die ihm ertheilte Amne⸗
ſtie auf keine
Weiſe gebrochen werden ſolle; 3115
reichte den
Knaben noch einmal, indem er ſie
mit Obſt,
das auf ſeinem Tiſche ſtand, be⸗
ſchenkte,
die Hand, gruͤßte den Kohlhaas und
entließ
ihn. Der Großkanzler, der gleichwohl
die Gefahr, die uͤber den Roßhaͤndler
ſchwebte, 3120
erkannte, that ſein Aeußerſtes,
um die Sache
137Faksimiledesſelben, bevor ſie durch neue Ereigniſſe ver⸗
wickelt und verworren wuͤrde, zu Ende
zu brin⸗
gen; das aber wuͤnſchten und
bezweckten die
ſtaatsklugen Ritter eben,
und ſtatt, wie zuvor, 3125
mit ſtillſchweigendem
Eingeſtaͤndniß der Schuld,
ihren Widerſtand
auf ein bloß gemildertes
Rechtserkenntniß
einzuſchraͤnken, fingen ſie jetzt
an, in
Wendungen argliſtiger und rabuliſtiſcher
Art, dieſe Schuld ſelbſt gaͤnzlich zu laͤugnen. 3130
Bald gaben ſie vor, daß
die Rappen des Kohl⸗
haas, in Folge eines bloß
eigenmaͤchtigen Ver⸗
fahrens des Schloßvoigts
und Verwalters, von
welchem der Junker
nichts oder nur Unvoll⸗
ſtaͤndiges gewußt, auf der Tronkenburg
zuruͤck⸗3135
gehalten worden ſeyen;
bald verſicherten ſie,
daß die Thiere
ſchon, bei ihrer Ankunft da⸗
ſelbſt, an
einem heftigen und gefaͤhrlichen Hu⸗
ſten
krank geweſen waͤren, und beriefen ſich
deshalb auf Zeugen, die ſie herbeizuſchaffen ſich 3140
anheiſchig machten; und als ſie mit
dieſen Ar⸗
gumenten, nach
weitlaͤuftigen Unterſuchungen
und
Auseinanderſetzungen, aus dem Felde ge⸗
ſchlagen waren, brachten ſie gar ein
kurfuͤrſtli⸗
138Faksimileches Edikt bei, worin, vor
einem Zeitraum3145
von zwoͤlf Jahren, einer
Viehſeuche wegen,
die Einfuͤhrung der
Pferde aus dem Branden⸗
burgiſchen ins Saͤchſiſche, in der
That verbo⸗
ten worden war: zum ſonnenklaren
Beleg nicht
nur der Befugniß, ſondern ſogar
der Verpflich⸗3150
tung des Junkers,
die von dem Kohlhaas uͤber
die Graͤnze
gebrachten Pferde anzuhalten. —
Kohlhaas, der inzwiſchen von dem wackern
Amtmann zu Kohlhaaſenbruͤck ſeine
Meierei,
gegen eine geringe Verguͤtigung
des dabei ge⸗3155
habten Schadens, kaͤuflich
wieder erlangt hatte,
wuͤnſchte, wie es
ſcheint wegen gerichtlicher
Abmachung
dieſes Geſchaͤfts, Dresden auf ei⸗
nige Tage zu
verlaſſen, und in dieſe ſeine Hei⸗
math zu reiſen;
ein Entſchluß, an welchem 3160
gleichwohl, wie
wir nicht zweifeln, weniger das
beſagte
Geſchaͤft, ſo dringend es auch in der
That,
wegen Beſtellung der Winterſaat, ſeyn
mogte, als die Abſicht unter ſo ſonderbaren
und bedenklichen Umſtaͤnden ſeine Lage zu
pruͤ⸗3165
fen, Antheil hatte: zu
welchem vielleicht auch
noch Gruͤnde
anderer Art mitwirkten, die wir
139Faksimilejedem, der in ſeiner Bruſt Beſcheid weiß, zu
erra⸗
then uͤberlaſſen wollen.
Demnach verfuͤgte er ſich,
mit Zuruͤcklaſſung der Wache, die ihm
zuge⸗3170
ordnet war, zum
Großkanzler, und
eroͤf⸗
nete
ihm, die
Briefe des Amtmanns in der
Hand: daß er
Willens ſey, falls man ſeiner,
wie es den
Anſchein habe, bei dem Gericht
nicht
nothwendig beduͤrfe, die Stadt zu ver⸗3175
laſſen, und auf einen Zeitraum von acht oder
zwoͤlf Tagen, binnen welcher Zeit er
wieder
zuruͤck zu ſeyn verſprach, nach dem
Brandenbur⸗
giſchen zu reiſen. Der Großkanzler, indem
er mit einem mißvergnuͤgten und bedenklichen 3180
Geſichte zur Erde ſah, verſetzte: er
muͤſſe ge⸗
ſtehen, daß ſeine
Anweſenheit grade jetzt noth⸗
wendiger
ſey als jemals, indem das Gericht we⸗
gen
argliſtiger und winkelziehender Einwendun⸗
gen der Gegenpart, ſeiner Ausſagen und
Eroͤr⸗3185
terungen, in
tauſenderlei nicht vorherzuſehenden
Faͤllen, beduͤrfe; doch da Kohlhaas ihn auf ſei⸗
nen, von dem Rechtsfall wohl
unterrichteten
Advocaten verwies, und mit
beſcheidener Zu⸗
dringlichkeit, indem er ſich auf acht
Tage einzu⸗3190
140Faksimileſchraͤnken verſprach, auf ſeine Bitte
beharrte, ſo
ſagte der Großkanzler nach
einer Pauſe kurz, in⸗
dem er ihn entließ: „er
hoffe, daß er ſich des⸗
halb Paͤſſe, bei dem
Prinzen Chriſtiern von Mei⸗
ßen, ausbitten
wuͤrde.“ — — Kohlhaas, der 3195
ſich auf das Geſicht des Großkanzlers gar
wohl
verſtand, ſetzte ſich, in ſeinem
Entſchluß nur be⸗
ſtaͤrkt, auf der Stelle
nieder, und bat, ohne ir⸗
gend einen Grund
anzugeben, den Prinzen von
Meißen, als Chef
des Guberniums, um Paͤſſe 3200
auf acht Tage
nach Kohlhaaſenbruͤck, und zu⸗
ruͤck. Auf dieſes Schreiben erhielt er eine, von
dem Schloßhauptmann, Freiherrn
Siegfried
von Wenk, unterzeichnete
Gubernial-Reſolution,
des Inhalts:
ſein
Geſuch um Paͤſſe nach Kohl⸗3205
haaſenbruͤck werde des Kurfuͤrſten
Durchlaucht
vorgelegt werden, auf deſſen
hoͤchſter Bewilli⸗
gung, ſobald ſie
einginge, ihm die Paͤſſe zuge⸗
ſchickt
werden wuͤrden.“ Auf die Erkundigung
Kohlhaaſens bei ſeinem Advocaten, wie
es zu⸗3210
ginge, daß die Gubernial-Reſolution von
einem
Freiherrn Siegfried von Wenk, und
nicht von
dem Prinzen Chriſtiern von
Meißen, an den er
141Faksimileſich
gewendet, unterſchrieben ſey, erhielt er zur
Antwort: daß der Prinz vor drei Tagen auf 3215
ſeine Guͤter gereiſt, und die Gubernialgeſchaͤfte
waͤhrend ſeiner Abweſenheit dem
Schloßhaupt⸗
mann Freiherrn
Siegfried von Wenk, einem
Vetter des oben
erwaͤhnten Herren gleiches Na⸗
mens, uͤbergeben
worden waͤren. — Kohlhaas, 3220
dem das Herz unter allen dieſen
Umſtaͤnden un⸗
ruhig zu klopfen anfing,
harrte durch mehrere
Tage auf die
Entſcheidung ſeiner, der Perſon
des
Landesherrn mit befremdender
Weitlaͤuftig⸗
keit
Weitlaͤufigkeit
vorgelegten Bitte; doch es verging eine Wo⸗3225
che, und
es verging mehr, ohne daß weder dieſe
Entſcheidung einlief, noch auch das Rechtser⸗
kenntniß, ſo beſtimmt man es ihm
auch verkuͤn⸗
digt hatte, bei dem
Tribunal gefaͤllt ward: der⸗
geſtalt, daß
er am zwoͤlften Tage, feſt entſchloſ⸗3230
ſen, die Geſinnung der Regierung gegen
ihn, ſie
moͤge ſeyn, welche man wolle, zur
Sprache zu
bringen, ſich niederſetzte, und
das Gubernium
von neuem in einer dringenden
Vorſtellung um
die erforderten Paͤſſe bat.
Aber wie betreten 3235
war er, als er am Abend des folgenden, gleich⸗
142Faksimilefalls ohne
die erwartete Antwort verſtriche⸗
nen
Tages, mit einem Schritt, den er ge⸗
dankenvoll, in Erwaͤgung ſeiner Lage,
und beſon⸗
ders der ihm von dem Doctor Luther
ausge⸗3240
wirkten Amneſtie, an das
Fenſter ſeines Hinter⸗
ſtuͤbchens that, in dem kleinen, auf dem
Hofe be⸗
findlichen Nebengebaͤude,
das er ihr zum Auf⸗
enthalte angewieſen hatte,
die Wache nicht er⸗
blickte, die ihm bei ſeiner
Ankunft der Prinz von 3245
Meißen eingeſetzt
hatte. Thomas, der alte Haus⸗
mann, den er herbeirief und fragte:
was dies zu
bedeuten habe? antwortete ihm
ſeufzend: Herr!
es iſt nicht alles wie es
ſeyn ſoll; die Lands⸗
knechte, deren heute
mehr ſind wie gewoͤhnlich, 3250
haben ſich bei
Einbruch der Nacht um das ganze
Haus
vertheilt; zwei ſtehen, mit Schild und
Spieß, an der vordern Thuͤr auf der Straße;
zwei an der hintern im Garten: und noch
zwei
andere liegen im Vorſaal auf ein Bund
Stroh, 3255
und ſagen, daß ſie daſelbſt ſchlafen
wuͤrden.
Kohlhaas, der ſeine Farbe verlor, wandte ſich
und verſetzte: „es waͤre gleichviel, wenn
ſie nur
da waͤren; und er moͤgte den
Landsknechten, ſo⸗
143Faksimilebald er
auf den Flur kaͤme, Licht hinſetzen, da⸗3260
mit ſie
ſehen koͤnnten.“ Nachdem er noch,
un⸗
ter dem Vorwande, ein
Geſchirr auszugießen,
den vordern
Fenſterladen eroͤffnet, und ſich von
der
Wahrheit des Umſtands, den ihm der Alte
entdeckt, uͤberzeugt hatte: denn eben ward ſogar 3265
in geraͤuſchloſer Abloͤſung die Wache
erneuert,
an welche Maaßregel bisher, ſo
lange die Ein⸗
richtung beſtand, noch
niemand gedacht hatte:
ſo legte er ſich,
wenig ſchlafluſtig allerdings, zu
Bette,
und ſein Entſchluß war fuͤr den kom⸗3270
menden Tag ſogleich gefaßt. Denn nichts miß⸗
goͤnnte er der Regierung, mit der er zu thun
hatte mehr, als den Schein der
Gerechtigkeit,
waͤhrend ſie in der That die
Amneſtie, die ſie
ihm angelobt hatte, an
ihm brach; und falls er 3275
wirklich ein
Gefangener ſeyn ſollte, wie es kei⸗
nem
Zweifel mehr unterworfen war, wollte er
derſelben auch die beſtimmte und unumwundene
Erklaͤrung, daß es ſo ſey, abnoͤthigen.
Dem⸗
nach ließ er,
ſobald der Morgen des naͤchſten 3280
Tages
anbrach, durch Sternbald, ſeinen Knecht,
den Wagen anſpannen und vorfuͤhren, um wie
144Faksimileer vorgab, zu dem Verwalter nach
Lockewitz zu
fahren, der ihn, als ein alter
Bekannter, einige
Tage zuvor in Dresden
geſprochen und eingela⸗3285
den hatte, ihn einmal
mit ſeinen Kindern zu be⸗
ſuchen. Die Landsknechte, welche mit zuſam⸗
mengeſteckten Koͤpfen,
die dadurch veranlaßten
Bewegungen im Hauſe
wahrnahmen, ſchickten
Einen aus ihrer Mitte
heimlich in die Stadt, 3290
worauf binnen
wenigen Minuten ein Gubernial⸗
officiant an der Spitze mehrerer
Haͤſcher er⸗
ſchien, und ſich, als ob er
daſelbſt ein Geſchaͤft
haͤtte, in das
gegenuͤberliegende Haus begab.
Kohlhaas, der mit der Ankleidung ſeiner
Kna⸗3295
ben beſchaͤftigt, dieſe
Bewegungen gleichfalls
bemerkte, und den
Wagen abſichtlich laͤn⸗
ger, als eben noͤthig
geweſen waͤre, vor dem
Hauſe halten ließ,
trat, ſobald er die Anſtalten
der Polizei
vollendet ſah, mit ſeinen Kindern, 3300
ohne
darauf Ruͤckſicht zu nehmen, vor das Haus
hinauſ; und waͤhrend er dem Troß der Lands⸗
knechte, die unter der Thuͤr
ſtanden, im Vor⸗
uͤbergehen ſagte, daß ſie
nicht noͤthig haͤtten, ihm
zu folgen, hob
er die Jungen in den Wagen und 3305
kuͤßte145Faksimilekuͤßte und troͤſtete die kleinen weinenden
Maͤd⸗
chen, die, ſeiner
Anordnung gemaͤß, bei der
Tochter des alten
Hausmanns zuruͤckbleiben ſoll⸗
ten. Kaum hatte er ſelbſt den Wagen beſtiegen,
als der Gubernial-Officiant mit
ſeinem Gefolge 3310
von Haͤſchern, aus dem
gegenuͤberliegenden Hauſe,
zu ihm
herantrat, und ihn fragte: wohin er
wolle?
Auf die Antwort Kohlhaaſens: „daß er
zu
ſeinem Freund, dem Amtmann nach Lockewitz
fahren wolle, der ihn vor einigen Tagen mit ſei⸗3315
nen beiden Knaben zu ſich aufs Land
geladen,“
antwortete der
Gubernial-Officiant: daß er in
dieſem Fall
einige Augenblicke warten muͤſſe, in⸗
dem
einige berittene Landsknechte, dem Befehl
des Prinzen von Meißen gemaͤß, ihn begleiten 3320
wuͤrden. Kohlhaas fragte laͤchelnd von dem Wa⸗
gen
herab: „ob er glaube, daß ſeine Perſon in
dem Hauſe eines Freundes, der ſich erboten, ihn
auf einen Tag an ſeiner Tafel zu
bewirthen, nicht
ſicher ſey?“ Der Officiant erwiederte auf eine 3325
heitere und angenehme Art: daß die Gefahr
al⸗
lerdings nicht groß ſey;
wobei er hinzuſetzte: daß
ihm die Knechte
auch auf keine Weiſe zur Laſt
Kleiſts Erzaͤhl. K146Faksimilefallen ſollten. Kohlhaas verſetzte
ernſthaft: „daß
ihm der Prinz von Meißen,
bei ſeiner Ankunft 3330
in Dresden,
freigeſtellt, ob er ſich der Wache be⸗
dienen
wolle oder nicht;“ und da der Officiant
ſich uͤber dieſen Umſtand wunderte, und ſich mit
vorſichtigen Wendungen auf den Gebrauch,
waͤh⸗
rend der ganzen Zeit
ſeiner Anweſenheit, berief: 3335
ſo erzaͤhlte
der Roßhaͤndler ihm den Vorfall, der
die
Einſetzung der Wache in ſeinem Hauſe ver⸗
anlaßt hatte. Der
Officiant verſicherte ihn, daß
die Befehle
des Schloßhauptmanns, Freiherrn von
Wenk,
der in dieſem Augenblick Chef der Po⸗3340
lizei
ſey, ihm die unausgeſetzte Beſchuͤtzung ſeiner
Perſon zur Pflicht mache; und bat ihn,
falls er
ſich die Begleitung nicht gefallen
laſſen wolle,
ſelbſt auf das Gubernium zu
gehen, um den
Irrthum, der dabei obwalten
muͤſſe, zu berichti⸗3345
gen. Kohlhaas, mit
einem ſprechenden Blick,
den er auf den
Officianten warf, ſagte, entſchloſ⸗
ſen die Sache zu beugen oder zu
brechen: „daß
er dies thun wolle;“ ſtieg
mit klopfendem Her⸗
zen von dem Wagen, ließ
die Kinder durch den 3350
Hausmann in den Flur
tragen, und verfuͤgte
147Faksimileſich, waͤhrend der Knecht mit dem Fuhrwerk vor
dem Hauſe halten blieb, mit dem
Officianten
und ſeiner Wache in das
Gubernium. Es traf
ſich, daß der Schloßhauptmann, Freiherr
Wenk 3355
eben mit der Beſichtigung einer Bande,
am
Abend zuvor eingebrachter
Nagelſchmidtſcher
Knechte, die man in der
Gegend von Leipzig auf⸗
gefangen
hatte, beſchaͤftigt war, und die Kerle
uͤber manche Dinge, die man gern von ihnen ge⸗3360
hoͤrt haͤtte, von den Rittern, die bei
ihm waren,
befragt wurden, als der
Roßhaͤndler mit ſeiner
Begleitung zu ihm in
den Saal trat. Der
Freiherr, ſobald er den Roßhaͤndler
erblickte, ging,
waͤhrend die Ritter
ploͤtzlich ſtill wurden, und 3365
mit dem
Verhoͤr der Knechte einhielten, auf ihn
zu,
und fragte ihn: was er wolle? und da der
Roßkamm ihm auf ehrerbietige Weiſe ſein
Vorhaben, bei dem Verwalter in Lockewitz zu
Mittag zu ſpeiſen, und den Wunsch, die
Landſ⸗3370
knechte deren er dabei
nicht beduͤrfe zuruͤck⸗
laſſen zu
duͤrfen, vorgetragen hatte, antwortete
der
Freiherr, die Farbe im Geſicht wechſelnd,
indem er eine andere Rede zu verſchlucken ſchien:
K 2148Faksimile„er
wuͤrde wohl thun, wenn er ſich ſtill in ſeinem 3375
Hauſe hielte, und den Schmaus bei dem
Locke⸗
witzer Amtmann vor der
Hand noch ausſetzte.“
— Dabei wandte er ſich, das ganze Geſpraͤch
zer⸗
ſchneidend, dem
Officianten zu, und ſagte ihm:
„daß es mit
dem Befehl, den er ihm, in Bezug 3380
auf den
Mann gegeben, ſein Bewenden haͤtte,
und daß
derſelbe anders nicht, als in Begleitung
ſechs berittener Landsknechte die Stadt verlaſ⸗
ſen duͤrfe.“ — Kohlhaas fragte: ob er ein Ge⸗
fangener waͤre, und ob er glauben
ſolle, daß die 3385
ihm feierlich, vor den Augen
der ganzen Welt an⸗
gelobte Amneſtie gebrochen
ſey? worauf der
Freiherr ſich ploͤtzlich
glutroth im Geſichte zu ihm
wandte, und,
indem er dicht vor ihn trat, und ihm
in das
Auge ſah, antwortete: ja! ja! ja! — 3390
ihm den
Ruͤcken zukehrte, ihn ſtehen ließ, und
wieder zu den Nagelſchmidtſchen Knechten ging.
Hierauf verließ Kohlhaas
den Saal, und ob er
ſchon einſah, daß er
ſich das einzige Rettungs⸗
mittel,
das ihm uͤbrig blieb, die Flucht, durch 3395
die
Schritte die er gethan, ſehr erſchwert hatte,
ſo lobte er ſein Verfahren gleichwohl,
weil er ſich
149Faksimilenunmehr
auch ſeinerſeits von der Verbindlichkeit
den Artikeln der Amneſtie nachzukommen, be⸗
freit ſah. Er ließ, da er zu Hauſe kam, die 3400
Pferde
ausſpannen, und begab ſich, in Beglei⸗
tung
des Gubernial-Officianten, ſehr traurig und
erſchuͤttert in ſein Zimmer; und waͤhrend dieſer
Mann auf eine dem Roßhaͤndler Ekel
erregende
Weiſe, verſicherte, daß alles nur
auf einem Miß⸗3405
verſtaͤndniß beruhen
muͤſſe, das ſich in Kurzem
loͤſen wuͤrde,
verriegelten die Haͤſcher, auf ſeinen
Wink,
alle Ausgaͤnge der Wohnung die auf den
Hof
fuͤhrten; wobei der Officiant ihm verſicherte,
daß ihm der vordere Haupteingang nach wie
vor, 3410
zu ſeinem beliebigen Gebrauch offen
ſtehe.
Inzwiſchen war der Nagelſchmidt in den
Waͤldern des Erzgebirgs, durch Haͤſcher
und
Landsknechte von allen Seiten ſo
gedraͤngt
worden, daß er bei dem
gaͤnzlichen Mangel an 3415
Huͤlfsmitteln, eine
Rolle der Art, wie er ſie
uͤbernommen,
durchzufuͤhren, auf den Gedanken
verfiel,
den Kohlhaas in der That ins Inter⸗
eſſe
zu ziehen; und da er von der Lage ſeines
Rechtsſtreits in Dresden durch einen Reiſenden, 3420
150Faksimileder die Straße zog,
mit ziemlicher Genauigkeit
unterrichtet
war: ſo glaubte er, der offenbaren
Feindſchaft, die unter ihnen beſtand, zum Trotz,
den Roßhaͤndler bewegen zu koͤnnen, eine
neue
Verbindung mit ihm einzugehen. Demnach ſchickte 3425
er
einen Knecht, mit einem, in kaum leſerlichem
Deutſch abgefaßten Schreiben an ihn ab, des
Inhalts: „Wenn er nach dem
Altenburgiſchen
kommen, und die Anfuͤhrung
des Haufens, der
ſich daſelbſt, aus Reſten
des aufgeloͤſten zuſammen⸗3430
gefunden, wieder uͤbernehmen wolle, ſo
ſey er
erboͤtig, ihm zur Flucht aus ſeiner
Haft in Dres⸗
den mit Pferden, Leuten
und Geld an die Hand
zu gehen; wobei er ihm
verſprach, kuͤnftig ge⸗
horſamer und
uͤberhaupt ordentlicher und beſſer 3435
zu ſeyn,
als vorher, und ſich zum Beweis ſeiner
Treue und Anhaͤnglichkeit anheiſchig machte,
ſelbſt in die Gegend von Dresden zu
kommen,
um ſeine Befreiung aus ſeinem
Kerker zu bewir⸗
ken.“ Nun hatte der, mit dieſem Brief beauf⸗3440
tragte Kerl das Ungluͤck, in einem
Dorf dicht
vor Dresden, in Kraͤmpfen
haͤßlicher Art, denen
er von Jugend auf
unterworfen war, niederzu⸗
151Faksimileſinken; bei welcher Gelegenheit
der Brief, den
er im Bruſtlatz trug, von
Leuten, die ihm zu 3445
Huͤlfe kamen, gefunden,
er ſelbſt aber, ſobald er
ſich erholt,
arretirt, und durch eine Wache unter
Begleitung vielen Volks, auf das Gubernium
transportirt ward. Sobald der
Schloßhaupt⸗
mann von Wenk
dieſen Brief geleſen hatte, ver⸗3450
fuͤgte er
ſich unverzuͤglich zum Kurfuͤrſten aufs
Schloß, wo er die Herren Kunz und Hinz, wel⸗
cher Erſterer von ſeinen Wunden wieder
herge⸗
ſtellt war, und den
Praͤſidenten der Staatskan⸗
zelei,
Grafen Kallheim, gegenwaͤrtig fand. Die 3455
Herren waren der Meinung, daß der
Kohlhaas
ohne Weiteres arretirt, und ihm,
auf den Grund
geheimer Einverſtaͤndniſſe
mit dem Nagelſchmidt,
der Prozeß gemacht
werden muͤſſe; indem ſie
bewieſen, daß ein
ſolcher Brief nicht, ohne daß 3460
fruͤhere auch
von Seiten des Roßhaͤndlers
vor⸗
angegangene,
vor⸗
angegangen,
und ohne
daß uͤberhaupt eine fre⸗
velhafte
und verbrecheriſche Verbindung, zu
Schmiedung neuer Graͤuel, unter ihnen ſtatt
finden ſollte, geſchrieben ſeyn koͤnne.
Der Kur⸗3465
fuͤrſt weigerte ſich ſtandhaft, auf den
Grund bloß
152Faksimile dieſes
Briefes, dem Kohlhaas das freie Geleit,
das
er ihm angelobt, zu brechen; er war viel⸗
mehr
der Meinung, daß eine Art von Wahr⸗
ſcheinlichkeit aus dem Briefe des
Nagelſchmidt 3470
hervorgehe, daß keine fruͤhere
Verbindung zwi⸗
ſchen ihnen ſtatt gefunden
habe; und Alles, wo⸗
zu er ſich, um hieruͤber
auf’s Reine zu kommen,
auf den Vorſchlag
des Praͤſidenten, obſchon
nach großer
Zoͤgerung entſchloß, war, den Brief 3475
durch
den von dem Nagelſchmidt abgeſchickten
Knecht, gleichſam als ob derſelbe nach wie vor
frei ſey, an ihn abgeben zu laſſen, und
zu pruͤ⸗
fen, ob er ihn beantworten wuͤrde.
Dem gemaͤß
ward
der Knecht, den man in ein Gefaͤngniß ge⸗3480
ſteckt
hatte, am andern Morgen auf das Guber⸗
nium
gefuͤhrt, wo der Schloßhauptmann ihm
den
Brief wieder zuſtellte, und ihn unter dem
Verſprechen, daß er frei ſeyn, und die Strafe
die er verwirkt, ihm erlaſſen ſeyn ſolle,
auffor⸗3485
derte, das Schreiben,
als ſei nichts vorgefallen,
dem Roßhaͤndler
zu uͤbergeben; zu welcher Liſt
ſchlechter
Art ſich dieſer Kerl auch ohne Weiteres
gebrauchen ließ, und auf ſcheinbar geheimniß⸗
153Faksimilevolle
Weiſe, unter dem Vorwand, daß er Krebſe 3490
zu
verkaufen habe, womit ihn der Gubernial-
Officiant, auf dem Markte,
verſorgt hatte, zu
Kohlhaas ins Zimmer
trat. Kohlhaas, der den
Brief, waͤhrend die Kinder mit den
Krebſen ſpiel⸗
ten, las, wuͤrde den
Gauner gewiß unter andern 3495
Umſtaͤnden beim
Kragen genommen, und den
Landsknechten, die
vor ſeiner Thuͤr ſtanden,
uͤberliefert
haben; doch da bei der Stimmung
der
Gemuͤther auch ſelbſt dieſer Schritt noch
einer gleichguͤltigen Auslegung faͤhig war, 3500
und er ſich vollkommen uͤberzeugt hatte,
daß
nichts auf der Welt ihn aus dem Handel,
in
dem er verwickelt war, retten konnte: ſo
ſah
er dem Kerl, mit einem traurigen Blick,
in ſein
ihm wohlbekanntes Geſicht, fragte
ihn, wo er 3505
wohnte, und beſchied ihn, in
einigen Stunden,
wieder zu ſich, wo er ihm,
in Bezug auf ſeinen
Herrn, ſeinen Beſchluß
eroͤffnen wolle. Er
hieß dem Sternbald, der zufaͤllig in die
Thuͤr
trat, dem Mann, der im Zimmer war,
etliche 3510
Krebſe abkaufen; und nachdem dies
Geſchaͤft
abgemacht war, und beide ſich
ohne einander zu
154Faksimilekennen, entfernt hatten, ſetzte er ſich nieder und
ſchrieb einen Brief folgenden Inhalts an
den
Nagelſchmidt: „Zuvoͤrderſt daß er ſeinen Vor⸗3515
ſchlag, die Oberanfuͤhrung ſeines
Haufens im
Altenburgiſchen betreffend,
annaͤhme; daß er
dem gemaͤß, zur Befreiung
aus der vorlaͤufigen
Haft, in welcher er,
mit ſeinen fuͤnf Kindern
gehalten werde,
ihm einen Wagen mit zwei 3520
Pferden nach der
Neuſtadt bei Dresden ſchicken
ſolle; daß er
auch, raſcheren Fortkommens we⸗
gen, noch eines
Geſpannes von zwei Pferden
auf der Straße
nach Wittenberg beduͤrfe, auf
welchem Umweg
er allein, aus Gruͤnden, die an⸗3525
zugeben zu
weitlaͤufig waͤren, zu ihm kommen
koͤnne;
daß er die Landsknechte, die ihn bewach⸗
ten,
zwar durch Beſtechung gewinnen zu koͤnnen
glaube, fuͤr den Fall aber daß Gewalt noͤthig
ſey, ein Paar beherzte, geſcheute und
wohlbe⸗3530
waffnete Knechte, in
der Neuſtadt bei Dresden
gegenwaͤrtig
wiſſen wolle; daß er ihm zur Be⸗
ſtreitung
der mit allen dieſen Anſtalten verbun⸗
denen Koſten, eine Rolle von zwanzig
Goldkro⸗
nen durch den Knecht
zuſchicken, uͤber deren 3535
155FaksimileVerwendung er ſich, nach abgemachter Sache,
mit ihm berechnen wolle; daß er ſich
uͤbrigens,
weil ſie unnoͤthig ſey, ſeine
eigne Anweſenheit
bei ſeiner Befreiung in
Dresden verbitte, ja
ihm vielmehr den
beſtimmten Befehl ertheile, 3540
zur
einſtweiligen Anfuͤhrung der Bande, die
nicht ohne Oberhaupt ſeyn koͤnne, im Altenbur⸗
giſchen zuruͤckzubleiben.“ —
Dieſen Brief, als
der Knecht gegen Abend kam, uͤberlieferte er
ihm; beſchenkte ihn ſelbſt reichlich, und
ſchaͤrfte 3545
ihm ein, denſelben wohl in Acht
zu nehmen. —
Seine Abſicht war mit ſeinen fuͤnf Kindern
nach Hamburg zu gehen, und ſich von dort nach
der Levante oder nach Oſtindien, oder ſo
weit
der Himmel uͤber andere Menſchen, als
die er 3550
kannte, blau war, einzuſchiffen:
denn die Dick⸗
fuͤtterung der Rappen
hatte ſeine, von Gram
ſehr gebeugte Seele
auch unabhaͤngig von dem
Widerwillen, mit
dem Nagelſchmidt deshalb ge⸗
meinſchaftliche Sache zu machen,
aufgegeben. — 3555
Kaum hatte der Kerl dieſe Antwort dem Schloß⸗
hauptmann uͤberbracht, als der
Großkanzler ab⸗
geſetzt, der Praͤſident,
Graf Kallheim, an deſ⸗
156Faksimileſen Stelle, zum Chef des Tribunals ernannt,
und Kohlhaas, durch einen
Kabinetsbefehl des 3560
Kurfuͤrſten arretirt,
und ſchwer mit Ketten be⸗
laden in die
Stadtthuͤrme gebracht ward.
Man machte ihm auf den Grund dieſes Briefes,
der an alle Ecken der Stadt
angeſchlagen ward,
den Prozeß; und da er
vor den Schranken des 3565
Tribunals auf die
Frage, ob er die Handſchrift
anerkenne, dem
Rath, der ſie ihm vorhielt, ant⸗
wortete:
„ja!“ zur Antwort aber auf die Fra⸗
ge, ob er
zu ſeiner Vertheidigung etwas vorzu⸗
bringen wiſſe, indem er den Blick
zur Erde ſchlug, 3570
erwiederte, „nein!“ ſo
ward er verurtheilt, mit
gluͤhenden Zangen
von Schinderknechten geknif⸗
fen,
geviertheilt, und ſein Koͤrper, zwiſchen Rad
und Galgen, verbrannt zu werden.
So ſtanden die Sachen fuͤr den armen Kohl⸗3575
haas in Dresden, als der Kurfuͤrſt
von Bran⸗
denburg zu ſeiner Rettung
aus den Haͤnden der
Uebermacht und Willkuͤr
auftrat, und ihn, in
einer bei der
kurfuͤrſtlichen Staatskanzlei daſelbſt
eingereichten Note, als brandenburgiſchen Un⸗3580
terthan reclamirte. Denn der wackere Stadt⸗
157Faksimilehauptmann, Herr Heinrich
von Geuſau, hatte
ihn, auf einem
Spaziergange an den Ufern der
Spree, von
der Geſchichte dieſes ſonderbaren
und nicht
verwerflichen Mannes unterrichtet, 3585
bei
welcher Gelegenheit er von den Fragen des
erſtaunten Herrn gedraͤngt, nicht umhin konnte,
der Schuld zu erwaͤhnen, die durch die
Un⸗
ziemlichkeiten ſeines Erzkanzlers, des
Grafen
Siegfried von Kallheim, ſeine eigene
Perſon 3590
druͤckte: woruͤber der Kurfuͤrſt
ſchwer entruͤſtet,
den Erzkanzler, nachdem
er ihn zur Rede ge⸗
ſtellt und befunden, daß
die Verwandtſchaft des⸗
ſelben mit
dem Hauſe derer von Tronka an allem
Schuld
ſey, ohne Weiteres, mit mehreren Zei⸗3595
chen
ſeiner Ungnade entſetzte, und den Herrn
Heinrich von Geuſau zum Erzkanzler ernannte.
Es traf ſich aber, daß die Krone Pohlen
grade damals, indem ſie mit dem Hauſe
Sachſen, um welchen Gegenſtandes willen
3600
wiſſen wir nicht, im Streit lag, den
Kur⸗
fuͤrſten von Brandenburg,
in wiederholten und
dringenden
Vorſtellungen anging, ſich mit ihr
in
gemeinſchaftlicher Sache gegen das Haus
158FaksimileSachſen zu verbinden; dergeſtalt, daß der
Erz⸗3605
kanzler, Herr Geuſau, der
in ſolchen Dingen
nicht ungeſchickt war,
wohl hoffen durfte, den
Wunſch ſeines
Herrn, dem Kohlhaas, es koſte
was es wolle,
Gerechtigkeit zu verſchaffen, zu
erfuͤllen,
ohne die Ruhe des Ganzen auf eine 3610
mißlichere Art, als die Ruͤckſicht auf einen Ein⸗
zelnen erlaubt, aufs Spiel zu ſetzen.
Demnach
forderte
der Erzkanzler nicht nur wegen gaͤnz⸗
lich
willkuͤrlichen, Gott und Menſchen mißge⸗
faͤlligen Verfahrens, die unbedingte
und unge⸗3615
ſaͤumte Auslieferung des
Kohlhaas, um denſel⸗
ben, falls ihn eine
Schuld druͤcke, nach bran⸗
denburgiſchen Geſetzen, auf
Klageartikel, die der
Dresdner Hof deshalb
durch einen Anwald in
Berlin anhaͤngig
machen koͤnne, zu richten; 3620
ſondern er
begehrte ſogar ſelbſt Paͤſſe fuͤr einen
Anwald, den der Kurfuͤrſt nach Dresden zu
ſchicken Willens ſey, um dem Kohlhaas, wegen
der ihm auf ſaͤchſiſchem Grund und Boden
ab⸗
genommenen Rappen und
anderer himmelſchrei⸗3625
enden
Mißhandlungen und Gewaltthaten halber,
gegen den Junker Wenzel von Tronka, Recht zu
159Faksimileverſchaffen. Der Kaͤmmerer, Herr Kunz, der
bei der Veraͤnderung der Staatsaͤmter in
Sach⸗
ſen zum Praͤſidenten der
Staatskanzlei ernannt 3630
worden war, und der
aus mancherlei Gruͤnden
den Berliner Hof,
in der Bedraͤngniß in der er
ſich befand,
nicht verletzen wollte, antwortete im
Namen
ſeines uͤber die eingegangene Note ſehr
niedergeſchlagenen Herrn: „daß man ſich uͤber 3635
die Unfreundſchaftlichkeit und
Unbilligkeit wun⸗
dere, mit welcher man dem
Hofe zu Dresden
das Recht abſpraͤche, den
Kohlhaas wegen Ver⸗
brechen, die er im Lande
begangen, den Geſetzen
gemaͤß zu richten,
da doch weltbekant ſey, daß 3640
derſelbe ein
betraͤchtliches Grundſtuͤck in der
Hauptſttadt
Hauptſtadt
beſitze, und ſich ſelbſt in der Quali⸗
taͤt als ſaͤchſiſchen Buͤrger gar
nicht
verlaͤugne.
Doch da die Krone
Pohlen bereits zur Ausfech⸗
tung ihrer
Anſpruͤche einen Heerhaufen von fuͤnf⸗3645
tauſend Mann an der Graͤnze von
Sachſen zu⸗
ſammenzog, und der
Erzkanzler, Herr Hein⸗
rich von Geuſau,
erklaͤrte: „daß Kohlhaaſenbruͤck,
der Ort,
nach welchem der Roßhaͤndler heiße, im
Brandenburgiſchen liege, und daß man die Voll⸗3650
160Faksimileſtreckung
des uͤber ihn ausgeſprochenen Todesur⸗
theils fuͤr eine Verletzung des
Voͤlkerrechts halten
wuͤrde:“ ſo rief der
Kurfuͤrſt, auf den Rath des
Kaͤmmerers,
Herrn Kunz ſelbſt, der ſich aus
dieſen
diesem [emendiert]
diesem [emendiert]
diesem [emendiert]
diesem [emendiert]
Handel zuruͤckzuziehen
wuͤnſchte, den Prin⸗3655
zen Chriſtiern von Meißen
von ſeinen Guͤtern
herbei, und entſchloß
ſich, auf wenige Worte
dieſes verſtaͤndigen
Herrn, den Kohlhaas, der
Forderung gemaͤß,
an den Berliner Hof auszulie⸗
fern.
Der Prinz, der obſchon mit den
Unziem⸗3660
lichkeiten die vorgefallen waren, wenig
zufrieden,
die Leitung der Kohlhaaſiſchen
Sache auf den
Wunſch ſeines bedraͤngten
Herrn, uͤbernehmen
mußte, fragte ihn, auf
welchen Grund er nun⸗
mehr den Roßhaͤndler bei
dem Kammergericht zu 3665
Berlin verklagt wiſſen
wolle; und da man ſich
auf den leidigen
Brief desſelben an den Nagel⸗
ſchmidt,
wegen der zweideutigen und unklaren
Umſtaͤnde, unter welchen er geſchrieben war,
nicht berufen konnte, der fruͤheren
Pluͤnderun⸗3670
gen und
Einaͤſcherungen aber, wegen des Pla⸗
cats,
worin ſie ihm vergeben worden waren,
nicht
erwaͤhnen durfte: ſo beſchloß der Kurfuͤrſt,
der161Faksimileder Majeſtaͤt des Kaiſers zu Wien einen Bericht
uͤber den bewaffneten Einfall des
Kohlhaas in 3675
Sachſen vorzulegen, ſich uͤber
den Bruch des von
ihm eingeſetzten
oͤffentlichen Landfriedens zu be⸗
ſchweren,
und ſie, die allerdings durch keine Am⸗
neſtie
gebunden war, anzuliegen, den Kohlhaas
bei
dem Hofgericht zu Berlin deshalb durch ei⸗3680
nen
Reichsanklaͤger zur Rechenſchaft zu ziehen.
Acht Tage darauf ward
der Roßkamm durch den
Ritter Friedrich von
Malzahn, den der Kurfuͤrſt
von Brandenburg
mit ſechs Reutern nach Dres⸗
den geſchickt
hatte, geſchloſſen wie er war, auf 3685
einen
Wagen geladen, und mit ſeinen fuͤnf Kin⸗
dern,
die man auf ſeine Bitte aus Findel- und
Waiſenhaͤuſern wieder zuſammengeſucht hatte,
nach Berlin transportirt. Es traf ſich daß der
Kurfuͤrſt von Sachſen auf die Einladung des3690
Landdroſts, Grafen Aloyſius von Kallheim,
der damals an der Graͤnze von Sachſen betraͤcht⸗
liche Beſitzungen hatte, in
Geſellſchaft des Kaͤm⸗
merers, Herrn Kunz, und
ſeiner Gemahlin, der
Dame Heloiſe, Tochter
des Landdroſts und 3695
Schweſter des
Praͤſidenten, andrer glaͤnzenden
Kleiſts Erzaͤhl. L162FaksimileHerren und Damen, Jagdjunker und Hofher⸗
ren,
die dabei waren, nicht zu erwaͤhnen, zu ei⸗
nem
großen Hirſchjagen, das man, um ihn zu
erheitern, angeſtellt hatte, nach Dahme gereiſt 3700
war; dergeſtalt, daß unter dem Dach
bewimpel⸗
ter Zelte, die quer
uͤber die Straße auf einem
Huͤgel erbaut
waren, die ganze Geſellſchaft vom
Staub der
Jagd noch bedeckt unter dem Schall
einer
heitern vom Stamm einer Eiche her⸗3705
ſchallenden Muſik, von Pagen bedient und
Edel⸗
knaben, an der Tafel ſaß,
als der Roßhaͤndler
langſam mit ſeiner
Reuterbedeckung die Straße
von Dresden
daher gezogen kam. Denn die
Erkrankung eines der kleinen, zarten
Kinder des 3710
Kohlhaas, hatte den Ritter von
Malzahn, der
ihn begleitete, genoͤthigt,
drei Tage lang in Herz⸗
berg zuruͤckzubleiben;
von welcher Maaßregel er,
dem Fuͤrſten
den
dem
er diente deshalb allein verant⸗
wortlich, nicht noͤthig befunden
hatte, der Regie⸗3715
rung zu Dresden weitere
Kenntniß zu geben. Der
Kurfuͤrſt, der mit halboffener Bruſt, den
Feder⸗
huth, nach Art der
Jaͤger, mit Tannenzweigen ge⸗
ſchmuͤckt,
neben der Dame Heloiſe ſaß, die, in
163FaksimileZeiten fruͤherer Jugend, ſeine erſte
Liebe geweſen 3720
war, ſagte von der Anmuth des
Feſtes, das ihn
umgaukelte, heiter
geſtimmt: „Laſſet uns hin⸗
gehen, und dem
Ungluͤcklichen, wer es auch ſey,
dieſen
Becher mit Wein reichen!“Die Dame
Heloiſe, mit einem herrlichen Blick auf
ihn, 3725
ſtand ſogleich auf, und fuͤllte, die
ganze Tafel
pluͤndernd, ein ſilbernes
Geſchirr, das ihr ein
Page reichte, mit
Fruͤchten, Kuchen und Brod
an; und ſchon
hatte, mit Erquickungen jeglicher
Art, die
ganze Geſellſchaft wimmelnd das Zelt 3730
verlaſſen, als der Landdroſt ihnen mit einem ver⸗
legenen Geſicht entgegen kam, und ſie
bat zu⸗
ruͤckzubleiben. Auf die
betretene Frage des Kur⸗
fuͤrſten
was vorgefallen waͤre, daß er ſo beſtuͤrzt ſey?
antwortete der Landdroſt ſtotternd gegen
den Kaͤm⸗3735
merer gewandt, daß der Kohlhaas im
Wagen
ſey; auf welche jedermann
unbegreifliche Nach⸗
richt, indem weltbekannt
war, daß derſelbe be⸗
reits vor ſechs Tagen
abgereiſt war, der Kaͤm⸗
merer, Herr
Kunz, ſeinen Becher mit Wein 3740
nahm, und ihn,
mit einer Ruͤckwendung gegen
das Zelt, in
den Sand ſchuͤttete. Der Kurfuͤrſt
L 2164Faksimileſetzte, uͤber und uͤber roth, den ſeinigen auf ei⸗
nen Teller, den ihm ein Edelknabe auf
den Wink
des Kaͤmmerers zu dieſem Zweck
vorhielt; und 3745
waͤhrend der Ritter Friedrich
von Malzahn, un⸗
ter ehrfurchtsvoller
Begruͤßung der Geſellſchaft,
die er nicht
kannte, langſam durch die Zeltleinen,
die
uͤber die Straße liefen, nach Dahme weiter
zog, begaben ſich die Herrſchaften, auf die Ein⸗3750
ladung des Landdroſts, ohne weiter
davon Notiz
zu nehmen, ins Zelt zuruͤck.
Der Landdroſt, ſo⸗
bald ſich der Kurfuͤrſt niedergelaſſen
hatte, ſchickte
unter der Hand nach Dahme,
um bei dem Ma⸗
giſtrat daſelbſt die
unmittelbare Weiterſchaffung 3755
des
Roßhaͤndlers bewirken zu laſſen; doch da der
Ritter, wegen bereits zu weit vorgeruͤckter Ta⸗
geszeit, beſtimmt in dem Ort
uͤbernachten zu
wollen erklaͤrte, ſo mußte
man ſich begnuͤgen,
ihn in einer dem
Magiſtrat zugehoͤrigen Meierei, 3760
die, in
Gebuͤſchen verſteckt, auf der Seite lag, ge⸗
raͤuſchlos unterzubringen.
Nun begab es ſich,
daß gegen Abend, da die Herrſchaften vom
Wein
und dem Genuß eines uͤppigen
Nachtiſches zer⸗
ſtreut, den ganzen Vorfall
wieder vergeſſen hat⸗3765
165Faksimileten, der
Landdroſt den Gedanken auf die Bahn
brachte, ſich noch einmal, eines Rudels Hirſche
wegen,
der
ſich hatte blicken laſſen, auf den An⸗
ſtand zu ſtellen; welchen Vorſchlag die
ganze Ge⸗
ſellſchaft mit Freuden
ergriff, und Paarweiſe 3770
nachdem ſie ſich mit
Buͤchſen verſorgt, uͤber
Graͤben und Hecken
in die nahe Forſt eilte: der⸗
geſtalt, daß
der Kurfuͤrſt und die Dame Heloiſe,
die
ſich, um
den
dem
Schauſpiel beizuwohnen, an
ſeinen
Arm hing, von einem Boten, den man 3775
ihnen
zugeordnet hatte, unmittelbar, zu ihrem
Erſtaunen, durch den Hof des Hauſes gefuͤhrt
wurden, in welchem Kohlhaas mit den
branden⸗
burgiſchen Reutern befindlich war.
Die Dame
als ſie
dies hoͤrte, ſagte: „kommt, gnaͤdigſter 3780
Herr, kommt!“ und verſteckte die Kette, die
ihm vom Halſe herabhing, ſchaͤkernd in
ſeinen
ſeidenen Bruſtlatz: „laßt uns ehe
der Troß
nachkoͤmmt in die Meierei
ſchleichen, und den
wunderlichen Mann, der
darin uͤbernachtet, be⸗3785
trachten!“
Der Kurfuͤrſt, indem er erroͤthend
ihre Hand ergriff, ſagte: Heloiſe!
was faͤllt
euch ein? Doch da ſie, indem ſie ihn betreten
166Faksimileanſah, verſetzte:
„daß ihn ja in der Jaͤgertracht,
die ihn
decke, kein Menſch erkenne!“ und ihn fort⸗3790
zog;
und in eben dieſem Augenblick ein Paar
Jagdjunker, die ihre Neugierde ſchon befriedigt
hatten, aus dem Hauſe heraustraten,
verſichernd,
daß in der That, vermoͤge
einer Veranſtaltung,
die der Landdroſt
getroffen, weder der Ritter noch 3795
der
Roßhaͤndler wiſſe, welche Geſellſchaft in der
Gegend von Dahme verſammelt ſey; ſo
druͤckte
der Kurfuͤrſt ſich den Huth
laͤchelud
laͤchelnd
in die Augen,
und ſagte: „Thorheit,
du regierſt die Welt, und
dein Sitz iſt ein
ſchoͤner weiblicher Mund!“ — 3800
Es traf ſich daß Kohlhaas eben mit dem
Ruͤcken
gegen die Wand auf einem Bund Stroh
ſaß, und
ſein, ihm in Herzberg erkranktes
Kind mit Sem⸗
mel und Milch fuͤtterte,
als die Herrſchaften,
um ihn zu beſuchen,
in die Meierei traten; und 3805
da die Dame ihn,
um ein Geſpraͤch einzulei⸗
ten,
fragte: wer er ſey? und was dem Kinde
fehle? auch was er verbrochen und wohin
man ihn unter ſolcher Bedeckung abfuͤhre?
ſo ruͤckte er ſeine lederne Muͤtze vor ihr, und gab 3810
ihr auf alle dieſe Fragen, indem er ſein
Geſchaͤft
167Faksimilefortſetzte,
unreichliche aber befriedigende Ant⸗
wort.
Der Kurfuͤrſt, der hinter den
Jagd⸗
junkern ſtand, und eine
kleine bleierne Kapſel, die
ihm an einem
ſeidenen Faden vom Hals herab⸗3815
hing,
bemerkte, fragte ihn, da ſich grade nichts
Beſſeres zur Unterhaltung darbot: was dieſe zu
bedeuten haͤtte und was darin befindlich
waͤre?
Kohlhaas
erwiderte: „ja, geſtrenger Herr, dieſe
Kapſel!“ — und damit ſtreifte er ſie vom Nak⸗3820
kenNacken ab, oͤffnete
ſie und nahm einen kleinen mit
Mundlack
verſiegelten Zettel heraus — „mit
dieſer
Kapſel hat es eine wunderliche Bewand⸗
niß!
Sieben Monden moͤgen es etwa ſeyn, ge⸗
nau am Tage nach dem Begraͤbniß meiner
Frau; 3825
und von Kohlhaaſenbruͤck, wie euch
vielleicht be⸗
kannt ſeyn wird, war ich
aufgebrochen, um des
Junkers von Tronka,
der mir viel Unrecht zu⸗
gefuͤgt,
habhaft zu werden, als um einer Ver⸗
handlung willen, die mir unbekannt
iſt, der 3830
Kurfuͤrſt von Sachſen und der
Kurfuͤrſt von
Brandenburg in Juͤterbock,
einem Marktflecken,
durch den der Streifzug
mich fuͤhrte, eine Zu⸗
ſammenkunft hielten; und da ſie ſich gegen
168FaksimileAbend ihren
Wuͤnſchen gemaͤß vereinigt hatten, 3835
ſo
gingen ſie, in freundſchaftlichem Geſpraͤch,
durch die Straßen der Stadt, um den Jahr⸗
markt, der eben darin froͤhlich abgehalten ward,
in Augenſchein zu nehmen. Da trafen ſie auf
eine
Zigeunerin, die, auf einem Schemel ſitzend, 3840
dem Volk, das ſie umringte, aus dem Kalender
wahrſagte, und fragten ſie ſcherzhafter
Weiſe:
ob ſie ihnen nicht auch etwas, das
ihnen lieb
waͤre, zu eroͤffnen haͤtte?
Ich, der mit meinem
Haufen eben in einem Wirthshauſe
abgeſtiegen, 3845
und auf dem Platz, wo dieſer
Vorfall ſich zutrug,
gegenwaͤrtig war,
konnte hinter allem Volk,
am Eingang einer
Kirche, wo ich ſtand, nicht
vernehmen, was
die wunderliche Frau den Her⸗
ren ſagte;
dergeſtalt, daß, da die Leute lachend 3850
einander zufluͤſterten, ſie theile nicht jedermann
ihre Wiſſenſchaft mit, und ſich des
Schauſpiels
wegen das ſich bereitete, ſehr
bedraͤngten, ich,
weniger neugierig, in der
That, als um den Neu⸗
gierigen
Platz zu machen, auf eine Bank ſtieg, 3855
die
hinter mir im Kircheneingange ausgehauen
war. Kaum hatte ich von dieſem
Standpunkt
169Faksimileaus, mit
voͤlliger Freiheit der Ausſicht, die Herr⸗
ſchaften und das Weib, das auf dem
Schemel vor
ihnen ſaß und etwas
aufzukritzeln ſchien, erblickt: 3860
da ſteht
ſie ploͤtzlich auf ihre Kruͤcken gelehnt,
indem ſie ſich im Volk umſieht, auf; faßt mich,
der nie ein Wort mit ihr wechſelte, noch
ihrer
Wiſſenſchaft Zeit ſeines Lebens
begehrte, ins
Auge; draͤngt ſich durch den
ganzen dichten Auf⸗3865
lauf der Menſchen zu mir
heran und ſpricht:
„da! wenn es der Herr
wiſſen will, ſo mag er
dich danach fragen!“
Und damit, geſtrenger
Herr, reichte ſie mir mit ihren duͤrren
knoͤcher⸗
nen Haͤnden dieſen
Zettel dar. Und da ich be⸗3870
treten, waͤhrend ſich alles Volk zu mir
umwen⸗
det, ſpreche:
Muͤtterchen, was auch verehrſt du
mir da?
antwortet ſie, nach vielem unvernehm⸗
lichen Zeug, worunter ich jedoch
zu meinem
großen Befremden meinen Namen
hoͤre: „ein 3875
Amulet, Kohlhaas, der
Roßhaͤndler; verwahr’
es wohl, es wird dir
dereinſt das Leben retten!“
und
verſchwindet. — Nun!“ fuhr Kohlhaas
gutmuͤthig fort: „die Wahrheit zu
geſtehen,
hats mir in Dresden, ſo ſcharf es
herging, 3880
170Faksimiledas Leben
nicht gekoſtet; und wie es mir in
Berlin
gehen wird, und ob ich auch dort da⸗
mit
beſtehen werde, ſoll die Zukunft lehren.“ —
Bei dieſen Worten ſetzte
ſich der Kurfuͤrſt auf
eine Bank; und ob er
ſchon auf die betretne 3885
Frage der Dame: was
ihn fehle? antwortete:
nichts, gar nichts!
ſo fiel er doch ſchon ohn⸗
maͤchtig
auf den Boden nieder, ehe ſie noch Zeit
hatte ihm beizuſpringen, und in ihre Arme auf⸗
zunehmen. Der Ritter von Malzahn, der in 3890
eben dieſem
Augenblick, eines Geſchaͤfts halber,
ins
Zimmer trat, ſprach: heiliger Gott! was
fehlt dem Herrn? die Dame rief: ſchafft Waſſer
her! Die
Jagdjunker hoben ihn auf und trugen
ihn auf
ein im Nebenzimmer befindliches Bett; 3895
und
die Beſtuͤrzung erreichte ihren Gipfel, als
der Kaͤmmerer, den ein Page herbeirief, nach
mehreren vergeblichen Bemuͤhungen, ihn
ins Le⸗
ben zuruͤckzubringen, erklaͤrte: er
gebe alle Zei⸗
chen von ſich, als ob ihn
der Schlag geruͤhrt! 3900
Der Landdroſt, waͤhrend der Mundſchenk einen
reitenden Boten nach Luckau ſchickte,
um einen
Arzt herbeizuholen, ließ ihn, da
er die Augen
171Faksimileaufſchlug, in einen Wagen bringen, und Schritt
vor Schritt nach ſeinem in der Gegend
befindli⸗3905
chen Jagdſchloß
abfuͤhren; aber dieſe Reiſe zog
ihm, nach
ſeiner Ankunft daſelbſt, zwei neue
Ohnmachten zu: dergeſtalt, daß er ſich erſt ſpaͤt
am andern Morgen, bei der Ankunft des
Arztes
aus Luckau, unter gleichwohl
entſcheidenden 3910
Symptomen eines
herannahenden Nervenfie⸗
bers, einigermaßen
erholte. Sobald er ſeiner
Sinne maͤchtig geworden war, richtete er
ſich
halb im Bette auf, und ſeine erſte
Frage war
gleich: wo der Kohlhaas ſey?
Der Kaͤmmerer, 3915
der ſeine Frage mißverſtand, ſagte, indem er
ſeine Hand ergriff: daß er ſich dieſes
entſetzlichen
Menſchen wegen beruhigen
moͤgte, indem der⸗
ſelbe, ſeiner Beſtimmung
gemaͤß, nach jenem
ſonderbaren und
unbegreiflichen Vorfall, in der 3920
Meierei zu
Dahme, unter brandenburgiſcher
Bedeckung,
zuruͤckgeblieben waͤre. Er fragte
ihn,
unter der Verſicherung ſeiner
lebhafteſten Theil⸗
nahme und der
Betheurung, daß er ſeiner Frau,
wegen des
unverantwortlichen Leichtſinns, ihn 3925
mit
dieſem Mann zuſammenzubringen, die bitter⸗
172Faksimileſten Vorwuͤrfe gemacht haͤtte: was
ihn denn ſo
wunderbar und ungeheuer in der
Unterredung mit
demſelben ergriffen haͤtte?
Der Kurfuͤrſt ſagte:
er muͤſſe ihm nur geſtehen, daß der
Anblick eines 3930
nichtigen Zettels, den der
Mann in einer bleier⸗
nen Kapſel mit ſich
fuͤhre, Schuld an dem
ganzen unangenehmen
Zufall ſey, der ihm zuge⸗
ſtoßen.
Er ſetzte noch mancherlei zur
Erklaͤrung
dieſes Umſtands, das der
Kaͤmmerer nicht ver⸗3935
ſtand, hinzu; verſicherte
ihn ploͤtzlich, indem er
ſeine Hand
zwiſchen die ſeinigen druͤckte, daß
ihm der
Beſitz dieſes Zettels von der aͤußerſten
Wichtigkeit ſey; und bat ihn, unverzuͤglich auf⸗
zuſitzen, nach Dahme zu reiten, und
ihm den 3940
Zettel, um welchen Preis es immer
ſey, von
demſelben zu erhandeln. Der Kaͤmmerer, der
Muͤhe hatte, ſeine Verlegenheit zu verbergen,
verſicherte ihn: daß, falls dieſer
Zettel einigen
Werth fuͤr ihn haͤtte,
nichts auf der Welt noth⸗3945
wendiger
waͤre, als dem Kohlhaas dieſen Um⸗
ſtand zu
verſchweigen; indem, ſobald derſelbe
durch
eine unvorſichtige Aeußerung Kenntniß
davon
naͤhme, alle Reichthuͤmer, die er beſaͤße,
173Faksimilenicht hinreichen wuͤrden, ihn aus
den Haͤnden 3950
dieſes grimmigen, in ſeiner
Rachſucht unerſaͤttli⸗
chen Kerls zu
erkaufen. Er fuͤgte, um ihn zu
be⸗
ruhigen, hinzu, daß man auf
ein anderes Mittel
denken muͤſſe, und daß
es vielleicht durch Liſt,
vermoͤge eines
Dritten ganz Unbefangenen, in⸗3955
dem der
Boͤſewicht wahrſcheinlich, an und fuͤr
ſich, nicht ſehr daran haͤnge, moͤglich ſeyn wuͤr⸗
de, ſich den Beſitz des Zettels, an
dem
ihn
ihm
ſo
viel gelegen ſei, zu verſchaffen.
Der Kurfuͤrſt,
indem er ſich den Schweiß abtrocknete, fragte: 3960
ob man nicht unmittelbar zu dieſem Zweck
nach
Dahme ſchicken, und den weiteren
Transport
des Roßhaͤndlers, vorlaͤufig, bis
man des Blat⸗
tes, auf welche Weiſe es
ſey, habhaft geworden,
einſtellen koͤnne?
Der Kaͤmmerer, der ſeinen 3965
Sinnen nicht traute, verſetzte: daß
leider allen
wahrſcheinlichen Berechnungen
zufolge, der
Roßhaͤndler Dahme bereits
verlaſſen haben, und
ſich jenſeits der
Graͤnze, auf brandenburgiſchem
Grund und
Boden befinden muͤſſe, wo das Un⸗3970
ternehmen,
die Fortſchaffung desſelben zu hem⸗
men,
oder wohl gar ruͤckgaͤngig zu machen, die
174Faksimileunangenehmſten und
weitlaͤuftigſten, ja ſolche
Schwierigkeiten, die vielleicht gar nicht zu beſei⸗
tigen waͤren, veranlaſſen wuͤrde.
Er fragte ihn, 3975
da der Kurfuͤrſt ſich ſchweigend, mit der Ge⸗
baͤhrde eines ganz Hoffnungsloſen, auf
das Kiſ⸗
ſen zuruͤcklegte: was denn der Zettel
enthalte?
und durch welchen Zufall
befremdlicher und un⸗
erklaͤrlicher Art ihm, daß der Inhalt
ihn betreffe, 3980
bekannt ſey? Hierauf aber, unter zweideutigen
Blicken auf den Kaͤmmerer, deſſen
Willfaͤhrig⸗
keit er in dieſem
Falle mißtraute, antwortete der
Kurfuͤrſt
nicht: ſtarr, mit unruhig klopfendem
Herzen
lag er da, und ſah auf die Spitze des 3985
Schnupftuchs nieder, das er gedankenvoll zwi⸗
ſchen den Haͤnden hielt; und bat ihn
ploͤtzlich,
den Jagdjunker vom Stein, einen
jungen, ruͤ⸗
ſtigen und gewandten
Herrn, deſſen er ſich oͤfter
ſchon zu
geheimen Geſchaͤften bedient hatte, 3990
unter
dem Vorwand, daß er ein anderweitiges
Geſchaͤft mit ihm abzumachen habe, ins Zimmer
zu rufen. Den
Jagdjunker, nachdem er ihm
die Sache
auseinandergelegt, und von der Wich⸗
tigkeit des Zettels, in deſſen Beſitz der
Kohlhaas 3995
175Faksimilewar,
unterrichtet hatte, fragte er, ob er ſich ein
ewiges Recht auf ſeine Freundſchaft
erwerben,
und ihm den Zettel, noch ehe
derſelbe Berlin er⸗
reicht, verſchaffen wolle?
und da der Junker, ſo⸗
bald er das Verhaͤltniß
nur, ſonderbar wie es 4000
war, einigermaßen
uͤberſchaute, verſicherte, daß
er ihm mit
allen ſeinen Kraͤften zu Dienſten
ſtehe: ſo
trug ihm der Kurfuͤrſt auf, dem Kohl⸗
haas
nachzureiten, und ihm, da demſelben mit
Geld wahrſcheinlich nicht beizukommen ſey, in 4005
einer mit Klugheit angeordneten
Unterredung,
Freiheit und Leben dafuͤr
anzubieten, ja ihm,
wenn er darauf beſtehe,
unmittelbar, obſchon
mit Vorſicht, zur
Flucht aus den Haͤnden der
brandenburgiſchen Reuter, die ihn transportir⸗4010
ten, mit Pferden, Leuten und
Geld an die Hand
zu gehen. Der Jagdjunker, nachdem er ſich ein
Blatt von der Hand des Kurfuͤrſten zur
Be⸗
glaubigung ausgebeten,
brach auch ſogleich mit ei⸗
nigen Knechten
auf, und hatte, da er den Odem 4015
der Pferde
nicht ſparte, das Gluͤck, den Kohl⸗
haas
auf einem Graͤnzdorf zu treffen, wo der⸗
ſelbe
mit dem Ritter von Malzahn und ſeinen
176Faksimilefuͤnf Kindern ein Mittagsmahl, das im
Freien
vor der Thuͤr eines Hauſes
angerichtet war, zu 4020
ſich nahm. Der Ritter von Malzahn, dem der
Junker ſich als einen Fremden, der bei
ſeiner
Durchreiſe den ſeltſamen Mann, den
er mit ſich
fuͤhre, in Augenſchein zu
nehmen wuͤnſche, vor⸗
ſtellte, noͤthigte ihn
ſogleich auf zuvorkommende 4025
Art, indem er
ihn mit dem Kohlhaas bekannt
machte, an der
Tafel nieder; und da der Ritter
in
Geſchaͤften der Abreiſe ab und zuging, die
Reuter aber an einem, auf des Hauſes anderer
Seite befindlichen Tiſch, ihre Mahlzeit
hielten: 4030
ſo traf ſich die Gelegenheit bald,
wo der Junker
dem Roßhaͤndler eroͤffnen
konnte, wer er ſey,
und in welchen
beſonderen Auftraͤgen er zu ihm
komme.
Der Roßhaͤndler, der bereits Rang
und Namen deſſen, der beim Anblick der in
Rede 4035
ſtehenden Kapſel, in der Meierei zu
Dahme in
Ohnmacht gefallen war, kannte, und
der zur
Kroͤnung des Taumels, in welchen
ihn dieſe Ent⸗
deckung verſetzt hatte,
nichts bedurfte, als Ein⸗
ſicht in die
Geheimniſſe des Zettels, den er, um 4040
mancherlei Gruͤnde willen, entſchloſſen war,
aus177Faksimileaus bloßer Neugierde nicht
zu eroͤffnen: der Roß⸗
haͤndler
ſagte, eingedenk der unedelmuͤthigen und
unfuͤrſtlichen Behandlung, die er in Dresden,
bei ſeiner gaͤnzlichen Bereitwilligkeit,
alle nur 4045
moͤglichen Opfer zu bringen, hatte
erfahren muͤſ⸗
ſen: „daß er den Zettel
behalten wolle.“ Auf
die Frage des Jagdjunkers: was ihn zu
dieſer
ſonderbaren Weigerung, da man ihm
doch nichts
Minderes, als Freiheit und
Leben dafuͤr anbiete, 4050
veranlaſſe?
antwortete Kohlhaas: „Edler Herr!
Wenn euer
Landesherr kaͤme, und ſpraͤche, ich
will
mich, mit dem ganzen Troß derer, die mir
das Scepter fuͤhren helfen, vernichten — ver⸗
nichten, verſteht ihr, welches
allerdings der groͤ⸗4055
ßeſte Wunſch iſt, den
meine Seele hegt: ſo wuͤr⸗
de ich ihm doch den
Zettel noch, der ihm mehr
werth iſt, als
das Daſeyn, verweigern und ſpre⸗
chen: du
kannſt mich auf das Schaffot bringen,
ich
aber kann dir weh thun, und ich will’s!“ 4060
Und damit, im Antlitz den Tod, rief er
einen
Reuter herbei, unter der
Aufforderung, ein gu⸗
tes Stuͤck Eſſen, das in
der Schuͤſſel uͤbrig ge⸗
Kleiſts Erzaͤhl. M178Faksimileblieben war,
zu ſich zu nehmen; und fuͤr den
ganzen Reſt
der Stunde, die er im Flecken zu⸗4065
brachte, fuͤr
den Junker, der an der Tafel ſaß,
wie nicht
vorhanden, wandte er ſich erſt wieder,
als
er den Wagen beſtieg, mit einem Blick, der
ihn abſchiedlich gruͤßte, zu ihm zuruͤck. — Der
Zuſtand des
Kurfuͤrſten, als er dieſe Nachricht 4070
bekam,
verſchlimmerte ſich in dem Grade, daß
der
Arzt, waͤhrend drei verhaͤngnißvoller Tage,
ſeines Lebens wegen, das
zugleicher
zu gleicher [emendiert]
zu gleicher [emendiert]
Zeit, von ſo
vielen Seiten angegriffen ward, in der groͤßeſten
Beſorgniß war. Gleichwohl ſtellte er ſich, durch 4075
die
Kraft ſeiner natuͤrlichen Geſundheit, nach dem
Krankenlager einiger peinlich
zugebrachten Wo⸗
chen wieder her; dergeſtalt
wenigſtens, daß man
ihn in einen Wagen
bringen, und mit Kiſſen
und Decken wohl
verſehen, nach Dresden zu 4080
ſeinen
Regierungsgeſchaͤften wieder zuruͤckfuͤhren
konnte. Sobald er in dieſer Stadt
angekommen
war, ließ er den Prinzen
Chriſtiern von Meißen
rufen, und fragte
denſelben: wie es mit der Ab⸗
fertigung
des Gerichtsraths Eibenmayer ſtuͤnde, 4085
den
man, als Anwald in der Sache des Kohl⸗
179Faksimilehaas, nach Wien zu
ſchicken geſonnen geweſen
waͤre, um
kaiſerlicher
Majeſtat
Majeſtaͤt
daſelbſt die Be⸗
ſchwerde
wegen gebrochenen, kaiſerlichen Land⸗
friedens, vorzulegen? Der Prinz antwortete 4090
ihm: daß derſelbe, dem, bei ſeiner Abreiſe nach
Dahme hinterlaſſenen Befehl gemaͤß,
gleich nach
Ankunft des Rechtsgelehrten
Zaͤuner, den der
Kurfuͤrſt von Brandenburg
als Anwald nach
Dresden geſchickt haͤtte,
um die Klage desſelben, 4095
gegen den Junker
Wenzel von Tronka, der Rap⸗
pen wegen, vor
Gericht zu bringen, nach Wien
abgegangen
waͤre. Der Kurfuͤrſt, indem er
er⸗
roͤthend an ſeinen
Arbeitstiſch trat, wunderte ſich
uͤber
dieſe Eilfertigkeit, indem er ſeines Wiſſens 4100
erklaͤrt haͤtte, die definitive Abreiſe des Eiben⸗
mayer, wegen vorher nothwendiger
Ruͤckſprache
mit dem Doctor Luther, der dem
Kohlhaas die
Amneſtie ausgewirkt, einem
naͤheren und be⸗
ſtimmteren Befehl
vorbehalten zu wollen. Da⸗4105
bei warf er einige Briefſchaften und
Acten, die
auf dem Tiſch lagen, mit dem
Ausdruck zuruͤck⸗
gehaltenen Unwillens,
uͤber einander. Der
Prinz, nach einer Pauſe, in welcher er
ihn mit
M 2180Faksimilegroßen Augen anſah, verſetzte, daß es ihm leid 4110
thaͤte, wenn er ſeine Zufriedenheit in
dieſer Sache
verfehlt habe; inzwiſchen
koͤnne er ihm den Be⸗
ſchluß des Staatsraths
vorzeigen, worin ihm
die Abſchickung des
Rechtsanwalds, zu dem be⸗
ſagten
Zeitpunkt, zur Pflicht gemacht worden 4115
waͤre. Er ſetzte hinzu, daß im
Staatsrath von
einer Ruͤckſprache mit dem
Doctor Luther, auf
keine Weiſe die Rede
geweſen waͤre; daß es fruͤh⸗
erhin
vielleicht zweckmaͤßig geweſen ſeyn moͤchte,
dieſen geiſtlichen Herrn, wegen der Verwendung, 4120
die er dem Kohlhaas angedeihen laſſen, zu
be⸗
ruͤckſichtigen, nicht aber jetzt mehr,
nachdem man
demſelben die Amneſtie vor den
Augen der gan⸗
zen Welt gebrochen, ihn
arretirt, und zur Ver⸗
urtheilung und Hinrichtung an die
brandenbur⸗4125
giſchen Gerichte ausgeliefert haͤtte.
Der Kur⸗
fuͤrſt ſagte: das Verſehen, den Eibenmayer
ab⸗
geſchickt zu haben, waͤre
auch in der That nicht
groß; inzwiſchen
wuͤnſche er, daß derſelbe vor⸗
laͤufig, bis
auf weiteren Befehl, in ſeiner Eigen⸗4130
ſchaft als Anklaͤger zu Wien nicht
auftraͤte, und
bat den Prinzen, deshalb das
Erforderliche unver⸗
181Faksimilezuͤglich durch einen Expreſſen, an
ihn zu erlaſ⸗
ſen. Der Prinz antwortete: daß dieſer Befehl
leider um einen Tag zu ſpaͤt kaͤme, indem
der 4135
Eibenmayer bereits nach einem Berichte,
der
eben heute eingelaufen, in ſeiner
Qualitaͤt als
Anwald aufgetreten, und mit
Einreichung der
Klage bei der Wiener
Staatskanzlei vorgegan⸗
gen waͤre. Er ſetzte auf die betroffene Frage 4140
des Kurfuͤrſten: wie dies uͤberall in ſo
kurzer
Zeit moͤglich ſey? hinzu: daß
bereits, ſeit der
Abreiſe dieſes Mannes
drei Wochen verſtrichen
waͤren, und daß die
Inſtruktion, die er erhalten,
ihm eine
ungeſaͤumte Abmachung dieſes Geſchaͤfts, 4145
gleich nach ſeiner Ankunft in Wien zur Pflicht
gemacht haͤtte. Eine Verzoͤgerung, bemerkte der
Prinz, wuͤrde in dieſem Fall um ſo
unſchicklicher
geweſen ſeyn, da der
brandenburgiſche Anwald
Zaͤuner, gegen den
Junker Wenzel von Tronka 4150
mit dem
trotzigſten Nachdruck verfahre, und be⸗
reits
auf eine vorlaͤufige Zuruͤckziehung der Rap⸗
pen, aus den Haͤnden des Abdeckers,
behufs ih⸗
rer kuͤnftigen Wiederherſtellung, bei dem Gerichts⸗
hof
angetragen, und auch aller Einwendungen 4155
182Faksimile
der Gegenpart
ungeachtet, auch durchgeſetzt habe.
Der Kurfuͤrſt, indem er
die Klingel zog, ſagte:
„gleichviel! es
haͤtte nichts zu bedeuten!“ und
nachdem er
ſich mit gleichguͤltigen Fragen:
wie
es ſonſt in Dresden ſtehe? und was in
ſeiner 4160
Abweſenheit vorgefallen ſey?“ zu dem
Prinzen
zuruͤckgewandt hatte: gruͤßte er
ihn, unfaͤhig
ſeinen innerſten Zuſtand zu
verbergen, mit der
Hand, und entließ ihn.
Er forderte ihm noch
an demſelben Tage ſchriftlich, unter dem
Vor⸗4165
wande, daß er die Sache,
ihrer politiſchen Wich⸗
tigkeit
wegen, ſelbſt bearbeiten wolle, die ſaͤmmt⸗
lichen Kohlhaaſiſchen Acten ab; und da
ihm der
Gedanke, denjenigen zu verderben,
von dem er
allein uͤber die Geheimniſſe des
Zettels Auskunft 4170
erhalten konnte,
unertraͤglich war: ſo verfaßte
er einen
eigenhaͤndigen Brief an den Kaiſer, wor⸗
in er ihn
auf herzliche und dringende Weiſe bat,
aus
wichtigen Gruͤnden, die er ihm vielleicht in
kurzer Zeit beſtimmter auseinander legen wuͤrde, 4175
die Klage, die der Eibenmayer gegen den
Kohl⸗
haas eingereicht,
vorlaͤufig bis auf einen weiteren
Beſchluß,
zuruͤcknehmen zu duͤrfen. Der Kaiſer,
183Faksimilein einer durch
die Staatskanzelei ausgefertigten
Note,
antwortete ihm: „daß der Wechſel, der 4180
ploͤtzlich in ſeiner Bruſt vorgegangen zu ſeyn
ſcheine, ihn aufs Aeußerſte befremde; daß
der
ſaͤchſiſcher Seits an ihn erlaſſene
Bericht, die
Sache des Kohlhaas zu einer
Angelegenheit ge⸗
ſammten heiligen roͤmiſchen
Reichs gemacht 4185
haͤtte; daß demgemaͤß er,
der Kaiſer, als Ober⸗
haupt desſelben, ſich
verpflichtet geſehen haͤtte,
als Anklaͤger
in dieſer Sache bei dem Hauſe
Brandenburg
aufzutreten; dergeſtalt, daß da
bereits der
Hof-Aſſeſſor Franz Muͤller, in der 4190
Eigenſchaft als Anwald nach Berlin gegangen
waͤre, um den Kohlhaas daſelbſt, wegen
Ver⸗
letzung des oͤffentlichen
Landfriedens, zur Rechen⸗
ſchaft zu
ziehen, die Beſchwerde nunmehr auf
keine
Weiſe zuruͤckgenommen werden koͤnne, und 4195
die Sache den Geſetzen gemaͤß, ihren weiteren
Fortgang nehmen muͤſſe.“ Dieſer Brief ſchlug
den
Kurfuͤrſten voͤllig nieder; und da, zu ſeiner
aͤußerſten Betruͤbniß, in einiger Zeit
Privat⸗
ſchreiben aus Berlin
einliefen, in welchen die 4200
Einleitung des
Prozeſſes bei dem Kammerge⸗
184Faksimilericht gemeldet, und bemerkt ward,
daß der Kohl⸗
haas wahrſcheinlich,
allen Bemuͤhungen des ihm
zugeordneten
Advocaten ungeachtet, auf dem
Schaffot
enden werde: ſo beſchloß dieſer un⸗4205
gluͤckliche Herr noch einen Verſuch zu
machen,
und bat den Kurfuͤrſten von
Brandenburg, in
einer eigenhaͤndigen
Zuſchrift, um des Roßhaͤnd⸗
lers
Leben. Er ſchuͤtzte vor, daß die
Amneſtie,
die man dieſem Manne angelobt,
die Vollſtrek⸗4210
kungVollſtreckung eines Todesurtheils an
demſelben, fuͤglicher
Weiſe, nicht zulaſſe;
verſicherte ihn, daß es,
trotz der
ſcheinbaren Strenge, mit welcher man
gegen
ihn verfahren, nie ſeine Abſicht geweſen
waͤre, ihn ſterben zu laſſen; und beſchrieb ihm, 4215
wie troſtlos er ſeyn wuͤrde, wenn der
Schutz,
den man vorgegeben haͤtte, ihm von
Berlin aus
angedeihen laſſen zu wollen,
zuletzt, in einer un⸗
erwarteten
Wendung, zu ſeinem groͤßeren Nach⸗
theile
ausſchluͤge, als wenn er in Dresden geblie⸗4220
ben,
und ſeine Sache nach ſaͤchſiſchen Geſetzen
entſchieden worden waͤre. Der
Kurfuͤrſt von
Brandenburg, dem in dieſer
Angabe mancher⸗
lei zweideutig und
unklar ſchien, antwortete ihm:
185Faksimile„daß der Nachdruck, mit welchem der Anwald 4225
kaiſerlicher Majeſtaͤt verfuͤhre,
platterdings nicht
erlaube, dem Wunſch, den
er ihm geaͤußert, ge⸗
maͤß, von der ſtrengen
Vorſchrift der Geſetze ab⸗
zuweichen.
Er bemerkte, daß die ihm vorge⸗
legte Beſorgniß in der That zu weit
ginge, in⸗4230
dem die Beſchwerde, wegen der dem
Kohlhaas
in der Amneſtie verziehenen
Verbrechen ja nicht
von ihm, der demſelben
die Amneſtie ertheilt,
ſondern von dem
Reichsoberhaupt, das daran
auf keine Weiſe
gebunden ſey, bei dem Kammer⸗4235
gericht
zu Berlin anhaͤngig gemacht worden
waͤre.
Dabei ſtellte er ihm vor, wie nothwen⸗
dig
bei den fortdauernden Gewaltthaͤtigkeiten des
Nagelſchmidt, die ſich ſogar ſchon, mit
uner⸗
hoͤrter Dreiſtigkeit, bis
aufs brandenburgiſche 4240
Gebiet erſtreckten,
die Statuirung eines ab⸗
ſchreckenden Beiſpiels waͤre, und bat ihn,
falls
er dies Alles nicht beruͤckſichtigen
wolle, ſich
an des Kaiſers Majeſtaͤt ſelbſt
zu wenden,
indem, wenn dem Kohlhaas zu
Gunſten 4245
ein Machtſpruch fallen ſollte, dieß
allein auf
eine Erklaͤrung von dieſer Seite
her geſche⸗
186Faksimilehen koͤnne.“
Der Kurfuͤrſt, aus Gram und
Aerger uͤber alle dieſe mißgluͤckten
Verſuche,
verfiel in eine neue Krankheit;
und da der Kaͤm⸗4250
merer ihn an einem Morgen
beſuchte, zeigte er
ihm die Briefe, die er,
um dem Kohlhaas das
Leben zu friſten, und
ſomit wenigſtens Zeit zu
gewinnen, des
Zettels, den er beſaͤße, habhaft
zu werden,
an den Wiener und Berliner Hof 4255
erlaſſen.
Der Kaͤmmerer warf ſich auf
Knieen vor ihm nieder, und bat ihn, um
Alles
was ihm heilig und theuer ſey, ihm zu
ſagen,
was dieſer Zettel enthalte? Der Kurfuͤrſt ſprach,
er moͤgte das Zimmer verriegeln, und ſich auf 4260
das Bett niederſetzen; und nachdem er
ſeine
Hand ergriffen, und mit einem Seufzer
an ſein
Herz gedruͤckt hatte, begann er
folgendergeſtalt:
„Deine Frau hat dir, wie ich hoͤre, ſchon
er⸗
zaͤhlt, daß der Kurfuͤrſt
von Brandenburg und 4265
ich, am dritten Tage
der Zuſammenkunft, die
wir in Juͤterbock
hielten, auf eine Zigeunerinn
trafen; und
da der Kurfuͤrſt, aufgeweckt wie er von
Natur iſt, beſchloß, den Ruf dieſer abentheuerlichen
Frau, von deren Kunſt, eben bei der
Tafel, auf4270
187Faksimile
ungebuͤhrliche Weiſe die Rede geweſen war, durch
einen Scherz im Angeſicht alles Volks zu
nichte
zu machen: ſo trat
et
er
mit verſchraͤnkten Armen
vor ihren
Tiſch, und forderte, der Weisſagung
wegen,
die ſie ihm machen ſollte, ein Zeichen von 4275
ihr, das ſich noch heute erproben ließe, vorſchuͤtzend,
daß er ſonſt nicht, und waͤre ſie auch
die roͤmi⸗
ſche Sybille ſelbſt, an ihre Worte
glauben koͤnne.
Die Frau, indem ſie uns fluͤchtig von Kopf zu
Fuß maß, ſagte: das Zeichen wuͤrde ſeyn,
daß 4280
uns der große, gehoͤrnte Rehbock, den
der Sohn
des Gaͤrtners im Park erzog, auf
dem Markt,
worauf wir uns befanden, bevor
wir ihn noch
verlaſſen, entgegenkommen
wuͤrde. Nun mußt
du wiſſen, daß dieſer, fuͤr die Dresdner Kuͤche 4285
beſtimmte Rehbock, in einem mit Latten
hoch
verzaͤunten Verſchlage, den die Eichen
des Parks
beſchatteten, hinter Schloß und
Riegel aufbe⸗
wahrt ward, dergeſtalt,
daß, da uͤberdies an⸗
deren kleineren Wildes und
Gefluͤgels wegen, 4290
der Park uͤberhaupt und
obenein der Garten,
der zu ihm fuͤhrte, in
ſorgfaͤltigem Beſchluß
gehalten ward,
ſchlechterdings nicht abzuſehen
188Faksimilewar, wie uns das Thier, dieſem ſonderbaren
Vorgeben gemaͤß, bis auf dem Platz, wo
wir 4295
ſtanden, entgegen kommen wuͤrde;
gleichwohl
ſchickte der Kurfuͤrſt aus
Beſorgniß vor einer
dahinter ſteckenden
Schelmerei, nach einer kur⸗
zen Abrede mit
mir, entſchloſſen, auf unabaͤn⸗
derliche Weiſe, Alles was ſie noch
vorbringen 4300
wuͤrde, des Spaßes wegen, zu
Schanden zu
machen, ins Schloß, und befahl,
daß der Reh⸗
bock augenblicklich
getoͤdtet, und fuͤr die Tafel,
an einem der
naͤchſten Tage, zubereitet werden
ſolle.
Hierauf wandte er ſich zu der Frau,
vor 4305
welcher dieſe Sache laut verhandelt
worden war,
zuruͤck, und ſagte: nun,
wohlan! was haſt du
mir fuͤr die Zukunft zu
entdecken? Die Frau,
indem ſie in ſeine Hand ſah, ſprach: Heil
mei⸗
nem Kurfuͤrſten und Herrn!
Deine Gnaden 4310
wird lange regieren, das Haus, aus dem du
ſtammſt, lange beſtehen, und deine Nachkom⸗
men groß und herrlich werden und
zu Macht ge⸗
langen, vor allen Fuͤrſten
und Herren der Welt!
Der Kurfuͤrſt, nach einer Pauſe, in welcher
er 4315
die Frau gedankenvoll anſah, ſagte
halblaut,
189Faksimilemit einem
Schritte, den er zu mir that, daß es
ihm
jetzo faſt Leid thaͤte, einen Boten abgeſchickt
zu haben, um die Weisſagung zu nichte zu
ma⸗
chen; und waͤhrend das Geld
aus den Haͤnden 4320
der Ritter, die ihm
folgten, der Frau haufen⸗
weis, unter
vielem Jubel, in dem Schooß reg⸗
nete, fragte er
ſie, indem er ſelbſt in die Taſche
griff,
und ein Goldſtuͤck dazu legte: ob der Gruß,
den ſie mir zu eroͤffnen haͤtte, auch von ſo ſil⸗4325
bernem Klang waͤre, als der ſeinige?
Die Frau,
nachdem ſie einen Kaſten, der ihr zur Seite ſtand,
aufgemacht, und das Geld, nach Sorte und
Menge, weitlaͤufig und umſtaͤndlich
darin ge⸗
ordnet, und den Kaſten wieder
verſchloſſen hatte, 4330
ſchuͤtzte ihre Hand vor
die Sonne, gleichſam
als ob ſie ihr laͤſtig
waͤre, und ſah mich an; und
da ich die
Frage an ſie wiederholte, und, auf
ſcherzhafte Weiſe, waͤhrend ſie meine Hand
pruͤfte, zum Kurfuͤrſten ſagte: mir ſcheint es, 4335
hat ſie nichts, das eben angenehm waͤre,
zu ver⸗
kuͤndigen: ſo ergriff ſie
ihre Kruͤcken, hob ſich
langſam daran vom
Schemel empor, und in⸗
dem ſie ſich, mit
geheimnißvoll vorgehaltenen
190FaksimileHaͤnden, dicht zu mir heran draͤngte, fluͤſterte
4340
ſie mir vernehmlich ins Ohr: nein! —
So!
ſagt’ ich
verwirrt, und trat einen Schritt vor
der
Geſtalt zuruͤck, die ſich, mit einem Blick,
kalt und leblos, wie aus marmornen Augen,
auf den Schemel, der hinter ihr ſtand, zuruͤck⸗4345
ſetzte: von welcher Seite her
droht meinem
Hauſe Gefahr? Die Frau, indem ſie eine Kohle
und ein Papier zur Hand nahm und ihre
Knieen
kreuzte, fragte: ob ſie es mir
aufſchreiben ſolle?
und da ich, verlegen in
der That, bloß weil 4350
mir, unter den
beſtehenden Umſtaͤnden, nichts
anders
uͤbrig blieb,
antworte:
antwortete: [emendiert ohne Hinweis im
Kommentar]
antwortete: [emendiert ohne Hinweis im
Kommentar]
ja! das thu! ſo
verſetzte ſie:
„wohlan! dreierlei ſchreib’ ich dir
auf:
den Namen des letzten Regenten deines
Hauſes, die Jahrszahl, da er ſein Reich verlie⸗4355
ren, und den Namen deſſen, der es,
durch die
Gewalt der Waffen, an ſich reißen
wird.“ Dieß,
vor
den Augen allen Volks abgemacht, erhebt
ſie
ſich, verklebt den Zettel mit Lack, den ſie in
ihrem welken Munde befeuchtet, und
druͤckt 4360
einen bleiernen, an ihrem
Mittelfinger befind⸗
lichen Siegelring
darauf. Und da ich den Zettel,
191Faksimile neugierig, wie du
leicht begreifſt, mehr als
Worte ſagen
koͤnnen, erfaſſen will, ſpricht ſie:
„mit
nichten, Hoheit!“ und wendet ſich und 4365
hebt
ihrer Kruͤcken Eine empor: „von jenem
Mann
dort, der, mit dem Federhuth, auf der
Bank
ſteht, hinter allem Volk, am Kirchenein⸗
gang, loͤſeſt du, wenn es dir
beliebt, den Zettel
ein!“ Und damit, ehe ich noch recht begriffen, 4370
was ſie ſagt, auf dem Platz, vor
Erſtaunen
ſprachlos, laͤßt ſie mich ſtehen;
und waͤhrend ſie
den Kaſten, der hinter ihr
ſtand, zuſammenſchlug,
und uͤber den
Ruͤcken warf, miſcht ſie ſich, ohne
daß ich
weiter bemerken konnte, was ſie thut, 4375
unter
den Haufen des uns umringenden Volks.
Nun trat, zu meinem in der That
herzlichen
Troſt, in eben dieſem Augenblick
der Ritter auf,
den der Kurfuͤrſt ins
Schloß geſchickt hatte, und
meldete ihm,
mit lachendem Munde, daß der 4380
Rehbock
getoͤdtet, und durch zwei Jaͤger, vor
ſeinen Augen, in die Kuͤche geſchleppt worden
ſey. Der
Kurfuͤrſt, indem er ſeinen Arm mun⸗
ter in
den meinigen legte, in der Abſicht, mich
von dem Platz hinwegzufuͤhren, ſagte: nun, 4385
192Faksimilewohlan! ſo war die Prophezeihung
eine alltaͤg⸗
liche Gaunerei, und
Zeit und Gold, die ſie uns
gekoſtet nicht
werth! Aber wie groß war unſer
Erſtaunen, da ſich, noch waͤhrend dieſer
Worte,
ein Geſchrei rings auf dem Platze
erhob, und 4390
aller Augen ſich einem großen,
vom Schloßhof
herantrabenden
Schlaͤchterhund zuwandten, der
in der
Kuͤche den Rehbock als gute Beute beim
Nacken erfaßt, und das Thier drei Schritte von
uns, verfolgt von Knechten und Maͤgden,
auf 4395
den Boden fallen ließ: dergeſtalt, daß
in der
That die Prophezeihung des Weibes,
zum Un⸗
terpfand alles deſſen, was ſie
vorgebracht, er⸗
fuͤllt, und der Rehbock uns
bis auf den Markt,
obſchon allerdings todt,
entgegen gekommen 4400
war. Der Blitz, der an einem Wintertag vom
Himmel faͤllt, kann nicht vernichtender
treffen,
als mich dieſer Anblick, und meine
erſte Bemuͤ⸗
hung, ſobald ich der
Geſellſchaft in der ich mich
befand,
uͤberhoben, war gleich, den Mann 4405
mit dem
Federhuth, den mir das Weib bezeich⸗
net
hatte, auszumitteln; doch keiner meiner
Leute, unausgeſetzt waͤhrend drei Tage auf
Kund⸗193FaksimileKundſchaft geſchickt, war im Stande mir
auch
nur auf die entfernteſte Weiſe
Nachricht davon 4410
zu geben: und jetzt, Freund
Kunz, vor wenig
Wochen, in der Meierei zu
Dahme, habe ich
den Mann mit meinen eigenen
Augen
geſehn.
—
Und
damit ließ er die Hand des Kaͤmmerers
fahren; und waͤhrend er ſich den Schweiß ab⸗4415
trocknete, ſank er wieder auf das Lager
zuruͤck.
Der
Kaͤmmerer, der es fuͤr vergebliche Muͤhe
hielt, mit ſeiner Anſicht von dieſem Vorfall die
Anſicht, die der Kurfuͤrſt davon hatte,
zu durch⸗
kreuzen und zu
berichtigen, bat ihn, doch irgend 4420
ein
Mittel zu verſuchen, des Zettels habhaft zu
werden, und den Kerl nachher ſeinem Schickſal
zu uͤberlaſſen; doch der Kurfuͤrſt
antwortete,
daß er platterdings kein Mittel
dazu ſaͤhe, ob⸗
ſchon der Gedanke, ihn
entbehren zu muͤſſen, 4425
oder wohl gar die
Wiſſenſchaft davon mit
die⸗
ſen
die⸗
ſem
Die Aussage bezieht sich
eindeutig auf Kohlhaas, deshalb ist der Singular
angebracht.
Menſchen
untergehen zu ſehen, ihn dem
Jammer und der
Verzweiflung nahe braͤchte.
Auf die Frage des Freundes: ob er denn
Ver⸗
ſuche gemacht, die Perſon
der Zigeunerin ſelbſt 4430
auszuforſchen?
erwiederte der Kurfuͤrſt, daß das
Kleiſts Erzaͤhl. N194FaksimileGubernium, auf einen Befehl, den er unter
einem falſchen Vorwand an dasſelbe erlaſſen,
dieſem Weibe vergebens, bis auf den
heutigen
Tag, in allen Plaͤtzen des
Kurfuͤrſtenthums 4435
nachſpuͤre: wobei er, aus
Gruͤnden, die er je⸗
doch naͤher zu entwickeln
ſich weigerte, uͤber⸗
haupt zweifelte, daß ſie
in Sachſen auszumit⸗
teln ſey. Nun traf es ſich, daß der Kaͤmmerer,
mehrerer betraͤchtlichen Guͤter wegen,
die ſeiner 4440
Frau aus der Hinterlaſſenſchaft
des abgeſetz⸗
ten und bald darauf
verſtorbenen Erzkanzlers,
Grafen Kallheim,
in der Neumark zugefallen
waren, nach
Berlin reiſen wollte; dergeſtalt,
daß, da
er den Kurfuͤrſten in der That liebte, er 4445
ihn nach einer kurzen Ueberlegung fragte: ob er
ihm in dieſer Sache freie Hand laſſen
wolle?
und da dieſer, indem er ſeine Hand
herzlich an
ſeine Bruſt druͤckte,
antwortete: „denke, du
ſeyſt ich, und
ſchaff mir den Zettel!“ ſo beſchleu⸗4450
nigte der Kaͤmmerer, nachdem er ſeine
Geſchaͤfte
abgegeben, um einige Tage ſeine
Abreiſe, und
fuhr, mit Zuruͤcklaſſung
ſeiner Frau, bloß von
einigen Bedienten
begleitet, nach Berlin ab.
Kohlhaas, der inzwiſchen, wie ſchon geſagt, 4455
in Berlin angekommen, und, auf einen
Spe⸗
cialbefehl des
Kurfuͤrſten, in ein ritterliches Ge⸗
faͤngniß gebracht worden war, das ihn mit
ſei⸗
nen fuͤnf Kindern, ſo
bequem als es ſich thun
ließ, empfing, war
gleich nach Erſcheinung 4460
des kaiſerlichen
Anwalds aus Wien, auf den
Grund wegen
Verletzung des oͤffentlichen, kaiſer⸗
lichen Landfriedens, vor den Schranken
des
Kammergerichts zur Rechenſchaft gezogen
wor⸗
den; und ob er ſchon in
ſeiner Verantwortung 4465
einwandte, daß er
wegen ſeines bewaffneten
Einfalls in
Sachſen, und der dabei veruͤbten
Gewaltthaͤtigkeiten, kraft des mit dem Kurfuͤr⸗
ſten von Sachſen zu Luͤtzen
abgeſchloſſenen
Vergleichs, nicht belangt
werden koͤnne: ſo er⸗4470
fuhr er doch, zu ſeiner
Belehrung, daß des
Kaiſers Majeſtaͤt, deren
Anwald hier die Be⸗
ſchwerde fuͤhre, darauf
keine Ruͤckſicht nehmen
koͤnne: ließ ſich
auch ſehr bald, da man ihm die
Sache
auseinander ſetzte und erklaͤrte, wie ihm 4475
dagegen von Dresden her, in ſeiner Sache ge⸗
gen den Junker Wenzel von Tronka,
voͤllige
N 2196FaksimileGenugthuung widerfahren werde, die Sache
gefallen. Demnach traf es ſich, daß
grade am
Tage der Ankunft des Kaͤmmerers,
das Geſetz 4480
uͤber ihn ſprach, und er
verurtheilt ward mit dem
Schwerdte vom
Leben zum Tode gebracht zu wer⸗
den; ein
Urtheil, an deſſen Vollſtreckung gleich⸗
wohl, bei der verwickelten Lage der Dinge,
ſeiner
Milde ungeachtet, niemand glaubte,
ja, das die 4485
ganze Stadt, bei dem Wohlwollen
das der Kur⸗
fuͤrſt fuͤr den Kohlhaas
trug, unfehlbar durch ein
Machtwort
desſelben, in eine bloße, vielleicht
beſchwerliche und langwierige Gefaͤngnißſtrafe
verwandelt zu ſehen hoffte. Der Kaͤmmerer, 4490
der
gleichwohl einſah, daß keine Zeit zu verlieren
ſeyn moͤgte, falls der Auftrag, den ihm
ſein
Herr gegeben, in Erfuͤllung gehen
ſollte, fing
ſein Geſchaͤft damit an, ſich
dem Kohlhaas,
am Morgen eines Tages, da
derſelbe in harm⸗4495
loſer Betrachtung der
Voruͤbergehenden, am
Fenſter ſeines
Gefaͤngniſſes ſtand, in ſeiner ge⸗
woͤhnlichen Hoftracht, genau und umſtaͤndlich
zu
zeigen; und da er, aus einer
ploͤtzlichen Bewe⸗
gung ſeines Kopfes,
ſchloß, daß der Roßhaͤndler 4500
197Faksimileihn bemerkt hatte, und beſonders, mit großem
Vergnuͤgen, einen unwillkuͤrlichen Griff
desſel⸗
ben mit der Hand auf
die Gegend der Bruſt,
wo die Kapſel lag,
wahrnahm: ſo hielt er das,
was in der Seele
desſelben in dieſem Augenblick 4505
vorgegangen
war, fuͤr eine hinlaͤngliche Vorbe⸗
reitung, um in dem Verſuch, des
Zettels habhaft
zu werden, einen Schritt
weiter vorzuruͤcken.
Er beſtellte ein altes, auf Kruͤcken
herumwan⸗
delndes Troͤdelweib
zu ſich, das er in den Stra⸗4510
ßen von Berlin,
unter einem Troß andern,
mit Lumpen
handelnden Geſindels bemerkt hatte,
und das
ihm, dem Alter und der Tracht nach,
ziemlich mit dem, das ihm der Kurfuͤrſt beſchrie⸗
ben hatte, uͤbereinzuſtimmen
ſchien; und in der 4515
Vorausſetzung, der
Kohlhaas werde ſich die
Zuͤge derjenigen,
die ihm in einer fluͤchtigen Er⸗
ſcheinung
den Zettel uͤberreicht hatte, nicht eben
tief eingepraͤgt haben, beſchloß er, das gedachte
Weib ſtatt ihrer unterzuſchieben, und bei
Kohl⸗4520
haas, wenn es ſich thun
ließe, die Rolle, als
ob ſie die
Zigeunerinn waͤre, ſpielen zu laſſen.
Dem gemaͤß, um ſie dazu in Stand zu ſetzen,
198Faksimileunterrichtete er
ſie umſtaͤndlich von Allem, was
zwiſchen
dem Kurfuͤrſten und der gedachten Zi⸗4525
geunerinn in Juͤterbock vorgefallen
war, wobei
er, weil er nicht wußte, wie
weit das Weib in
ihren Eroͤffnungen gegen
den Kohlhaas gegan⸗
gen war, nicht vergaß,
ihr beſonders die drei
geheimnißvollen, in
dem Zettel enthaltenen Ar⸗4530
tikel
einzuſchaͤrfen; und nachdem er ihr ausein⸗
andergeſetzt hatte, was ſie, auf
abgeriſſene und
unverſtaͤndliche Weiſe,
fallen laſſen muͤſſe, ge⸗
wiſſer
Anſtalten wegen, die man getroffen, ſey
es
durch Liſt oder durch Gewalt, des Zettels, 4535
der dem ſaͤchſiſchen Hofe von der aͤußerſten Wich⸗
tigkeit ſey, habhaft zu werden, trug
er ihr auf,
dem Kohlhaas den Zettel, unter
dem Vorwand,
daß derſelbe bei ihm nicht
mehr ſicher ſey, zur
Aufbewahrung waͤhrend
einiger verhaͤngnißvol⸗4540
len Tage,
abzufordern. Das Troͤdelweib
uͤber⸗
nahm auch ſogleich gegen
die Verheißung einer
betraͤchtlichen
Belohnung, wovon der Kaͤmme⸗
rer ihr auf
ihre Forderung einen Theil im Vor⸗
aus bezahlen
mußte, die Ausfuͤhrung des beſag⸗4545
ten
Geſchaͤfts; und da die Mutter des bei
199FaksimileMuͤhlberg gefallenen Knechts Herſe, den
Kohl⸗
haas, mit Erlaubniß der
Regierung, zuweilen
beſuchte, dieſe Frau
ihr aber ſeit einigen Mon⸗
den her, bekannt
war: ſo gelang es ihr, an 4550
einem der
naͤchſten Tage, vermittelſt einer kleinen
Gabe an den Kerkermeiſter, ſich bei dem Roß⸗
kamm Eingang zu verſchaffen. — Kohlhaas
aber, als
dieſe Frau zu ihm eintrat, meinte, an
einem
Siegelring, den ſie an der Hand trug, 4555
und
einer ihr vom Hals herabhangenden Coral⸗
lenkette, die bekannte alte
Zigeunerinn ſelbſt
wieder zu erkennen, die
ihm in Juͤterbock den
Zettel uͤberreicht
hatte; und wie denn die Wahr⸗
ſcheinlichkeit nicht immer auf Seiten
der Wahr⸗4560
heit iſt, ſo traf es ſich, daß hier
etwas geſchehen
war, das wir zwar
berichten: die Freiheit aber,
daran zu
zweifeln, demjenigen, dem es wohlge⸗
faͤllt, zugeſtehen muͤſſen: der Kaͤmmerer
hatte
den ungeheuerſten Mißgriff begangen,
und in 4565
dem alten Troͤdelweib, das er in den
Straßen
von Berlin aufgriff, um die
Zigeunerinn nach⸗
zuahmen, die
geheimnißreiche Zigeunerinn ſelbſt
getroffen, die er nachgeahmt wiſſen wollte. We⸗
200Faksimilenigſtens berichtete das Weib, indem
sie, auf 4570
ihre Kruͤcken gestuͤtzt, die
Wangen der Kinder
ſtreichelte, die ſich,
betroffen von ihrem wunder⸗
lichen
Anblick, an den Vater lehnten: daß ſie
ſchon ſeit geraumer Zeit aus dem Saͤchſiſchen ins
Brandenburgiſche zuruͤckgekehrt ſey, und
ſich, 4575
auf eine, in den Straßen von Berlin
unvor⸗
ſichtig gewagte Frage
des Kaͤmmerers, nach
der Zigeunerinn, die
im Fruͤhjahr des verfloſ⸗
ſenen
Jahres, in Juͤterbock geweſen, ſogleich
an
ihn gedraͤngt, und, unter einem falſchen 4580
Namen, zu dem Geſchaͤfte, das er beſorgt
wiſſen wollte, angetragen habe. Der
Roß⸗
haͤndler, der eine
ſonderbare Aehnlichkeit zwi⸗
ſchen ihr und
ſeinem verſtorbenen Weibe Lis⸗
beth bemerkte,
dergeſtalt, daß er ſie haͤtte fragen 4585
koͤnnen, ob ſie ihre Großmutter ſey: denn nicht
nur, daß die Zuͤge ihres Geſichts, ihre
Haͤnde,
auch in ihrem knoͤchernen Bau noch
ſchoͤn, und
beſonders der Gebrauch, den ſie
davon im Re⸗
den machte, ihn aufs Lebhafteſte an ſie
erinner⸗4590
ten: auch ein Mahl,
womit ſeiner Frauen Hals
bezeichnet war,
bemerkte er an dem ihrigen. Der
201FaksimileRoßhaͤndler
noͤthigte ſie, unter Gedanken, die
ſich
ſeltſam in ihm kreuzten, auf einen Stuhl
nieder, und fragte, was ſie in aller Welt in Ge⸗4595
ſchaͤften des Kaͤmmerers zu ihm fuͤhre?
Die
Frau,
waͤhrend der alte Hund des Kohlhaas ihre
Kniee umſchnuͤffelte, und von ihrer Hand ge⸗
kraut, mit dem Schwanz wedelte,
antwortete:
„der Auftrag, den ihr der
Kaͤmmerer gegeben, 4600
waͤre, ihm zu eroͤffnen,
auf welche drei dem ſaͤch⸗
ſiſchen
Hofe wichtigen Fragen der Zettel geheim⸗
nißvolle Antwort enthalte; ihn vor
einem Ab⸗
geſandten, der ſich in
Berlin befinde, um ſeiner
habhaft zu
werden, zu warnen: und ihm den 4605
Zettel,
unter dem Vorwande, daß er an ſeiner
Bruſt,
wo er ihn trage, nicht mehr ſicher ſey,
abzufordern. Die Abſicht aber, in
der ſie kom⸗
me, ſei, ihm zu ſagen, daß die Drohung
ihn
durch Argliſt oder Gewaltthaͤtigkeit um
den Zet⸗4610
tel zu bringen, abgeſchmackt, und ein
leeres Trug⸗
bild ſey; daß er unter
dem Schutz des Kurfuͤr⸗
ſten von Brandenburg,
in deſſen Verwahrſam er
ſich befinde, nicht
das Mindeſte fuͤr denſelben
zu befuͤrchten
habe; ja, daß das Blatt bei ihm 4615
202Faksimileweit ſicherer ſey, als bei ihr, und daß er ſich
wohl huͤten moͤgte, ſich durch
Ablieferung desſel⸗
ben, an wen und unter
welchem Vorwand es
auch ſey, darum bringen
zu laſſen. — Gleich⸗
wohl ſchloß ſie, daß ſie es fuͤr
klug hielte, von 4620
dem Zettel den Gebrauch zu
machen, zu welchem
ſie ihm denſelben auf
dem Jahrmarkt zu Juͤter⸗
bock eingehaͤndigt, dem
Antrag, den man ihm
auf der Graͤnze durch
den Junker von Stein ge⸗
macht, Gehoͤr
zu geben, und den Zettel, der 4625
ihm ſelbſt
weiter nichts nutzen koͤnne, fuͤr Freiheit
und Leben an den Kurfuͤrſten von Sachſen aus⸗
zuliefern.“ Kohlhaas, der uͤber die Macht
jauchzte,
die ihm gegeben war, ſeines Feindes
Ferſe,
in dem Augenblick, da ſie ihn in den 4630
Staub
trat, toͤdtlich zu verwunden, antwortete:
nicht um die Welt, Muͤtterchen, nicht um die
Welt! und druͤckte der Alten Hand, und
wollte
nur wiſſen, was fuͤr Antworten auf
die unge⸗
heuren Fragen im Zettel enthalten
waͤren? Die 4635
Frau, inzwiſchen ſie das Juͤngſte, das ſich zu
ihren Fuͤßen niedergekauert hatte, auf
den Schooß
nahm, ſprach: „nicht um die
Welt, Kohlhaas,
203Faksimileder
Roßhaͤndler; aber um dieſen huͤbſchen, kleinen,
blonden Jungen!“ und damit lachte ſie ihn
an, 4640
herzte und kuͤßte ihn, der ſie mit
großen Augen
anſah, und reichte ihm, mit
ihren duͤrren Haͤn⸗
den, einen Apfel, den ſie
in ihrer Taſche trug,
dar. Kohlhaas ſagte verwirrt: daß die Kinder
ſelbſt, wenn ſie groß waͤren, ihn, um
ſeines 4645
Verfahrens loben wuͤrden, und daß
er, fuͤr ſie
und ihre Enkel nichts
Heilſameres thun koͤnne,
als den Zettel
behalten. Zudem fragte er, wer
ihn, nach der Erfahrung, die er gemacht,
vor
einem neuen Betrug ſicher ſtelle, und
ob er nicht 4650
zuletzt, unnuͤtzer Weiſe, den
Zettel, wie juͤngſt
den Kriegshaufen, den
er in Luͤtzen zuſammenge⸗
bracht, an den Kurfuͤrſten aufopfern
wuͤrde?
„Wer mir
ſein Wort einmal gebrochen,“ ſprach
er,
„mit dem wechſle ich keins mehr; und nur 4655
deine Forderung, beſtimmt und unzweideutig,
trennt mich, gutes Muͤtterchen, von dem
Blatt,
durch welches mir fuͤr Alles, was
ich erlitten,
auf ſo wunderbare Weiſe
Genugthuung gewor⸗
den iſt.“ Die Frau, indem ſie das Kind auf den
Bo⸗4660
den ſetzte, ſagte: daß er
in mancherlei Hinſicht
204FaksimileRecht haͤtte, und daß er thun und laſſen koͤnnte,
was er wollte! Und damit nahm ſie ihre Kruͤcken
wieder
zur Hand, und wollte gehn. Kohlhaas
wiederholte ſeine Frage, den Inhalt
des wunder⸗4665
baren Zettels
betreffend; er wuͤnſchte, da ſie fluͤch⸗
tig
antwortete: „daß er ihn ja eroͤffnen koͤnne,
obſchon es eine bloße Neugierde waͤre,“ noch uͤber
tauſend andere Dinge, bevor ſie ihn
verließe, Auf⸗
ſchluß zu erhalten; wer
ſie eigentlich ſey, woher 4670
ſie zu der
Wiſſenſchaft, die ihr inwohne, komme,
warum
ſie dem Kurfuͤrſten, fuͤr den er doch ge⸗
ſchrieben, den Zettel verweigert, und
grade ihm,
unter ſo vielen tauſend
Menſchen, der ihrer Wiſ⸗
ſenſchaft
nie begehrt, das Wunderblatt uͤberreicht 4675
habe? — — Nun traf es ſich, daß in
eben dieſem
Augenblick ein Geraͤuſch
hoͤrbar ward, das ei⸗
nige Polizei-Officianten,
die die Treppe her⸗
aufſtiegen, verurſachten; dergeſtalt, daß
das
Weib, von ploͤtzlicher Beſorgniß, in
dieſen Ge⸗4680
maͤchern von ihnen
betroffen zu werden, ergriffen,
antwortete:
„auf Wiederſehen Kohlhaas, auf
Wiederſehn!
Es ſoll dir, wenn wir uns wieder⸗
treffen,
an Kenntniß uͤber dies Alles nicht feh⸗
205Faksimilelen!“
Und damit, indem ſie ſich gegen die Thuͤr
4685
wandte, rief ſie: „lebt wohl,
Kinderchen, lebt
wohl!“ kuͤßte das kleine
Geſchlecht nach der
Reihe, und ging ab.
Inzwiſchen hatte der Kurfuͤrſt von Sachſen,
ſeinen jammervollen Gedanken
preisgegeben, zwei 4690
Aſtrologen, Namens
Oldenholm und Olearius,
welche damals in
Sachſen in großem Anſehen
ſtanden,
herbeigerufen, und wegen des Inhalts
des
geheimnißvollen, ihm und dem ganzen Ge⸗
ſchlecht ſeiner Nachkommen ſo wichtigen
Zet⸗4695
tels zu Rathe gezogen; und
da die Maͤnner,
nach einer, mehrere Tage
lang im Schloßthurm
zu Dresden
fortgeſetzten, tiefſinnigen Unterſu⸗
chung, nicht einig werden konnten, ob
die Pro⸗
phezeihung ſich auf ſpaͤte
Jahrhunderte oder aber 4700
auf die jetzige Zeit
beziehe, und vielleicht die Krone
Pohlen,
mit welcher die Verhaͤltniſſe immer noch
ſehr kriegeriſch waren, damit gemeint ſey: ſo
wurde durch ſolchen gelehrten Streit,
ſtatt ſie
zu zerſtreuen, die Unruhe, um
nicht zu ſagen, 4705
Verzweiflung, in welcher
ſich dieſer ungluͤckliche
Herr befand, nur
geſchaͤrft, und zuletzt bis auf
206Faksimileeinen Grad, der ſeiner Seele ganz unertraͤglich
war, vermehrt. Dazu kam, daß der Kaͤmme⸗
rer um dieſe Zeit ſeiner Frau, die
im Begriff 4710
ſtand, ihm nach Berlin zu
folgen, auftrug, dem
Kurfuͤrſten, bevor ſie
abreiſte, auf eine geſchickte
Art
beizubringen, wie mißlich es nach einem ver⸗
ungluͤckten Verſuch, den
er mit einem Weibe ge⸗
macht, das ſich ſeitdem
nicht wieder habe blicken 4715
laſſen, mit der
Hoffnung ausſehe, des Zettels
in deſſen
Beſitz der Kohlhaas ſey, habhaft zu
werden,
indem das uͤber ihn gefaͤllte Todesur⸗
theil, nunmehr, nach einer
umſtaͤndlichen Pruͤ⸗
fung der Acten, von dem
Kurfuͤrſten von Bran⸗4720
denburg unterzeichnet,
und der Hinrichtungstag
bereits auf den
Montag nach Palmarum feſtge⸗
ſetzt ſey;
auf welche Nachricht der Kurfuͤrſt ſich,
das Herz von Kummer und Reue zerriſſen, gleich
einem ganz Verlorenen, in ſeinem Zimmer
ver⸗4725
ſchloß, waͤhrend zwei Tage,
des Lebens ſatt,
keine Speiſe zu ſich nahm,
und am dritten ploͤtz⸗
lich, unter der kurzen
Anzeige an das Guber⸗
nium, daß er zu dem
Fuͤrſten von Deſſau auf
die Jagd reiſe, aus
Dresden verſchwand. Wo⸗4730
207Faksimilehin er eigentlich
ging, und ob er ſich nach Deſ⸗
ſau wandte,
laſſen wir dahin geſtellt ſeyn, indem
die
Chroniken, aus deren Vergleichung wir Be⸗
richt
erſtatten, an dieſer Stelle, auf befremdende
Weiſe, einander widerſprechen und aufheben. 4735
Gewiß iſt, daß der
Fuͤrſt von Deſſau, unfaͤhig zu
jagen, um
dieſe Zeit krank in Braunſchweig, bei
ſeinem Oheim, dem Herzog Heinrich, lag, und
daß die Dame Heloiſe, am Abend des
folgenden
Tages, in Geſellſchaft eines
Grafen von Koͤnig⸗4740
ſtein, den ſie fuͤr
ihren Vetter ausgab, bei dem
Kaͤmmerer
Herrn Kunz, ihrem Gemahl, in Ber⸗
lin eintraf. —
Inzwiſchen war dem Kohlhaas,
auf Befehl des Kurfuͤrſten, das
Todesurtheil
vorgeleſen, die Ketten
abgenommen, und die 4745
uͤber ſein Vermoͤgen
lautenden Papiere, die ihm
in Dresden
abgeſprochen worden waren, wieder
zugeſtellt worden; und da die Raͤthe, die das
Gericht an ihn abgeordnet hatte, ihn
fragten,
wie er es mit dem, was er beſitze,
nach ſeinem 4750
Tode gehalten wiſſen wolle: ſo
verfertigte er,
mit Huͤlfe eines Notars, zu
ſeiner Kinder Gun⸗
ſten ein Teſtament, und
ſetzte den Amtmann zu
208FaksimileKohlhaaſenbruͤck, ſeinen wackern Freund, zum
Vormund derſelben ein. Demnach glich nichts 4755
der Ruhe und Zufriedenheit ſeiner letzten Tage;
denn auf eine ſonderbare
Special-Verordnung des
Kurfuͤrſten war bald
darauf auch noch der Zwin⸗
ger, in welchem
er ſich befand, eroͤffnet, und allen
ſeinen
Freunden, deren er ſehr viele in der Stadt 4760
beſaß, bei Tag und Nacht freier Zutritt zu ihm
verſtattet worden. Ja, er hatte noch die Ge⸗
nugthuung, den Theologen Jacob
Freiſing, als
einen Abgeſandten Doctor
Luthers, mit einem
eigenhaͤndigen, ohne
Zweifel ſehr merkwuͤrdigen 4765
Brief, der aber
verloren gegangen iſt, in ſein
Gefaͤngniß
treten zu ſehen, und von dieſem geiſt⸗
lichen Herrn in Gegenwart zweier
brandenbur⸗
giſchen Dechanten, die ihm an die
Hand gingen,
die Wohlthat der heiligen
Kommunion zu em⸗4770
pfangen. Hierauf erſchien nun, unter einer all⸗
gemeinen Bewegung der Stadt, die ſich
immer
noch nicht entwoͤhnen konnte, auf ein
Macht⸗
wort, das ihn rettete,
zu hoffen, der verhaͤng⸗
nißvolle Montag nach Palmarum, an
welchem 4775
er die Welt, wegen des allzuraſchen
Verſuchs,
ſich209Faksimileſich ſelbſt
in ihr Recht verſchaffen zu wollen, ver⸗
ſoͤhnen ſollte. Eben trat er, in Begleitung einer
ſtarken
Wache, ſeine beiden Knaben auf dem
Arm
(denn dieſe Verguͤnſtigung hatte er ſich 4780
ausdruͤcklich vor den Schranken des Gerichts
ausgebeten), von dem Theologen
Jakob
Jacob [emendiert ohne Hinweis im
Kommentar]
Jacob [emendiert ohne Hinweis im
Kommentar]
Frei⸗
ſing gefuͤhrt, aus dem Thor ſeines
Gefaͤngniſſes,
als unter einem wehmuͤthigen
Gewimmel von
Bekannten, die ihm die Haͤnde
druͤckten, und 4785
von ihm Abſchied nahmen, der
Kaſtellan des
kurfuͤrſtlichen Schloſſes,
verſtoͤrt im Geſicht, zu
ihm herantrat, und
ihm ein Blatt gab, das
ihm, wie er ſagte,
ein altes Weib fuͤr ihn einge⸗
haͤndigt.
Kohlhaas, waͤhrend er den Mann 4790
der ihm nur wenig bekannt war, befremdet
an⸗
ſah, eroͤffnete das Blatt,
deſſen Siegelring ihn,
im Mundlack
ausgedruͤckt, ſogleich an die be⸗
kannte
Zigeunerin erinnerte. Aber wer
beſchreibt
das Erſtaunen, das ihn ergriff,
als er folgende 4795
Nachricht darin fand:
„Kohlhaas, der Kurfuͤrſt
von Sachſen iſt in
Berlin; auf den Richtplatz
ſchon iſt er
vorangegangen, und wird, wenn dir
daran
liegt, an einem Huth, mit blauen und
Kleiſts Erzaͤhl. O210Faksimile
weißen Federbuͤſchen kenntlich ſeyn. Die Ab⸗4800
ſicht, in der er koͤmmt, brauche ich
dir nicht zu
ſagen; er will die Kapſel,
ſobald du verſcharrt
biſt, ausgraben, und
den Zettel, der darin be⸗
findlich
iſt, eroͤffnen laſſen. — Deine
Eliſabeth.“
—
Kohlhaas, indem er ſich auf das Aeußerſte 4805
beſtuͤrzt zu dem Kaſtellan umwandte, fragte ihn:
ob er das wunderbare Weib, das ihm den
Zettel
uͤbergeben, kenne? Doch da der Kaſtellan ant⸗
wortete: „Kohlhaas, das Weib“ — — und
in Mitten der Rede auf ſonderbare
Weiſe ſtockte, 4810
ſo konnte er, von dem Zuge,
der in dieſem Au⸗
genblick wieder antrat,
fortgeriſſen, nicht ver⸗
nehmen, was
der Mann, der an allen Gliedern
zu zittern
ſchien, vorbrachte. — Als er auf dem
Richtplatz ankam, fand er den
Kurfuͤrſten von 4815
Brandenburg mit ſeinem
Gefolge, worunter ſich
auch der Erzkanzler,
Herr Heinrich von Geuſau
befand, unter
einer unermeßlichen Menſchenmen⸗
ge,
daſelbſt zu Pferde halten: ihm zur Rechten der
kaiſerliche Anwald Franz Muͤller, eine
Abſchrift 4820
des Todesurtheils in der Hand;
ihm zur Linken,
mit dem Concluſum des
Dresdner Hofgerichts,
211Faksimilesein eigener Anwald, der Rechtſgelehrte
Anton
Zaͤuner; ein Herold in der Mitte des
halboffe⸗
nen Kreiſes, den das
Volk ſchloß, mit einem 4825
Buͤndel Sachen, und
den beiden, von Wohl⸗
ſein glaͤnzenden, die
Erde mit ihren Hufen ſtam⸗
pfenden
Rappen. Denn der Erzkanzler, Herr
Heinrich, hatte die Klage, die er, im
Namen
ſeines Herrn, in Dresden anhaͤngig
gemacht, 4830
Punkt fuͤr Punkt, und ohne die
mindeſte Ein⸗
ſchraͤnkung gegen den
Junker Wenzel von Tron⸗
ka, durchgeſetzt;
dergeſtalt, daß die Pferde, nach⸗
dem man ſie
durch Schwingung einer Fahne
uͤber ihre
Haͤupter, ehrlich gemacht, und aus den 4835
Haͤnden des Abdeckers, der ſie ernaͤhrte, zuruͤck⸗
gezogen hatte, von den Leuten des
Junkers dick⸗
gefuͤttert, und in
Gegenwart einer eigens dazu
niedergeſetzten
Kommiſſion, dem Anwald, auf
dem Markt zu
Dresden, uͤbergeben worden wa⸗4840
ren. Demnach ſprach der Kurfuͤrſt, als Kohl⸗
haas von der Wache begleitet, auf den
Huͤgel zu
ihm heranſchritt: Nun, Kohlhaas,
heut iſt der
Tag, an dem dir dein Recht
geſchieht! Schau
her, hier liefere ich dir Alles, was du auf der 4845
O 2212FaksimileTronkenburg gewaltſamer Weiſe eingebuͤßt, und
was ich, als dein Landesherr, dir wieder
zu ver⸗
ſchaffen, ſchuldig war, zuruͤck:
Rappen, Hals⸗
tuch, Reichsgulden,
Waͤſche, bis auf die Kur⸗
koſten ſogar
fuͤr deinen bei Muͤhlberg gefallenen 4850
Knecht
Herſe. Biſt du mit mir zufrieden? —
Kohlhaas, waͤhrend er das, ihm auf den Wink
des Erzkanzlers eingehaͤndigte
Concluſum, mit
großen, funkelnden Augen
uͤberlas, ſetzte die bei⸗
den Kinder, die er auf dem
Arm trug, neben 4855
ſich auf den Boden nieder;
und da er auch einen
Artikel darin fand, in
welchem der Junker Wen⸗
zel zu zweijaͤhriger
Gefaͤngnißſtrafe verurtheilt
ward: ſo ließ
er ſich, aus der Ferne, ganz uͤber⸗
waͤltigt von Gefuͤhlen, mit
kreuzweis auf die 4860
Bruſt gelegten Haͤnden,
vor dem Kurfuͤrſten
nieder. Er verſicherte freudig dem Erzkanzler,
indem er aufſtand, und die Hand auf
ſeinen
Schooß legte, daß ſein hoͤchſter
Wunſch auf Er⸗
den erfuͤllt ſey; trat an
die Pferde heran, mu⸗4865
ſterte ſie, und klopfte
ihren feiſten Hals; und er⸗
klaͤrte dem
Kanzler, indem er wieder zu ihm zu⸗
ruͤckkam, heiter: „daß er ſie ſeinen beiden
Soͤh⸗
213Faksimilenen
Heinrich und Leopold ſchenke!“ Der
Kanz⸗
ler, Herr Heinrich von
Geuſau, vom Pferde 4870
herab mild zu ihm
gewandt, verſprach ihm, in
des Kurfuͤrſten
Namen, daß ſein letzter Wille
heilig
gehalten werden ſolle: und forderte ihn
auf, auch uͤber die uͤbrigen im Buͤndel befindli⸗
chen Sachen, nach ſeinem
Gutduͤnken zu ſchal⸗4875
ten. Hierauf rief Kohlhaas die alte Mutter
Herſens, die er auf dem Platz
wahrgenommen
hatte, aus dem Haufen des
Volks hervor, und
indem er ihr die Sachen
uͤbergab, ſprach er:
„da, Muͤtterchen; das
gehoͤrt dir!“ — die 4880
Summe, die, als
Schadenerſatz fuͤr ihn, bei
den
dem
im Buͤndel liegenden Gelde befindlich war,
als
ein Geſchenk noch, zur Pflege und
Erquickung ih⸗
rer alten Tage,
hinzufuͤgend. — — Der Kur⸗
fuͤrſt rief: „nun, Kohlhaas, der
Roßhaͤndler, 4885
du, dem ſolchergeſtalt
Genugthuung geworden,
mache dich bereit,
kaiſerlicher Majeſtaͤt, deren
Anwald hier
ſteht, wegen des Bruchs ihres
Landfriedens,
deinerseits Genugthuung zu ge⸗
ben!“ Kohlhaas, indem er ſeinen Huth abnahm, 4890
und auf die Erde warf, ſagte: daß er
bereit dazu
214Faksimilewaͤre!
uͤbergab die Kinder, nachdem er ſie noch
einmal vom Boden erhoben, und an ſeine Bruſt
gedruͤckt hatte, dem Amtmann von
Kohlhaaſen⸗
bruͤck, und trat, waͤhrend dieſer ſie unter
ſtillen 4895
Thraͤnen, vom Platz hinwegfuͤhrte,
an den
Block. Eben knuͤpfte er ſich das Tuch vom
Hals ab
und oͤffnete ſeinen Bruſtlatz: als er,
mit
einem fluͤchtigen Blick auf den Kreis, den
das Volk bildete, in geringer Entfernung von 4900
ſich, zwiſchen zwei Rittern, die ihn mit
ihren
Leibern halb deckten, den
wohlbekannten Mann
mit blauen und weißen
Federbuͤſchen wahrnahm.
Kohlhaas loͤſte ſich, indem er mit einem
ploͤtzli⸗
chen, die Wache, die
ihn umringte, befremden⸗4905
den Schritt, dicht
vor ihn trat, die Kapſel von
der Bruſt; er
nahm den Zettel heraus, entſie⸗
gelte ihn,
und uͤberlas ihn: und das Auge un⸗
verwandt auf
den Mann mit blauen und weißen
Federbuͤſchen gerichtet, der bereits ſuͤßen Hoff⸗4910
nungen Raum zu geben anfing, ſteckte
er
ihn in den Mund und verſchlang ihn.
Der
Mann mit
blauen und weißen Federbuͤſchen ſank,
bei
dieſem Anblick, ohnmaͤchtig, in Kraͤmpfen
215Faksimilenieder. Kohlhaas aber, waͤhrend die beſtuͤrzten 4915
Begleiter desſelben ſich herabbeugten, und ihn
vom Boden aufhoben, wandte ſich zu dem
Schaffot, wo ſein Haupt unter dem
Beil des
Scharfrichters fiel. Hier endigt
die Geſchichte
vom Kohlhaas. Man legte die Leiche unter 4920
einer allgemeinen Klage des Volks in
einen
Sarg; und waͤhrend die Traͤger ſie
aufhoben,
um ſie anſtaͤndig auf den
Kirchhof der Vorſtadt
zu begraben, rief der
Kurfuͤrſt die Soͤhne des
Abgeſchiedenen
herbei und ſchlug ſie, mit der 4925
Erklaͤrung
an den Erzkanzler, daß ſie in ſeiner
Pagenſchule erzogen werden ſollten, zu Rittern.
Der Kurfuͤrſt von
Sachſen kam bald darauf,
zerriſſen an Leib
und Seele, nach Dresden zu⸗
ruͤck, wo man
das Weitere in der Geſchichte 4930
nachleſen
muß. Vom Kohlhaas aber haben noch
im vergangenen Jahrhundert, im
Mecklenbur⸗
giſchen, einige frohe und ruͤſtige
Nachkommen
gelebt.