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Der Findling.

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[BKA II/5 19–58] [DKV III 265–283] [SE:1993 II 197–215] [MA II 204–220] [ 235–254] 93Faksimile

Der Findling.

Antonio Piachi, ein wohlhabender Guͤ⸗
terhaͤndler
in Rom, war genoͤthigt, in ſeinen
Handelsgeſchaͤften zuweilen große Reiſen zu
machen.
Er pflegte dann gewoͤhnlich Elvire,
ſeine junge Frau, unter dem Schutz ihrer 5
Verwandten, daſelbſt zuruͤckzulaſſen.
Eine
dieſer Reiſen fuͤhrte ihn ihm ihn [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] mit ſeinem Sohn
Paolo, einem eilfjaͤhrigen Knaben, den ihm
ſeine erſte Frau gebohren hatte, nach Raguſa.

Es traf ſich, daß hier eben eine peſtartige 10
Krankheit ausgebrochen war, welche die Stadt
und Gegend umher in großes Schrecken ſetzte.

Piachi, dem die Nachricht davon erſt auf der
Reiſe zu Ohren gekommen war, hielt in der
94FaksimileVorſtadt an, um ſich nach der Natur derſel⸗15
ben
zu erkundigen.
Doch da er hoͤrte, daß
das Uebel von Tage zu Tage bedenklicher wer⸗
de
, und daß man damit umgehe, die Thore
zu ſperren; ſo uͤberwand die Sorge fuͤr ſei⸗
nen
Sohn alle kaufmaͤnniſchen Intereſſen: er 20
nahm Pferde und reiſete wieder ab.

Er bemerkte, da er im Freien war, einen
Knaben neben ſeinem Wagen, der, nach Art
der Flehenden, die Haͤnde zu ihm ausſtreckte
und in großer Gemuͤthsbewegung zu ſein 25
ſchien.
Piachi ließ halten; und auf die Fra⸗
ge
: was er wolle? antwortete der Knabe in
ſeiner Unſchuld: er ſei angeſteckt; die Haͤſcher
verfolgten ihn, um ihn ins Krankenhaus zu
bringen, wo ſein Vater und ſeine Mutter 30
ſchon geſtorben waͤren; er bitte um aller Hei⸗
ligen
willen, ihn mitzunehmen, und nicht in
der Stadt umkommen zu laſſen.
Dabei faßte
er des Alten Hand, druͤckte und kuͤßte ſie
und weinte darauf nieder.
Piachi wollte in 35
der erſten Regung des Entſetzens, den Jun⸗
gen
weit von ſich ſchleudern; doch da dieſer,
95Faksimilein eben dieſem Augenblick, ſeine Farbe ver⸗
aͤnderte
und ohnmaͤchtig auf den Boden nie⸗
derſank
, ſo regte ſich des guten Alten Mit⸗40
leid
: er ſtieg mit ſeinem Sohn aus, legte
den Jungen in den Wagen, und fuhr mit
ihm fort, obſchon er auf der Welt nicht
wußte, was er mit demſelben anfangen ſollte.

Er unterhandelte noch, in der erſten Sta⸗45
tion
, mit den Wirthsleuten, uͤber die Art
und Weiſe, wie er ſeiner wieder los werden
koͤnne: als er ſchon auf Befehl der Polizei,
welche davon Wind bekommen hatte, arretirt
und unter einer Bedeckung, er, ſein Sohn 50
und Nicolo, ſo hieß der kranke Knabe, wie⸗
der
nach Raguſa zuruͤck transportirt ward.

Alle Vorſtellungen von Seiten Piachis, uͤber
die Grauſamkeit dieſer Maaßregel, halfen zu
nichts; in Raguſa angekommen, wurden nun⸗55
mehr
alle drei, unter Aufſicht eines Haͤſchers,
nach dem Krankenhauſe abgefuͤhrt, wo er
zwar, Piachi, geſund blieb, und Nicolo, der
Knabe, ſich von dem Uebel wieder erholte:
ſein Sohn aber, der eilfjaͤhrige Paolo, von 60
96Faksimiledemſelben angeſteckt ward, und in drei Ta⸗
gen
ſtarb.

Die Thore wurden nun wieder geoͤffnet
und Piachi, nachdem er ſeinen Sohn begra⸗
ben
hatte, erhielt von der Polizei Erlaub⸗65
ni
ß, zu reiſen.
Er beſtieg eben, ſehr von
Schmerz bewegt, den Wagen und nahm, bei
dem Anblick des Platzes, der neben ihm leer
blieb, ſein Schnupftuch heraus, um ſeine
Thraͤnen fließen zu laſſen: als Nicolo, mit 70
der Muͤtze in der Hand, an ſeinen Wagen
trat und ihm eine gluͤckliche Reiſe wuͤnſchte.

Piachi beugte ſich aus dem Schlage heraus
und fragte ihn, mit einer von heftigem Schluch⸗
zen
unterbrochenen Stimme: ob er mit ihm 75
reiſen wollte?
Der Junge, ſobald er den
Alten nur verſtanden hatte, nickte und ſprach:
o ja! ſehr gern; und da die Vorſteher des
Krankenhauſes
, auf die Frage des Guͤter
haͤndlers
: ob es dem Jungen wohl erlaubt 80
waͤre, einzuſteigen? laͤchelten und verſicher⸗
ten
: daß er Gottes Sohn waͤre und niemand
ihn vermiſſen wuͤrde; ſo hob ihn Piachi, in
einer 97Faksimileeiner großen Bewegung, in den Wagen, und
nahm ihn, an ſeines Sohnes ſtatt, mit ſich 85
nach Rom.

Auf der Straße, vor den Thoren der
Stadt, ſah ſich der Landmaͤkler den Jun⸗
gen
erſt recht an.
Er war von einer beſon⸗
dern
, etwas ſtarren Schoͤnheit, ſeine ſchwar⸗90
zen
Haare hingen ihm, in ſchlichten Spitzen,
von der Stirn herab, ein Geſicht beſchat⸗
tend
, das, ernſt und klug, ſeine Mienen nie⸗
mals
veraͤnderte.
Der Alte that mehrere
Fragen an ihn, worauf jener aber nur kurz95
antwortete: ungeſpraͤchig und in ſich gekehrt
ſaß er, die Haͤnde in die Hoſen geſteckt, im Win⸗
kel
da, und ſah ſich, mit gedankenvoll ſcheuen
Blicken, die Gegenſtaͤnde an, die an dem
Wagen voruͤberflogen.
Von Zeit zu Zeit holte 100
er ſich, mit ſtillen und geraͤuſchloſen Bewe⸗
gungen
, eine Handvoll Nuͤſſe aus der Ta⸗
ſche
, die er bei ſich trug, und waͤhrend Pia⸗
chi
ſich die Thraͤnen vom Auge wiſchte, nahm
er ſie zwiſchen die Zaͤhne und knackte ſie auf.
105

In Im Im [nicht emendiert] Im [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] Rom ſtellte ihn Piachi, unter einer
Kleiſts Erzaͤhl. 2te S. G 98Faksimilekurzen Erzaͤhlung des Vorfalls, Elviren, ſei⸗
ner
jungen trefflichen Gemahlinn vor, wel⸗
che
ſich zwar nicht enthalten konnte, bei dem
Gedanken an Paolo, ihren kleinen Stiefſohn, 110
den ſie ſehr geliebt hatte, herzlich zu weinen;
gleichwohl aber den dem den [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] Nicolo, ſo fremd und
ſteif er auch vor ihr ſtand, an ihre Bruſt
druͤckte, ihm das Bette, worin jener geſchla⸗
fen
hatte, zum Lager anwies, und ſaͤmmt⸗115
liche
Kleider desſelben zum Geſchenk machte.

Piachi ſchickte ihn in die Schule, wo er
Schreiben, Leſen und Rechnen lernte, und
da er, auf eine leicht begreifliche Weiſe, den
Jungen in dem Maaße lieb gewonnen, als 120
er ihm theuer zu ſtehen gekommen war, ſo
adoptirte er ihn, mit Einwilligung der guten
Elvire, welche von dem Alten keine Kinder
mehr zu erhalten hoffen konnte, ſchon nach
wenigen Wochen, als ſeinen Sohn.
Er 125
dankte ſpaͤterhin einen Commis ab, mit dem
er, aus mancherlei Gruͤnden, unzufrieden
war, und hatte, da er den Nicolo, ſtatt
ſeiner, in dem Comtoir anſtellte, die Freude
99Faksimilezu ſehn, daß derſelbe die weitlaͤuftigen Ge⸗130
ſchaͤfte
, in welchen er verwickelt war, auf
das Thaͤtigſte und Vortheilhafteſte verwal⸗
tete
.
Nichts hatte der Vater, der ein ge⸗
ſchworner
Feind aller Bigotterie war, an ihm ihn ihm [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar]
auszuſetzen, als den Umgang mit den Moͤn⸗135
chen
des Carmeliterkloſters
, die dem jungen
Mann
, wegen des betraͤchtlichen Vermoͤgens
das ihm einſt, aus der Hinterlaſſenſchaft des
Alten, zufallen ſollte, mit großer Gunſt zu⸗
gethan
waren; und nichts ihrer Seits die 140
Mutter, als einen fruͤh, wie es ihr ſchien,
in der Bruſt desſelben ſich regenden Hang fuͤr
das weibliche Geſchlecht.
Denn ſchon in ſei⸗
nem
funfzehnten fuͤnfzehnten Jahre, war er, bei Gele⸗
genheit
dieſer Moͤnchsbeſuche, die Beute der 145
Verfuͤhrung einer gewiſſen Xaviera Tar⸗
tini
,
Beiſchlaͤferinn ihres Biſchoffs, gewor⸗
den
, und ob er gleich, durch die ſtrenge For⸗
derung
des Alten genoͤthigt, dieſe Verbin⸗
dung
zerriß, ſo hatte Elvire doch mancher⸗150
lei
Gruͤnde zu glauben, daß ſeine Enthalt⸗
ſamkeit
auf dieſem gefaͤhrlichen Felde nicht
G 2 100Faksimileeben groß war.
Doch da Nicolo ſich, in
ſeinem zwanzigſten Jahre, mit Conſtanza
Parquet,
einer jungen liebenswuͤrdigen 155
Genueſerinn, Elvirens Nichte, die unter ih⸗
rer
Aufſicht in Rom erzogen wurde, ver⸗
maͤhlte
, ſo ſchien, ſchien wenigſtens das letzte Uebel
damit an der Quelle verſtopft; beide Eltern
vereinigten ſich in der Zufriedenheit mit ihm,160
und um ihm davon einen Beweis zu geben,
ward ihm eine glaͤnzende Ausſtattung zu Theil,
wobei ſie ihm einen betraͤchtlichen Theil ih⸗
res
ſchoͤnen und weitlaͤuftigen Wohnhauſes
einraͤumten.
Kurz, als Piachi ſein ſechzig⸗165
ſtes
Jahr erreicht hatte, that er das Letzte
und Aeußerſte, was er fuͤr ihn thun konnte:
er uͤberließ ihm, auf gerichtliche Weiſe, mit
Ausnahme eines kleinen Capitals, das er
ſich vorbehielt, das ganze Vermoͤgen, das 170
ſeinem Guͤterhandel zum Grunde lag, und
zog ſich, mit ſeiner treuen, trefflichen Elvire,
die wenige Wuͤnſche in der Welt hatte, in
den Ruheſtand zuruͤck.

Elvire hatte einen ſtillen Zug von Trau⸗175
101Faksimilerigkeit
im Gemuͤth, der ihr aus einem ruͤh⸗
renden
Vorfall, aus der Geſchichte ihrer Kind⸗
heit
, zuruͤckgeblieben war. Philippo Parquet,
ihr Vater, ein bemittelter Tuchfaͤrber in Ge⸗
nua
, bewohnte ein Haus, das, wie es ſein 180
Handwerk erforderte, mit der hinteren Seite
hart an den, mit Quaderſteinen eingefaßten,
Rand des Meeres ſtieß; große, am Giebel
eingefugte Balken, an welchen die gefaͤrbten
Tuͤcher aufgehaͤngt wurden, liefen, mehrere 185
Ellen weit, uͤber die See hinaus.
Einſt, in
einer ungluͤcklichen Nacht, da Feuer das Haus
ergriff, und gleich, als ob es von Pech und
Schwefel erbaut waͤre, zu gleicher Zeit in
allen Gemaͤchern, aus welchen es zuſammen⸗190
geſetzt
war, emporknitterte, fluͤchtete ſich,
uͤberall von Flammen geſchreckt, die dreizehn⸗
jaͤhrige
Elvire von Treppe zu Treppe, und
befand ſich, ſie wußte ſelbſt nicht wie, auf
einem dieſer Balken.
Das arme Kind wußte, 195
zwiſchen Himmel und Erde ſchwebend, gar
nicht, wie es ſich retten ſollte; hinter ihr
der brennende Giebel, deſſen Glut, vom
102FaksimileWinde gepeitſcht, ſchon den Balken angefreſ⸗
ſen
hatte, und unter ihr die weite, oͤde, ent⸗200
ſetzliche
See.
Schon wollte ſie ſich allen
Heiligen empfehlen und unter zwei Uebeln
das Kleinere waͤhlend, in die Fluthen hin⸗
abſpringen
; als ploͤtzlich ein junger Genueſer,
vom Geſchlecht der Patrizier, am Eingang 205
erſchien, ſeinen Mantel uͤber den Balken
warf, ſie umfaßte, und ſich, mit eben ſo viel
Muth als Gewandtheit, an einem der feuch⸗
ten
Tuͤcher, die von dem Balken niederhin⸗
gen
, in die See mit ihr herabließ.
Hier 210
griffen Gondeln, die auf dem Hafen ſchwam⸗
men
, ſie auf, und brachten ſie, unter vielem
Jauchzen des Volks, ans Ufer; doch es fand
ſich, daß der junge Held, ſchon beim Durch⸗
gang
durch das Haus, durch einen vom Ge⸗215
ſims
desſelben herabfallenden Stein, eine
ſchwere Wunde am Kopf empfangen hatte,
die ihn auch bald, ſeiner Sinne nicht maͤch⸗
tig
, am Boden niederſtreckte.
Der Mar⸗
quis
, ſein Vater, in deſſen Hotel er gebracht 220
ward, rief, da ſeine Wiederherſtellung ſich
103Faksimilein die Laͤnge zog, Aerzte aus allen Gegen⸗
den
Italiens herbei, die ihn zu verſchiedenen
Malen trepanirten und ihm mehrere Kno⸗
chen
aus dem Gehirn nahmen; doch alle 225
Kunſt war, durch eine unbegreifliche Schik⸗
kung
des Himmels, vergeblich: er erſtand nur
ſelten an der Hand Elvirens, die ſeine Mut⸗
ter
zu ſeiner Pflege herbeigerufen hatte, und
nach einem dreijaͤhrigen hoͤchſt ſchmerzenvollen 230
Krankenlager, waͤhrend deſſen das Maͤdchen
nicht von ſeiner Seite wich, reichte er ihr
noch einmal freundlich die Hand und ver⸗
ſchied
.

Piachi, der mit dem Hauſe dieſes Herrn 235
in Handelsverbindungen ſtand, und Elviren
eben dort, da ſie ihn pflegte, kennen gelernt
und zwei Jahre darauf geheirathet hatte,
huͤtete ſich ſehr, ſeinen Namen vor ihr zu
nennen, oder ſie ſonſt an ihn zu erinnern, 240
weil er wußte, daß es ihr ſchoͤnes und em⸗
pfindliches
Gemuͤth auf das heftigſte bewegte.

Die mindeſte Veranlaſſung, die ſie auch nur
von fern an die Zeit erinnerte, da der Juͤng⸗
104Faksimileling
fuͤr ſie litt und ſtarb, ruͤhrte ſie immer 245
bis zu Thraͤnen, und alsdann gab es keinen
Troſt und keine Beruhigung fuͤr ſie; ſie brach,
wo ſie auch ſein mogte, auf, und keiner
folgte ihr, weil man ſchon erprobt hatte, daß
jedes andere Mittel vergeblich war, als ſie ſtill 250
fuͤr ſich, in der Einſamkeit, ihren Schmerz
ausweinen zu laſſen.
Niemand, außer Pi⸗
achi
, kannte die Urſache dieſer ſonderbaren
und haͤufigen Erſchuͤtterungen, denn niemals,
ſo lange ſie lebte, war ein Wort, jene Be⸗255
gebenheit
betreffend, uͤber ihre Lippen gekom⸗
men
.
Man war gewohnt, ſie auf Rechnung
eines uͤberreizten Nervenſyſtems zu ſetzen, das
ihr aus einem hitzigen Fieber, in welches ſie
gleich nach ihrer Verheirathung verfiel, zu⸗260
ruͤckgeblieben
war, und ſomit allen Nachfor⸗
ſchungen
uͤber die Veranlaſſung derſelben ein
Ende zu machen.

Einſtmals war Nicolo, mit jener Xaviera
Tartini, mit welcher er, trotz des Verbots 265
des Vaters, die Verbindung nie ganz auf⸗
gegeben
hatte, heimlich, und ohne Vorwiſſen
105Faksimileſeiner Gemahlin, unter der Vorſpiegelung,
daß er bei einem Freund eingeladen ſei, auf
dem Carneval geweſen und kam, in der Maske 270
eines genueſiſchen Ritters, die er zufaͤllig ge⸗
waͤhlt
hatte, ſpaͤt in der Nacht, da ſchon
alles ſchlief, in ſein Haus zuruͤck.
Es traf
ſich, daß dem Alten ploͤtzlich eine Unpaͤßlich⸗
keit
zugeſtoßen war, und Elvire, um ihm zu 275
helfen, in Ermangelung der Maͤgde, aufge⸗
ſtanden
, und in den Speiſeſaal gegangen war,
um ihm eine Flaſche mit Eſſig zu holen.
Eben
hatte ſie einen Schrank, der in dem Winkel
ſtand, geoͤffnet, und ſuchte, auf der Kante 280
eines Stuhles ſtehend, unter den Glaͤſern
und Caravinen umher: als Nicolo die Thuͤr
ſacht oͤffnete, und mit einem Licht, das er
ſich auf dem Flur angeſteckt hatte, mit Fe⸗
derhut
, Mantel und Degen, durch den Saal 285
ging.
Harmlos, ohne Elviren zu ſehen, trat
er an die Thuͤr, die in ſein Schlafgemach
fuͤhrte, und bemerkte eben mit Beſtuͤrzung,
daß ſie verſchloſſen war: als Elvire hinter
ihm, mit Flaſchen und Glaͤſern, die ſie in 290
106Faksimileder Hand hielt, wie durch einen unſichtbaren
Blitz getroffen, bei ſeinem Anblick von dem
Schemel, auf welchem ſie ſtand, auf das Ge⸗
taͤfel
des Bodens niederfiel.
Nicolo, von
Schrecken bleich, wandte ſich um und wollte 295
der Ungluͤcklichen beiſpringen; doch da das
Geraͤuſch, das ſie gemacht hatte, noth⸗
wendig
nothwen⸗
wendig
nothwendig [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar]
den Alten herbeiziehen mußte, ſo un⸗
terdruͤckte
die Beſorgniß, einen Verweis von
ihm zu erhalten, alle andere anderen Ruͤckſichten: er 300
riß ihr, mit verſtoͤrter Beeiferung, ein Bund
Schluͤſſel von der Huͤfte, das ſie bei ſich trug,
und einen gefunden, der paſſte, warf er den
Bund in den Saal zuruͤck und verſchwand.

Bald darauf, da Piachi, krank wie er war, aus 305
dem Bette geſprungen war, und ſie aufge⸗
hoben
hatte, und auch Bediente und Maͤgde,
von ihm zuſammengeklingelt, mit Licht er⸗
ſchienen
waren, kam auch Nicolo in ſeinem
Schlafrock, und fragte, was vorgefallen ſei; 310
doch da Elvire, ſtarr vor Entſetzen, wie ihre
Zunge war, nicht ſprechen konnte, und au⸗
ßer
ihr nur er ſelbſt noch Auskunft auf dieſe
107FaksimileFrage geben konnte, ſo blieb der Zuſammen⸗
hang
der Sache in ein ewiges Geheimniß ge⸗315
huͤllt
; man trug Elviren, die an allen Glie⸗
dern
zitterte, zu Bett, wo ſie mehrere Tage
lang an einem heftigen Fieber darniederlag,
gleichwohl aber durch die natuͤrliche Kraft ih⸗
rer
Geſundheit den Zufall uͤberwand, und320
bis auf eine ſonderbare Schwermuth, die
ihr zuruͤckblieb, ſich ziemlich wieder erholte.

So verfloß ein Jahr, als Conſtanze, Ni⸗
colos
Gemahlin, niederkam, und ſammt dem
Kinde, das ſie gebohren hatte, in den Wochen325
ſtarb.
Dieſer Vorfall, bedauernswuͤrdig an
ſich, weil ein tugendhaftes und wohlerzoge⸗
nes
Weſen verloren ging, war es doppelt,
weil er den beiden Leidenſchaften Nicolos,
ſeiner Bigotterie und ſeinem Hange zu den 330
Weibern, wieder Thor und Thuͤr oͤffnete.

Ganze Tage lang trieb er ſich wieder, unter
dem Vorwand, ſich zu troͤſten, in den Zellen
der Carmelitermoͤnche umher, und gleichwohl
wußte man, daß er waͤhrend der Lebzeiten 335
ſeiner Frau, nur mit geringer Liebe und
108FaksimileTreue an ihr gehangen hatte. hatte. [liest ›hatte,‹, emendiert in ›hatte.‹]
Ja, Conſtanze
war noch nicht unter der Erde, als Elvire
ſchon zur Abendzeit, in Geſchaͤften des bevor⸗
ſtehenden
Begraͤbniſſes in ſein Zimmer tre⸗340
tend
, ein Maͤdchen bei ihm fand, das, ge⸗
ſchuͤrzt
und geſchminkt, ihr als die Zofe der
Xaviera Tartini nur zu wohl bekannt war.

Elvire ſchlug bei dieſem Anblick die Augen
nieder, kehrte ſich, ohne ein Wort zu ſagen, 345
um, und verließ das Zimmer; weder Piachi,
noch ſonſt jemand, erfuhr ein Wort von die⸗
ſem
Vorfall, ſie begnuͤgte ſich, mit betruͤb⸗
tem
Herzen bei der Leiche Conſtanzens, die
den Nicolo ſehr geliebt hatte, niederzuknieen 350
und zu weinen.
Zufaͤllig aber traf es ſich,
daß Piachi, der in der Stadt geweſen war,
beim Eintritt in ſein Haus dem Maͤdchen be⸗
gegnete
, und da er wohl merkte, was ſie
hier zu ſchaffen gehabt hatte, ſie heftig an⸗355
ging
und ihr halb mit Liſt, halb mit Gewalt,
den Brief, den ſie bei ſich trug, abgewann.

Er ging auf ſein Zimmer, um ihn zu leſen,
und fand, was er vorausgeſehen hatte, eine
109Faksimiledringende Bitte Nicolos an Xaviera, ihm, 360
Behufs einer Zuſammenkunft, nach der er
ſich ſehne, gefaͤlligſt Ort und Stunde zu be⸗
ſtimmen
.
Piachi ſetzte ſich nieder und ant⸗
wortete
, mit verſtellter Schrift, im Namen
Xavieras: „gleich, noch vor Nacht, in der 365
Magdalenen-Kirche.“ — ſiegelte dieſen Zet⸗
tel
mit einem fremden Wappen zu, und ließ
ihn, gleich als ob er von der Dame kaͤme,
in Nicolo’s Zimmer abgeben.
Die Liſt gluͤckte
vollkommen; Nicolo nahm augenblicklich ſei⸗370
nen
Mantel, und begab ſich in Vergeſſenheit
Conſtanzens, die im Sarg ausgeſtellt war,
aus dem Hauſe.
Hierauf beſtellte Piachi, tief
entwuͤrdigt, das feierliche, fuͤr den kommen⸗
den
Tag feſtgeſetzte Leichenbegaͤngniß ab, ließ 375
die Leiche, ſo wie ſie ausgeſetzt war, von
einigen Traͤgern aufheben, und bloß von El⸗
viren
, ihm und einigen Verwandten begleitet,
ganz in der Stille in dem Gewoͤlbe der Mag⸗
dalenen
-Kirche, das fuͤr ſie bereitet war, bei⸗380
ſetzen
.
Nicolo, der in dem Mantel gehuͤllt,
unter den Hallen der Kirche ſtand, und zu
110Faksimileſeinem Erſtaunen einen ihm wohlbekannten
Leichenzug herannahen ſah, fragte den Alten,
der dem Sarge folgte: was dies bedeute? 385
und wen man herantruͤge?
Doch dieſer, das
Gebetbuch in der Hand, ohne das Haupt zu
erheben, antwortete bloß: Xaviera Tartini:
— worauf die Leiche, als ob Nicolo gar nicht
gegenwaͤrtig waͤre, noch einmal entdeckelt, 390
durch die Anweſenden geſegnet, und alsdann
verſenkt und in dem Gewoͤlbe verſchloſſen
ward.

Dieſer Vorfall, der ihn tief beſchaͤmte,
erweckte in der Bruſt des Ungluͤcklichen einen 395
brennenden Haß gegen Elviren; denn ihr
glaubte er den Schimpf, den ihm der Alte
vor allem Volk angethan hatte, zu verdanken
zu haben.
Mehrere Tage lang ſprach Piachi
kein Wort mit ihm; und da er gleichwohl, 400
wegen der Hinterlaſſenſchaft Conſtanzens, ſei⸗
ner
Geneigtheit und Gefaͤlligkeit bedurfte:
ſo ſah er ſich genoͤthigt, an einem Abend des
Alten Hand zu ergreifen und ihm mit der
Miene der Reue, unverzuͤglich und auf im⸗405
111Faksimilemerdar,
die Verabſchiedung der Xaviera an⸗
zugeloben
.
Aber dies Verſprechen war er
wenig geſonnen zu halten; vielmehr ſchaͤrfte
der Widerſtand, den man ihm entgegen ſetzte,
nur ſeinen Trotz, und uͤbte ihn in der Kunſt, die 410
Aufmerkſamkeit des redlichen Alten zu umge⸗
hen
.
Zugleich war ihm Elvire niemals ſchoͤ⸗
ner
vorgekommen, als in dem Augenblick, da
ſie, zu ſeiner Vernichtung, das Zimmer, in
welchem ſich das Maͤdchen befand, oͤffnete 415
und wieder ſchloß.
Der Unwille, der ſich
mit ſanfter Glut auf ihren Wangen entzuͤn⸗
dete
, goß einen unendlichen Reiz uͤber ihr
mildes, von Affecten nur ſelten bewegtes Ant⸗
litz
; es ſchien ihm unglaublich, daß ſie, bei 420
ſoviel Lockungen dazu, nicht ſelbſt zuweilen
auf dem Wege wandeln ſollte, deſſen Blumen
zu brechen er eben ſo ſchmaͤhlich von ihr ge⸗
ſtraft
worden wordeu worden [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] war.
Er gluͤhte vor Begierde,
ihr, falls dies der Fall ſein ſollte, bei dem 425
Alten denſelben Dienſt zu erweiſen, als ſie ihm,
und bedurfte und ſuchte nichts, als die Gele⸗
genheit
, dieſen Vorſatz ins Werk zu richten.

112Faksimile

Einſt ging er, zu einer Zeit, da gerade
Piachi außer dem Hauſe war, an Elvirens 430
Zimmer vorbei, und hoͤrte, zu ſeinem Be⸗
fremden
, daß man darin ſprach. Von ra⸗
ſchen
, heimtuͤckiſchen Hoffnungen durchzuckt,
beugte er ſich mit Augen und Ohren gegen
das Schloß nieder, und — Himmel! was 435
erblickte er?
Da lag ſie, in der Stellung der
Verzuͤckung, Verzuͤkkung, zu Jemandes Fuͤßen, und ob er
gleich die Perſon nicht erkennen konnte, ſo
vernahm er doch ganz deutlich, recht mit dem
Accent der Liebe ausgeſprochen, das gefluͤſterte 440
Wort: Colino.
Er legte ſich mit klopfendem
Herzen in das Fenſter des Corridors, von wo
aus er, ohne ſeine Abſicht zu verrathen, den
Eingang des Zimmers beobachten konnte; und
ſchon glaubte er, bei einem Geraͤuſch, das 445
ſich ganz leiſe am Riegel erhob, den unſchaͤtz⸗
baren
Augenblick, da er die Scheinheilige ent⸗
larven
koͤnne gekommen: als, ſtatt des Un⸗
bekannten
den er erwartete, Elvire ſelbſt,
ohne irgend eine Begleitung, mit einem ganz 450
gleichguͤltigen und ruhigen Blick, den ſie aus
der113Faksimileder Ferne auf ihn warf, aus dem Zimmer
hervortrat.
Sie hatte ein Stuͤck ſelbſtgeweb⸗
ter
Leinwand unter dem Arm; und nachdem
ſie das Gemach, mit einem Schluͤſſel, den 455
ſie ſich von der Huͤfte nahm, verſchloſſen
hatte, ſtieg ſie ganz ruhig, die Hand ans Ge⸗
laͤnder
gelehnt, die Treppe hinab.
Dieſe Ver⸗
ſtellung
, dieſe ſcheinbare Gleichguͤltigkeit, ſchien
ihm der Gipfel der Frechheit und Argliſt, 460
und kaum war ſie ihm aus dem Geſicht, als
er ſchon lief, einen Hauptſchluͤſſel herbeizu⸗
holen
, und nachdem er die Umringung, mit
ſcheuen Blicken, ein wenig gepruͤft hatte, heim⸗
lich
die Thuͤr des Gemachs oͤffnete.
Aber wie 465
erſtaunte er, als er Alles leer fand, und in
allen vier Winkeln, die er durchſpaͤhte, nichts,
das einem Menſchen auch nur aͤhnlich war,
entdeckte: außer dem Bild eines jungen Rit⸗
ters
in Lebensgroͤße, das in einer Niſche der470
Wand, hinter einem rothſeidenen Vorhang,
von einem beſondern Lichte beſtrahlt, aufge⸗
ſtellt
war. war war. [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] war. [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] Nicolo erſchrack, er wußte ſelbſt
nicht warum: und eine Menge von Gedan⸗
Kleiſts Erzaͤhl. 2te S. H 114Faksimileken
fuhren ihm, den großen Augen des Bil⸗475
des
, das ihn ſtarr anſah, gegenuͤber, durch
die Bruſt: doch ehe er ſie noch geſammelt und
geordnet hatte, ergriff ihn ſchon Furcht, von
Elviren entdeckt und geſtraft zu werden; er
ſchloß, in nicht geringer Verwirrung, die 480
Thuͤr wieder zu, und entfernte ſich.

Je mehr er uͤber dieſen ſonderbaren Vor⸗
fall
nachdachte, je wichtiger ward ihm das
Bild, das er entdeckt hatte, und je peinli⸗
cher
und brennender ward die Neugierde in 485
ihm, zu wiſſen, wer damit gemeint ſei.
Denn
er hatte ſie, im ganzen Umriß ihrer Stel⸗
lung
auf Knieen liegen geſehen, und es war
nur zu gewiß, daß derjenige, vor dem dies
geſchehen war, die Geſtalt des jungen Rit⸗490
ters
auf der Leinwand war.
In der Unruhe
des Gemuͤths, die ſich ſeiner bemeiſterte, ging
er zu Xaviera Tartini, und erzaͤhlte ihr die
wunderbare Begebenheit, die er erlebt hatte.

Dieſe, die in dem Intereſſe, Elviren zu 495
ſtuͤrzen, mit ihm zuſammentraf, indem alle
Schwierigkeiten, die ſie in ihrem Umgang fan⸗
115Faksimileden,
von ihr herruͤhrten, aͤußerte den Wunſch,
das Bild, das in dem Zimmer derſelben auf⸗
geſtellt
war, einmal zu ſehen.
Denn einer 500
ausgebreiteten Bekanntſchaft unter den Edel⸗
leuten
Italiens konnte ſie ſich ruͤhmen, und
falls derjenige, der hier in Rede ſtand, nur
irgend einmal in Rom geweſen und von ei⸗
niger
Bedeutung war, ſo durfte ſie hoffen, 505
ihn zu kennen.
Es fuͤgte ſich auch bald, daß
die beiden Eheleute Piachi, da ſie einen Ver⸗
wandten
beſuchen wollten, an einem Sonn⸗
tag
auf das Land reiſeten, und kaum wußte
Nicolo auf dieſe Weiſe das Feld rein, als 510
er ſchon zu Xavieren eilte, und dieſe mit
einer kleinen Tochter, die ſie von dem Cardi⸗
nal
hatte, unter dem Vorwande, Gemaͤhlde
und Stickereien zu beſehen, als eine fremde
Dame in Elvirens Zimmer fuͤhrte.
Doch 515
wie betroffen war Nicolo, als die kleine
Klara, (ſo hieß die Tochter) ſobald er nur
den Vorhang erhoben hatte, ausrief: „Gott,
mein Vater! Signor Nicolo, wer iſt das
anders, als Sie? —
Xaviera verſtummte. 520
H 2 116Faksimile Das Bild, in der That, je laͤnger ſie es an⸗
ſah
, hatte haͤtte eine auffallende Aehnlichkeit mit
ihm: beſonders wenn ſie ſich ihn, wie ihrem
Gedaͤchtniß gar wohl moͤglich war, in dem
ritterlichen Aufzug dachte, in im in [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] welchem er, 525
vor wenigen Monaten, heimlich mit ihr auf
dem Carneval geweſen war.
Nicolo verſuchte
ein ploͤtzliches Erroͤthen, das ſich uͤber ſeine
Wangen ergoß, wegzuſpotten; er ſagte, in⸗
dem
er die Kleine kuͤßte: wahrhaftig, liebſte530
Klara, das Bild gleicht mir, wie du demje⸗
nigen
, der ſich deinen Vater glaubt! —
Doch
Xaviera, in deren Bruſt das bittere Gefuͤhl
der Eiferſucht rege geworden war, warf einen
Blick auf ihn; ſie ſagte, indem ſie vor den 535
Spiegel trat, zuletzt ſei es gleichguͤltig, wer
die Perſon ſei; empfahl ſich ihm ziemlich kalt
und verließ das Zimmer.

Nicolo verfiel, ſobald Xaviera ſich ent⸗
fernt
hatte, in die lebhafteſte Bewegung uͤber 540
dieſen Auftritt.
Er erinnerte ſich, mit vie⸗
ler
Freude, der ſonderbaren und lebhaften
Erſchuͤtterung, in welche er, durch die phan⸗
117Faksimiletaſtiſche
Erſcheinung jener Nacht, Elviren
verſetzt hatte.
Der Gedanke, die Leidenſchaft 545
dieſer, als ein Muſter der Tugend umwan⸗
delnden
Frau erweckt zu haben, ſchmeichelte
ihn faſt eben ſo ſehr, als die Begierde, ſich
an ihr zu raͤchen; und da ſich ihm die Aus⸗
ſicht
eroͤffnete, mit einem und demſelben 550
Schlage beide, das eine Geluͤſt, wie das
andere, zu befriedigen, ſo erwartete er
mit vieler Ungeduld Elvirens Wiederkunft,
und die Stunde, da ein Blick in ihr Auge
ſeine ſchwankende Ueberzeugung kroͤnen wuͤrde.
555
Nichts ſtoͤrte ihn in dem Taumel, der ihn
ergriffen hatte, als die beſtimmte Erinnerung,
daß Elvire das Bild, vor dem ſie auf Knieen
lag, damals, als er ſie durch das Schluͤſſel⸗
loch
belauſchte: Colino, genannt hatte; doch 560
auch in dem Klang dieſes, im Lande nicht
eben gebraͤuchlichen Namens, lag mancherlei,
das daß das [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] ſein Herz, er wußte nicht warum, in
ſuͤße Traͤume wiegte, und in der Alternative,
einem von beiden Sinnen, ſeinem Auge oder 565
ſeinem Ohr zu mißtrauen, neigte er ſich, wie
118Faksimilenatuͤrlich, zu demjenigen hinuͤber, der ſeiner
Begierde am lebhafteſten ſchmeichelte.

Inzwiſchen kam Elvire erſt nach Verlauf
mehrerer Tage von dem Lande zuruͤck, und 570
da ſie aus dem Hauſe des Vetters, den ſie
beſucht hatte, eine junge Verwandte mit⸗
brachte
, die ſich in Rom umzuſehen wuͤnſchte,
ſo warf ſie, mit Artigkeiten gegen dieſe be⸗
ſchaͤftigt
, auf Nicolo, der ſie ſehr freundlich 575
aus dem Wagen hob, nur einen fluͤchtigen
nichtsbedeutenden Blick.
Mehrere Wochen,
der Gaſtfreundinn, die man bewirthete, auf⸗
geopfert
, vergingen in einer dem Hauſe un⸗
gewoͤhnlichen
Unruhe; man beſuchte, in- und580
außerhalb der Stadt, was einem Maͤdchen,
jung und lebensfroh, wie ſie war, merkwuͤr⸗
dig
ſein mogte; und Nicolo, ſeiner Geſchaͤfte
im Comtoir halber, zu allen dieſen kleinen
Fahrten nicht eingeladen, fiel wieder, in Be⸗585
zug
auf Elviren, in die uͤbelſte Laune zuruͤck.

Er begann wieder, mit den bitterſten und
quaͤlendſten Gefuͤhlen, an den Unbekannten
zuruͤck zu denken, den ſie in heimlicher Erge⸗
119Faksimilebung
vergoͤtterte; und dies Gefuͤhl zerriß be⸗590
ſonders
am Abend der laͤngſt mit Sehnſucht
erharrten Abreiſe jener jungen Verwandten
ſein verwildertes Herz, da Elvire, ſtatt nun
mit ihm zu ſprechen, ſchweigend, waͤhrend
einer ganzen Stunde, mit einer kleinen, weib⸗595
lichen
Arbeit beſchaͤftigt, am Speiſetiſch ſaß.

Es traf ſich, daß Piachi, wenige Tage zu⸗
vor
, nach einer Schachtel mit kleinen, elfen⸗
beinernen
Buchſtaben gefragt hatte, vermit⸗
telſt
welcher Nicolo in ſeiner Kindheit unter⸗600
richtet
worden, und die dem Alten nun, weil
ſie niemand mehr brauchte, in den Sinn ge⸗
kommen
war, an ein kleines Kind in der
Nachbarſchaft zu verſchenken.
Die Magd,
der man aufgegeben hatte, ſie, unter vielen 605
anderen, alten Sachen, aufzuſuchen, hatte
inzwiſchen nicht mehr gefunden, als die ſechs,
die den Namen: Nicolo ausmachen; wahr⸗
ſcheinlich
weil die andern, ihrer geringeren
Beziehung auf den Knaben wegen, minder 610
in Acht genommen und, bei welcher Gelegen⸗
heit
es ſei, verſchleudert worden waren.
Da
120Faksimilenun Nicolo die Lettern, welche ſeit mehreren
Tagen auf dem Tiſch lagen, in die Hand
nahm, und waͤhrend er, mit dem Arm anf auf auf [emendiert, ohne Verweis im Kommentar] auf [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] 615
die Platte geſtuͤtzt, in truͤben Gedanken bruͤ⸗
tete
, damit ſpielte, fand er — zufaͤllig, in
der That, ſelbſt, denn er erſtaunte daruͤber,
wie er noch in ſeinem Leben nicht gethan —
die Verbindung heraus, welche den Namen: 620
Colino bildet.
Nicolo, dem dieſe logogri⸗
phiſche
Eigenſchaft ſeines Namens fremd war,
warf, von raſenden Hoffnungen von neuem
getroffen, einen ungewiſſen und ſcheuen Blick
auf die ihm zur Seite ſitzende Elvire.
Die 625
Uebereinſtimmung, die ſich zwiſchen beiden
Woͤrtern angeordnet fand, ſchien ihm mehr
als ein bloßer Zufall, er erwog, in unter⸗
druͤckter
Freude, den Umfang dieſer ſonder⸗
baren
Entdeckung, und harrte, die Haͤnde 630
vom Tiſch genommen, mit klopfendem Her⸗
zen
des Augenblicks, da Elvire aufſehen und
den Namen, der offen da lag, erblicken wuͤrde.

Die Erwartung, in der er ſtand, taͤuſchte
ihn auch keineswegs; denn kaum hatte Elvire,635
121Faksimile in einem muͤßigen Moment, die Aufſtellung
der Buchſtaben bemerkt, und harmlos und
gedankenlos, weil ſie ein wenig kurzſichtig war,
ſich naͤher daruͤber hingebeugt, um ſie zu le⸗
ſen
: als ſie ſchon Nicolos Antlitz, der in 640
ſcheinbarer Gleichguͤltigkeit darauf niederſah,
mit einem ſonderbar beklommenen Blick uͤber⸗
flog
, ihre Arbeit, mit einer Wehmuth, die
man nicht beſchreiben kann, wieder aufnahm,
und, unbemerkt wie ſie ſich glaubte, eine 645
Thraͤne nach der anderen, unter ſanftem Er⸗
roͤthen
, auf ihren Schooß fallen ließ.
Ni⸗
colo,
der alle dieſe innerlichen Bewegungen,
ohne ſie anzuſehen, beobachtete, zweifelte gar
nicht mehr, daß ſie unter dieſer Verſetzung 650
der Buchſtaben nur ſeinen eignen Namen ver⸗
berge
.
Er ſah ſie die Buchſtaben mit einem
mal ſanft uͤbereinander ſchieben, und ſeine
wilden Hoffnungen erreichten den Gipfel der
Zuverſicht, als ſie aufſtand, ihre Handarbeit 655
weglegte und in ihr Schlafzimmer verſchwand.

Schon wollte er aufſtehen und ihr dahin fol⸗
gen
:
folgen;
als Piachi eintrat, und von einer Haus⸗
122Faksimilemagd,
auf die Frage, wo Elvire ſei? zur
Antwort erhielt: „daß ſie ſich nicht wohl660
befinde und ſich auf das Bett gelegt habe.“

Piachi, ohne eben große Beſtuͤrzung zu zei⸗
gen
, wandte ſich um, und ging, um zu ſe⸗
hen
, was ſie mache; und da er nach einer
Viertelſtunde, mit der Nachricht, daß ſie 665
nicht zu Tiſche kommen wuͤrde, wiederkehrte
und weiter kein Wort daruͤber verlor: ſo
glaubte Nicolo den Schluͤſſel zu allen raͤthſel⸗
haften
Auftritten dieſer Art, die er erlebt
hatte, gefunden zu haben.
670

Am andern Morgen, da er, in ſeiner ſchaͤnd⸗
lichen
Freude, beſchaͤftigt war, den Nutzen,
den er aus dieſer Entdeckung zu ziehen hoffte,
zu uͤberlegen, erhielt er ein Billet von Xa⸗
vieren
, worin ſie ihn bat, zu ihr zu kommen,675
indem ſie ihm, Elviren betreffend, etwas, das
ihm intereſſant ſein wuͤrde, zu eroͤffnen haͤtte.

Xaviera ſtand, durch den Biſchof, der ſie un⸗
terhielt
, in der engſten Verbindung mit den
Moͤnchen des Carmeliterkloſters; und da ſeine 680
Mutter in dieſem Kloſter zur Beichte ging,
123Faksimileſo zweifelte er nicht, daß es jener moͤglich
geweſen waͤre, uͤber die geheime geheimen geheime [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] Geſchichte
ihrer Empfindungen Nachrichten, die ſeine
unnatuͤrlichen Hoffnungen beſtaͤtigen konnten, 685
einzuziehen.
Aber wie unangenehm, nach ei⸗
ner
ſonderbaren ſchalkhaften Begruͤßung Xa⸗
vierens
, ward er aus der Wiege genommen,
als ſie ihn laͤchelnd auf den Divan, auf wel⸗
chem
ſie ſaß, niederzog, und ihm ſagte: ſie muͤſſe 690
ihm nur eroͤffnen, daß der Gegenſtand von
Elvirens Liebe ein, ſchon ſeit zwoͤlf Jahren,
im Grabe ſchlummernder Todter ſei. —
Alo⸗
yſius,
Marquis von Montferrat, dem ein
Oheim zu Paris, bei dem er erzogen worden 695
war, den Zunamen Collin, ſpaͤterhin in
Italien ſcherzhafter Weiſe in Colino um⸗
gewandelt
, gegeben hatte, war das Original
des Bildes, das er in der Niſche, hinter
dem rothſeidenen Vorhang, in Elvirens Zim⸗700
mer
entdeckt hatte; der junge, genueſiſche
Ritter, der ſie, in ihrer Kindheit, auf ſo
edelmuͤthige Weiſe aus dem Feuer gerettet
und an den Wunden, die er dabei empfan⸗
124Faksimilegen
hatte, geſtorben war. —
Sie ſetzte hin⸗705
zu
, daß ſie ihn nur bitte, von dieſem Ge⸗
heimni
ß weiter keinen Gebrauch zu machen,
indem es ihr, unter dem Siegel der aͤußer⸗
ſten
Verſchwiegenheit, von einer Perſon, die
ſelbſt kein eigentliches Recht daruͤber habe,710
im Carmeliterkloſter Carmelinerkloſter anvertraut worden ſei.

Nicolo verſicherte, indem Blaͤſſe und Roͤthe
auf ſeinem Geſicht wechſelten, daß ſie nichts zu
befuͤrchten habe; und gaͤnzlich außer Stand,
wie er war, Xavierens ſchelmiſchen Blicken 715
gegenuͤber, die Verlegenheit, in welche ihn
dieſe Eroͤffnung geſtuͤrzt hatte, zu verbergen,
ſchuͤtzte er ein Geſchaͤfft vor, das ihn abrufe,
nahm, unter einem haͤßlichen Zucken ſeiner
Oberlippe, ſeinen Huth, empfahl ſich und720
ging ab.

Beſchaͤmung, Wolluſt und Rache verei⸗
nigten
ſich jetzt, um die abſcheulichſte That,
die je veruͤbt worden iſt, auszubruͤten.
Er
fuͤhlte wohl, daß Elvirens reiner Seele nur 725
durch einen Betrug beizukommen ſei; und
kaum hatte ihm Piachi, der auf einige Tage
125Faksimileaufs Land ging, das Feld geraͤumt, als er
auch ſchon Anſtalten traf, den ſataniſchen
Plan, den er ſich ausgedacht hatte, ins Werk 730
zu richten.
Er beſorgte ſich genau denſelben
Anzug wieder, in welchem er, vor wenig
Monaten, da er zur Nachtzeit heimlich vom
Carneval zuruͤckkehrte, Elviren erſchienen
war; und Mantel, Collet und Federhuth, 735
genueſiſchen Zuſchnitts, genau ſo, wie ſie das
Bild trug, umgeworfen, ſchlich er ſich, kurz
vor dem Schlafengehen, in Elvirens Zimmer,
hing ein ſchwarzes Tuch uͤber das in der
Niſche ſtehende Bild, und wartete, einen Stab 740
in der Hand, ganz in der Stellung des ge⸗
mahlten
jungen Patriziers, Elvirens Ver⸗
goͤtterung
ab.
Er hatte auch, im Scharfſinn
ſeiner ſchaͤndlichen Leidenſchaft, ganz richtig
gerechnet; denn kaum hatte Elvire, die bald 745
darauf eintrat, nach einer ſtillen und ruhigen
Entkleidung, wie ſie gewoͤhnlich zu thun pfleg⸗
te
, den ſeidnen Vorhang, Vorhand, der die Niſche be⸗
deckte
, eroͤffnet und ihn erblickt: als ſie
ſchon: Colino! Mein Geliebter! rief und ohn⸗750
126Faksimilemaͤchtig
auf das Getaͤfel des Bodens nieder⸗
ſank
.
Nicolo trat aus der Niſche hervor;
er ſtand einen Augenblick, im Anſchauen ih⸗
rer
Reize verſunken, und betrachtete ihre zarte,
unter dem Kuß des Todes ploͤtzlich erblaſſende 755
Geſtalt: hob ſie aber bald, da keine Zeit zu
verlieren war, in ſeinen Armen auf, und
trug ſie, indem er das ſchwarze Tuch von
dem Bild herabriß, auf das im Winkel des
Zimmers ſtehende Bett.
Dies abgethan, ging 760
er, die Thuͤr zu verriegeln, fand aber, daß
ſie ſchon verſchloſſen war; und ſicher, daß ſie
auch nach Wiederkehr ihrer verſtoͤrten Sinne,
ſeiner phantaſtiſchen, dem Anſehen nach uͤber⸗
irdiſchen
Erſcheinung keinen Widerſtand leiſten 765
wuͤrde, kehrte er jetzt zu dem Lager zuruͤck,
bemuͤht, ſie mit heißen Kuͤſſen auf Bruſt und
Lippen aufzuwecken.
Aber die Nemeſis, die dem
Frevel auf dem Fuß folgt, wollte, daß Piachi,
den der Elende noch auf mehrere Tage entfernt 770
glaubte, unvermuthet, in eben dieſer Stunde,
in ſeine Wohnung zuruͤckkehren mußte; leiſe,
da er Elviren ſchon ſchlafen glaubte, ſchlich
127Faksimileer durch den Corridor heran, und da er im⸗
mer
den Schluͤſſel bei ſich trug, ſo gelang 775
es ihm, ploͤtzlich, ohne daß irgend ein Ge⸗
raͤuſch
ihn angekuͤndigt haͤtte, in das Zimmer
einzutreten.
Nicolo ſtand wie vom Donner
geruͤhrt; er warf ſich, da ſeine Buͤberei auf
keine Weiſe zu bemaͤnteln war, dem Alten 780
zu Fuͤßen, und bat ihn, unter der Betheu⸗
rung
, den Blick nie wieder zu ſeiner Frau
zu erheben, um Vergebung.
Und in der That
war der Alte auch geneigt, die Sache ſtill
abzumachen; ſprachlos, wie ihn einige Worte 785
Elvirens gemacht hatten, die ſich von ſeinen
Armen umfaßt, mit einem entſetzlichen Blick,
den ſie auf den Elenden warf, erholt hatte,
nahm er bloß, indem er die Vorhaͤnge des
Bettes, auf welchem ſie ruhte, zuzog, die 790
Peitſche von der Wand, oͤffnete ihm die Thuͤr
und zeigte ihm den Weg, den er unmittelbar
wandern ſollte.
Doch dieſer, eines Tartuͤffe
voͤllig wuͤrdig, ſah nicht ſobald, daß auf die⸗
ſem
Wege nichts auszurichten war, als er 795
ploͤtzlich vom Fußboden erſtand und erklaͤrte:
128Faksimilean ihm, dem Alten, ſei es, das Haus zu raͤu⸗
men
, denn er durch vollguͤltige Documente ein⸗
geſetzt
, ſei der Beſitzer und werde ſein Recht,
gegen wen immer auf der Welt es ſei, zu 800
behaupten wiſſen! —
Piachi traute ſeinen
Sinnen nicht; durch dieſe unerhoͤrte Frechheit
wie entwaffnet, legte er die Peitſche weg,
nahm Huth und Stock, lief augenblicklich
zu ſeinem alten Rechtsfreund, dem Doctor 805
Valerio, klingelte eine Magd heraus, die
ihm oͤffnete, und fiel, da er ſein Zimmer er⸗
reicht
hatte, bewußtlos, noch ehe er ein Wort
vorgebracht hatte, an ſeinem Bette nieder.

Der Doctor, der ihn und ſpaͤterhin auch El⸗810
viren
in ſeinem Hauſe aufnahm, eilte gleich
am andern Morgen, die Feſtſetzung des hoͤl⸗
liſchen
Boͤſewichts, der mancherlei Vortheile
fuͤr ſich hatte, auszuwirken; doch waͤhrend
Piachi ſeine machtloſen Hebel anſetzte, ihn 815
aus den Beſitzungen, die ihm einmal zuge⸗
ſchrieben
waren, wieder zu verdraͤngen, flog
jener ſchon mit einer Verſchreibung uͤber den
ganzen Inbegriff derſelben, zu den Carmeli⸗
termoͤn⸗129Faksimiletermoͤnchen,
ſeinen Freunden, und forderte 820
ſie auf, ihn gegen den alten Narren, der ihn
daraus vertreiben wolle, zu beſchuͤtzen.
Kurz,
da er Xavieren, welche der Biſchof los zu
ſein wuͤnſchte, zu heirathen willigte, ſiegte
die Bosheit, und die Regierung erließ, auf 825
Vermittelung dieſes geiſtlichen Herrn, ein
Dekret, in welchem Nicolo in den dem Beſitz be⸗
ſtaͤtigt
und dem Piachi aufgegeben ward, ihn
nicht darin zu belaͤſtigen.

Piachi hatte gerade Tags zuvor die un⸗830
gluͤckliche
Elvire begraben, die an am an [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] den Folgen
eines hitzigen Fiebers, das ihr jener Vorfall
zugezogen hatte, geſtorben war.
Durch die⸗
ſen
doppelten Schmerz gereizt, ging er, das
Dekret in der Taſche, in das Haus, und 835
ſtark, wie die Wuth ihn machte, warf er den
von Natur ſchwaͤcheren Nicolo nieder und
druͤckte ihm das Gehirn an der Wand ein.

Die Leute die im Hauſe waren, bemerkten
ihn nicht eher, als bis die That geſchehen 840
war; ſie fanden ihn noch, da er den Nicolo
zwiſchen den Knien hielt, und ihm das De⸗
Kleiſts Erzaͤhl. 2te S. I 130Faksimilekret
in den Mund ſtopfte.
Dies abgemacht,
ſtand er, indem er alle ſeine Waffen abgab,
auf; ward ins Gefaͤngniß geſetzt, verhoͤrt und 845
verurtheilt, mit dem Strange vom Leben
zum Tode gebracht zu werden.

In dem Kirchenſtaat herrſcht ein Geſetz,
nach welchem kein Verbrecher zum Tode ge⸗
fuͤhrt
werden kann, bevor er die Abſolution 850
empfangen.
Piachi, als ihm der Stab ge⸗
brochen
war, verweigerte ſich hartnaͤckig der
Abſolution.
Nachdem man vergebens Alles,
was die Religion an die Hand gab, verſucht
hatte, ihm die Strafwuͤrdigkeit ſeiner Hand⸗855
lung
fuͤhlbar zu machen, hoffte man, ihn
durch den Anblick des Todes, der ſeiner war⸗
tete
, in das Gefuͤhi Gefuͤhl Gefuͤhl Gefuͤhl Gefuͤhl Gefuͤhl Gefuͤhl der Reue hineinzuſchre⸗
cken
und fuͤhrte ihn nach dem Galgen hin⸗
aus
.
Hier ſtand ein Prieſter und ſchilderte 860
ihm, mit der Lunge der letzten Poſaune, alle
Schreckniſſe der Hoͤlle, in die ſeine Seele
hinabzufahren im Begriff war; dort ein an⸗
derer
, den Leib des Herrn, das heilige Ent⸗
ſuͤhnungsmittel
in der Hand, und pries ihm865
131Faksimile die Wohnungen des ewigen Friedens. —

„Willſt du der Wohlthat der Erloͤſung theil⸗
haftig
werden?“ fragten ihn beide.
„Willſt
du das Abendmahl empfangen?" —
Nein, ant⸗
wortete
Piachi. —
„Warum nicht?“ — Ich 870
will nicht ſelig ſein.
Ich will in den unterſten
Grund der Hoͤlle hinabfahren.
Ich will den Ni⸗
colo
, der nicht im Himmel ſein wird, wiederfin⸗
den
, und meine Rache, die ich hier nur un⸗
vollſtaͤndig
befriedigen konnte, wieder auf⸗875
nehmen
! —
Und damit beſtieg er die Leiter
und forderte den Nachrichter auf, ſein Amt
zu thun.
Kurz, man ſah ſich genoͤthigt, mit
der Hinrichtung einzuhalten, und den Un⸗
gluͤcklichen
, den das Geſetz in Schutz nahm, 880
wieder in das Gefaͤngniß zuruͤckzufuͤhren.

Drei hinter einander folgende Tage machte
man dieſelben Verſuche und immer mit dem⸗
ſelben
Erfolg.
Als er am dritten Tage wie⸗
der
, ohne an den Galgen geknuͤpft zu wer⸗885
den
, die Leiter herabſteigen mußte: hob er,
mit einer grimmigen Gebaͤhrde, die Haͤnde
empor, das unmenſchliche Geſetz verfluchend,
I 2 132Faksimiledas ihn nicht zur Hoͤlle fahren laſſen wol⸗
le
.
Er rief die ganze Schaar der Teufel 890
herbei, ihn zu holen, verſchwor ſich, ſein
einziger Wunſch ſei, gerichtet und verdammt
zu werden, und verſicherte, er wuͤrde noch
dem erſten, beſten Prieſter an den Hals kom⸗
men
, um des Nicolo in der Hoͤlle wieder 895
habhaft zu werden! —
Als man dem Pabſt
dies meldete, befahl er, ihn ohne Abſolution
hinzurichten; kein Prieſter begleitete ihn, man
knuͤpfte ihn, ganz in der Stille, auf dem
Platz del popolo auf.
900

https://daten.digitale-sammlungen.de/0001/bsb00013539/images/index.html?fip=193.174.98.30&seite=96

Der Findling.

Quellenangaben für Zitation
https://kleist-digital.de/erzaehlungen/findling, [ggf. Angabe von Zeile/Vers oder Seite], 21.05.2025

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Apparat

Erstdruck: [D1] Kleist Heinrich von : Der Findling. In: Kleist Heinrich von : Erzählungen. Zweiter Theil Berlin: Realschulbuchhandlung, 1811.

Textwiedergabe nach: [D1] Kleist, Heinrich von: Der Findling. In: Kleist, Heinrich von: Erzählungen. Zweiter Theil, Berlin: Realschulbuchhandlung, 1811, S. 93–132.

Zugrunde gelegte Exemplare: BSB. Bayerische StaatsBibliothek. Sigle: Rar. 4347-2.
Exemplar aus Privatbesitz.

 Emendationen (insges. 15)
  • 7ihmihn
  • 106ImIn
  • 112demden
  • 134ihnihm
  • 297nothwenwendignothwendig
  • 424wordeuworden
  • 473warwar.
  • 525imin
  • 563daßdas
  • 615anfauf
  • 683geheimengeheime
  • 711CarmelinerkloſterCarmeliterkloſter
  • 748Vorhand,Vorhang,
  • 831aman
  • 858GefuͤhiGefuͤhl
Pagina Kleist-Ausgaben
  • [BKA] II/5 19–58
  • [MA] II 204–220
  • [DKV] III 265–283
  • [SE:1993] II 199–215
  • [Bartl:2013 (Reclam)] 235–254
 Vergleich Editionen

Die durchgeführte Kollation mit unterschiedlichen historischen und aktuellen Kleist-Editionen zeigt bestimmte Lesarten und Emendationen, die von der vorliegenden emendierten Fassung abweichen. In den Anmerkungen finden sich hierzu häufig nähere Erläuterungen. (Gelegentlich ist die Ursache für Abweichungen ein Transkriptionsfehler in der jeweiligen Edition.)

Disclaimer: Abweichungen, die ihren Grund in typographisch bedingten Normalisierungen und Standardisierungen haben, werden nicht angezeigt. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann nicht erhoben werden. Mitgeteilte Abweichungen müssen am Original überprüft werden.

In die Kollation einbezogene Kleist-Ausgaben

[BKA][MA][DKV][SE:1993][Bartl:2013 (Reclam)]

[DKV:1990] [4 Abw.]
  • 106Im ] Im [nicht emendiert]
  • 337hatte. ] hatte. [liest ›hatte,‹, emendiert in ›hatte.‹]
  • 658fol/gen: ] folgen;
  • 858Gefuͤhi ] Gefuͤhl
[BKA:1989] [2 Abw.]
  • 473war ] war. [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar]
  • 858Gefuͤhi ] Gefuͤhl
[Recl;Bartl:2013] [3 Abw.]
  • 300andere ] anderen
  • 827den ] dem
  • 858Gefuͤhi ] Gefuͤhl
[MA:2010] [16 Abw.]
  • 7ihm ] ihn [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar]
  • 106Im ] Im [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar]
  • 112dem ] den [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar]
  • 134ihn ] ihm [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar]
  • 144funfzehnten ] fuͤnfzehnten
  • 297nothwen/wendig ] nothwendig [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar]
  • 424wordeu ] worden [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar]
  • 437Verzuͤckung, ] Verzuͤkkung,
  • 473war ] war. [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar]
  • 522hatte ] haͤtte
  • 525im ] in [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar]
  • 563daß ] das [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar]
  • 615anf ] auf [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar]
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  • 858Gefuͤhi ] Gefuͤhl
Stellenkommentar

520Sie?Abfuͤhrungszeichen fehlen im Erstdruck. Nicht emendiert (vgl. Editorial: Transkriptionsregeln). [DKV], [Kleist;Bartl:2013] emendieren, [BKA] und [MA] emendieren nicht.

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