Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik.
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Die heilige Cäcilie/ oder /die Gewalt der Musik./ (Eine Legende.)/
Um das Ende des sechzehnten Jahrhunderts, /als die Bilderstürmerei in den Niederlanden /wüthete, trafen drei Brüder, junge in Wit/tenberg studirende Leute, mit einem vier/ten, der in Antwerpen als Prädicant ange/stellt war, in der Stadt Aachen zusammen. / 10 Sie wollten daselbst eine Erbschaft erheben, /die ihnen von Seiten eines alten, ihnen al/len unbekannten Oheims zugefallen war, und /kehrten, weil niemand in dem Ort war, an /134 den sie sich hätten wenden können, in einem /Gasthof ein. Nach Verlauf einiger Tage, die /sie damit zugebracht hatten, den Prädican/ten über die merkwürdigen Auftritte, die in /den Niederlanden vorgefallen waren, anzu/hören, traf es sich, daß von den Nonnen / 20 im Kloster der heiligen Cäcilie, das damals /vor den Thoren dieser Stadt lag, der Frohn/leichnamstag festlich begangen werden sollte; /dergestalt, daß die vier Brüder, von Schwär/merei, Jugend und dem Beispiel der Nie/derländer erhitzt, beschlossen, auch der Stadt /Aachen das Schauspiel einer Bilderstürmerei /zu geben. Der Prädicant, der dergleichen /Unternehmungen mehr als einmal schon gelei/tet hatte, versammelte, am Abend zuvor eine / 30 Anzahl junger, der neuen Lehre ergebener /Kaufmannssöhne und Studenten, welche, in /dem Gasthofe, bei Wein und Speisen, unter /Verwünschungen des Pabstthums, die Nacht /zubrachten; und, da der Tag über die Zinnen /der Stadt aufgegangen, versahen sie sich mit /Aexten und Zerstörungswerkzeugen aller Art, /135 um ihr ausgelassenes Geschäft zu beginnen. /Sie verabredeten frohlockend ein Zeichen, auf /welches sie damit anfangen wollten, die Fen/ 40 sterscheiben, mit biblischen Geschichten bemahlt, /einzuwerfen; und eines großen Anhangs, den /sie unter dem Volk finden würden, gewiß, /verfügten sie sich, entschlossen keinen Stein /auf dem andern zu lassen, in der Stunde, /da die Glocken läuteten, in den Dom. Die /Aebtissin, die, schon beim Anbruch des Ta/ges, durch einen Freund von der Gefahr, in /welcher das Kloster schwebte, benachrichtigt /worden war, schickte vergebens, zu wieder/ 50 holten Malen, zu dem kaiserlichen Officier, /der in der Stadt commandirte, und bat sich, /zum Schutz des Klosters, eine Wache aus; /der Officier, der selbst ein Feind des Pabst/thums, und als solcher, wenigstens unter der /Hand, der neuen Lehre zugethan war, wußte /ihr unter dem staatsklugen Vorgeben, daß /sie Geister sähe, und für ihr Kloster auch /nicht der Schatten einer Gefahr vorhanden /sei, die Wache zu verweigern. Inzwischen / 60 136brach die Stunde an, da die Feierlichkeiten /beginnen sollten, und die Nonnen schickten /sich, unter Angst und Beten, und jammer/voller Erwartung der Dinge, die da kommen /sollten, zur Messe an. Niemand beschützte /sie, als ein alter, siebenzigjähriger Kloster/voigt, der sich, mit einigen bewaffneten Troß/knechten, am Eingang der Kirche aufstellte. /In den Nonnenklöstern führen, auf das /Spiel jeder Art der Instrumente geübt, die / 70 Nonnen, wie bekannt, ihre Musiken selber /auf; oft mit einer Präcision, einem Verstand /und einer Empfindung, die man in männli/chen Orchestern (vielleicht wegen der weiblichen /Geschlechtsart dieser geheimnißvollen Kunst) /vermißt. Nun fügte es sich, zur Verdoppe/lung der Bedrängniß, daß die Kapellmeiste/rin, Schwester Antonia, welche die Musik /auf dem Orchester zu dirigiren pflegte, wenige /Tage zuvor, an einem Nervenfieber heftig / 80 erkrankte; dergestalt, daß abgesehen von den /vier gotteslästerlichen Brüdern, die man be/reits, in Mänteln gehüllt, unter den Pfeilern /137der Kirche erblickte, das Kloster auch, wegen /Aufführung eines schicklichen Musikwerks, in /der lebhaftesten Verlegenheit war. Die Aeb/tissin, die am Abend des vorhergehenden Ta/ges befohlen hatte, daß eine uralte von einem /unbekannten Meister herrührende, italiänische /Messe aufgeführt werden möchte, mit welcher / 90 die Capelle mehrmals schon, einer besondern /Heiligkeit und Herrlichkeit wegen, mit wel/cher sie gedichtet war, die größesten Wirkun/gen hervorgebracht hatte, schickte, mehr als /jemals auf ihren Willen beharrend, noch ein/mal zur Schwester Antonia herab, um zu /hören, wie sich dieselbe befinde; die Nonne /aber, die dies Geschäft übernahm, kam mit /der Nachricht zurück, daß die Schwester in / gänzlich bewußtlosem Zustande daniederliege, / 100 und daß an ihre Directionsführung, bei der /vorhabenden Musik, auf keine Weise zu den/ken sei. Inzwischen waren in dem Dom, in /welchem sich nach und nach mehr denn hun/dert, mit Beilen und Brechstangen versehene /Frevler, von allen Ständen und Altern, ein/138gefunden hatten, bereits die bedenklichsten Auf/tritte vorgefallen; man hatte einige Troß/knechte, die an den Portälen Portalen standen, auf /die unanständigste Weise geneckt, und sich die / 110 frechsten und unverschämtesten Aeußerungen /gegen die Nonnen erlaubt, die sich hin und /wieder, in frommen Geschäften, einzeln in /den Hallen blicken ließen: dergestalt, daß der /Klostervoigt sich in die Sakristei verfügte, und /die Aebtissin auf Knieen beschwor, das Fest /einzustellen und sich in die Stadt, unter den /Schutz des Commendanten zu begeben. Aber /die Aebtissin bestand unerschütterlich darauf, /daß das zur Ehre des höchsten Gottes ange/ 120 ordnete Fest begangen werden müsse; sie er/innerte den Klostervoigt an seine Pflicht, die /Messe und den feierlichen Umgang, der in /dem Dom gehalten werden würde, mit Leib /und Leben zu beschirmen; und befahl, weil /eben die Glocke schlug, den Nonnen, die sie, /unter Zittern und Beben umringten, ein Ora/torium, gleichviel welches und von welchem /Werth es sei, zu nehmen, und mit dessen /Aufführung sofort den Anfang zu machen. / 130
139Eben schickten sich die Nonnen auf dem /Altan der Orgel dazu an; die Partitur eines /Musikwerks, das man schon häufig gegeben /hatte, ward vertheilt, Geigen, Hoboen und /Bässe geprüft und gestimmt: als Schwester /Antonia plötzlich, frisch und gesund, ein we/nig bleich im Gesicht, von der Treppe her /erschien; sie trug die Partitur der uralten, /italiänischen Messe, auf deren Aufführung /die Aebtissin so dringend bestanden hatte, un/ 140 ter dem Arm. Auf die erstaunte Frage der /Nonnen: „wo sie herkomme? und wie sie sich /plötzlich so erholt habe?“ antwortete sie: /gleichviel, Freundinnen, gleichviel! vertheilte /die Partitur, die sie bei sich trug, und setzte /sich selbst, von Begeisterung glühend, an die /Orgel, um die Direction des vortrefflichen /Musikstücks zu übernehmen. Demnach kam /es, wie ein wunderbarer, himmlischer Trost, /in die Herzen der frommen Frauen; sie stell/ 150 ten sich augenblicklich mit ihren Instrumen/ten an die Pulte; die Beklemmung selbst, in /der sie sich befanden, kam hinzu, um ihre /140Seelen, wie auf Schwingen, durch alle Him/mel des Wohlklangs zu führen; das Orato/rium ward mit der höchsten und herrlichsten /musikalischen Pracht ausgeführt; es regte /sich, während der ganzen Darstellung, kein /Oden in den Hallen und Bänken; besonders /bei dem salve regina und noch mehr bei dem / 160 gloria in excelsis, war es, als ob die ganze /Bevölkerung der Kirche todt sei: dergestalt, /daß den vier gottverdammten Brüdern und /ihrem Anhang zum Trotz, auch der Staub /auf dem Estrich nicht verweht ward, und /das Kloster noch bis an den Schluß des /dreißigjährigen Krieges bestanden hat, wo /man es, vermöge eines Artikels im westphä/lischen Frieden, gleichwohl säkularisirte. /
Sechs Jahre darauf, da diese Begeben/ 170 heit längst vergessen war, kam die Mutter /dieser vier Jünglinge aus dem Haag an, und /stellte, unter dem betrübten Vorgeben, daß /dieselben gänzlich verschollen wären, bei dem /Magistrat zu Aachen, wegen der Straße, die /sie von hier aus genommen haben mogten, /141gerichtliche Untersuchungen an. Die letzten /Nachrichten, die man von ihnen in den Nie/derlanden, wo sie eigentlich zu Hause gehör/ten, gehabt hatte, war, wie sie meldete, ein / 180 vor dem angegebenen Zeitraum, am Vor/abend eines Frohnleichnamsfestes, geschriebe/ner Brief des Prädicanten, an seinen Freund, /einen Schullehrer in Antwerpen, worin er /demselben, mit vieler Heiterkeit oder vielmehr /Ausgelassenheit, von einer gegen das Kloster /der heiligen Cäcilie entworfenen Unterneh/mung, über welche sich die Mutter jedoch /nicht näher auslassen wollte, auf vier dichtge/drängten Seiten vorläufige Anzeige machte. / 190 Nach mancherlei vergeblichen Bemühungen, /die Personen, welche diese bekümmerte Frau /suchte, auszumitteln, erinnerte man sich end/lich, daß sich schon seit einer Reihe von Jah/ren, welche ohngefähr auf die Angabe paßte, /vier junge Leute, deren Vaterland und Her/kunft unbekannt sei, in dem durch des Kai/sers Vorsorge unlängst gestifteten Irrenhause /der Stadt befanden. Da dieselben jedoch an /142der Ausschweifung einer religiösen Idee krank / 200 lagen, und ihre Aufführung, wie das Gericht /dunkel gehört zu haben meinte, äußerst trüb/selig und melancholisch war; so paßte dies /zu wenig auf den, der Mutter nur leider zu /wohl bekannten Gemüthsstand ihrer Söhne, /als daß sie auf diese Anzeige, besonders da /es fast herauskam, als ob die Leute katho/lisch wären, viel hätte geben sollen. Gleich/wohl, durch mancherlei Kennzeichen, womit /man sie beschrieb, seltsam getroffen, begab / 210 sie sich eines Tages, in Begleitung eines Ge/richtsboten, in das Irrenhaus, und bat die /Vorsteher um die Gefälligkeit, ihr zu den vier /unglücklichen, sinnverwirrten Männern, die /man daselbst aufbewahre, einen prüfenden Zu/tritt zu gestatten. Aber wer beschreibt das /Entsetzen der armen Frau, als sie gleich auf /den ersten Blick, so wie sie in die Thür trat, /ihre Söhne erkannte: sie saßen, in langen, /schwarzen Talaren, um einen Tisch, auf wel/ 220 chem ein Crucifix stand, und schienen, mit /gefalteten Händen schweigend auf die Platte /143gestützt, dasselbe anzubeten. Auf die Frage /der Frau, die ihrer Kräfte beraubt, auf einen /Stuhl niedergesunken war: was sie daselbst /machten? antworteten ihr die Vorsteher: „daß /sie bloß in der Verherrlichung des Heilands /begriffen wären, von dem sie, nach ihrem /Vorgeben, besser als andre, einzusehen glaub/ten, daß er der wahrhaftige Sohn des allei/ 230 nigen Gottes sei.“ Sie setzten hinzu: „daß /die Jünglinge, seit nun schon sechs Jahren, /dies geisterartige Leben führten; daß sie we/nig schliefen und wenig genössen; daß kein /Laut über ihre Lippen käme; daß sie sich bloß /in der Stunde der Mitternacht einmal von /ihren Sitzen erhöben; und daß sie alsdann, /mit einer Stimme, welche die Fenster des /Hauses bersten machte, das gloria in excel/sis intonirten. Die Vorsteher schlossen schlössen mit / 240 der Versicherung: daß die jungen Männer /dabei körperlich vollkommen gesund wären; /daß man ihnen sogar eine gewisse, obschon /sehr ernste und feierliche, Heiterkeit nicht ab/sprechen könnte; daß sie, wenn man sie für /144verrückt erklärte, mitleidig die Achseln zuck/ten, und daß sie schon mehr als einmal ge/äußert hätten: „wenn die gute Stadt Aachen /wüßte, was sie, so würde dieselbe ihre Ge/schäfte bei Seite legen, und sich gleichfalls, / 250 zur Absingung des gloria, um das Crucifix /des Herrn niederlassen.“ /
Die Frau, die den schauderhaften An/blick dieser Unglücklichen nicht ertragen konnte /und sich bald darauf, auf wankenden Knieen, /wieder hatte zu Hause führen lassen, begab /sich, um über die Veranlassung dieser unge/heuren Begebenheit Auskunft zu erhalten, /am Morgen des folgenden Tages, zu Herrn /Veit Gotthelf, berühmten Tuchhändler der / 260 Stadt; denn dieses Mannes erwähnte der von /dem Prädieanten geschriebene Brief, und es /ging daraus hervor, daß derselbe an dem /Project, das Kloster der heiligen Cäcilie am /Tage des Frohnleichnamsfestes zu zerstören, /eifrigen Antheil genommen habe. Veit Gott/helf, der Tuchhändler, der sich inzwischen inzwisehen ver/heirathet, mehrere Kinder gezeugt, und die /be/145trächtliche Handlung seines Vaters übernom/ 270 men hatte, empfing die Fremde sehr liebreich: /und da er erfuhr, welch ein Anliegen sie zu /ihm führe, so verriegelte er die Thür, und /ließ sich, nachdem er sie auf einen Stuhl nie/dergenöthigt hatte, folgendermaßen verneh/men: „Meine liebe Frau! Wenn ihr mich, /der mit euren Söhnen vor sechs Jahren in /genauer Verbindung gestanden, in keine Un/tersuchung deshalb verwickeln wollt, so will /ich euch offenherzig und ohne Rückhalt ge/ 280 stehen: ja, wir haben den Vorsatz gehabt, /dessen der Brief erwähnt! Wodurch diese That, /zu deren Ausführung alles, auf das Ge/naueste, mit wahrhaft gottlosem Scharfsinn, /angeordnet war, gescheitert ist, ist mir unbe/greiflich; der Himmel selbst scheint das Klo/ster der frommen Frauen in seinen heiligen /Schutz genommen zu haben. Denn wißt, /daß sich eure Söhne bereits, zur Einleitung /entscheidenderer Auftritte, mehrere muthwil/ 290 lige, den Gottesdienst störende Possen er/laubt hatten: mehr denn dreihundert, mit / 146Beilen und Pechkränzen versehene Böse/wichter, aus den Mauern unserer damals/ irregeleiteten Stadt, erwarteten nichts als das /Zeichen, das der Prädicant geben sollte, um /den Dom der Erde gleich zu machen. Da/gegen, bei Anhebung der Musik, nehmen /eure Söhne plötzlich, in gleichzeitiger Bewe/gung, und auf eine uns auffallende Weise, / 300 die Hüthe ab; sie legen, nach und nach, wie in /tiefer unaussprechlicher Rührung, die Hände /vor ihr herabgebeugtes Gesicht, und der Prädi/cant, indem er sich, nach einer erschüttern/den Pause, plötzlich umwendet, ruft uns /Allen mit lauter fürchterlicher Stimme zu: /gleichfalls unsere Häupter zu entblößen! Ver/gebens fordern ihn einige Genossen flüsternd, /indem sie ihn mit ihren Armen leichtfertig/ anstoßen, auf, das zur Bilderstürmerei ver/ 310 abredete Zeichen zu geben: der Prädicant, /statt zu antworten, läßt sich, mit kreuzweis /auf die Brust gelegten Händen, auf Knieen /nieder und murmelt, sammt den Brüdern, /die Stirn inbrünstig in den Staub herab ge/147drückt, die ganze Reihe noch kurz vorher von /ihm verspotteter Gebete ab. Durch diesen /Anblick tief im Innersten verwirrt, steht der /Haufen der jämmerlichen Schwärmer, seiner /Anführer beraubt, in Unschlüssigkeit und Un/ 320 thätigkeit, bis an den Schluß des, vom Al/tar wunderbar herabrauschenden Oratoriums /da; und da, auf Befehl des Commandanten, /in eben diesem Augenblick mehrere Arreti/rungen verfügt, und einige Frevler, die sich /Unordnungen erlaubt hatten, von einer Wa/che aufgegriffen und abgeführt wurden, so /bleibt der elenden Schaar nichts übrig, als /sich schleunigst, unter dem Schutz der ge/drängt aufbrechenden Volksmenge, aus dem / 330 Gotteshause zu entfernen. Am Abend, da /ich in dem Gasthofe vergebens mehrere Mal /nach euren Söhnen, welche nicht wiederge/kehrt waren, gefragt hatte, gehe ich, in der /entsetzlichsten Unruhe, mit einigen Freunden /wieder nach dem Kloster hinaus, um mich /bei den Thürstehern, welche der kaiserlichen /Wache hülfreich an die Hand gegangen wa/148ren, nach ihnen zu erkundigen. Aber wie /schildere ich euch mein Entsetzen, edle Frau, / 340 da ich diese vier Männer nach wie vor, mit /gefalteten Händen, den Boden mit Brust /und Scheiteln küssend, als ob sie zu Stein /erstarrt wären, heißer Inbrunst voll vor /dem Altar der Kirche daniedergestreckt liegen /sehe! Umsonst forderte sie der Klostervoigt, /der in eben diesem Augenblick herbeikommt, /indem er sie am Mantel zupft und an den /Armen rüttelt, auf, den Dom, in welchem /es schon ganz finster werde, und kein Mensch / 350 mehr gegenwärtig sei, zu verlassen: sie hören, /auf träumerische Weise halb aufstehend, nicht /eher auf ihn, als bis er sie durch seine Knechte /unter den Arm nehmen, und vor das Por/tal hinaus führen läßt: wo sie uns endlich, /obschon unter Seufzern und häufigem herz/zerreißenden Umsehen nach der Kathedrale, /die hinter uns im Glanz der Sonne präch/tig funkelte, nach der Stadt folgen. Die /Freunde und ich, wir fragen sie, zu wieder/ 360 holten Malen, zärtlich und liebreich auf dem /149Rückwege, was ihnen in aller Welt Schreck/liches, fähig, ihr innerstes Gemüth dergestalt /umzukehren, zugestoßen sei; sie drücken uns, /indem sie uns freundlich ansehen, die Hände, /schauen gedankenvoll auf den Boden nieder /und wischen sich — ach! von Zeit zu Zeit, /mit einem Ausdruck, der mir noch jetzt das /Herz spaltet, die Thränen aus den Augen. /Drauf, in ihre Wohnungen angekommen, / 370 binden sie sich ein Kreuz, sinnreich und zier/lich von Birkenreisern zusammen, und setzen /es, einem kleinen Hügel von Wachs einge/drückt, zwischen zwei Lichtern, womit die /Magd erscheint, auf dem großen Tisch in des /Zimmers Mitte nieder, und während die /Freunde, deren Schaar sich von Stunde zu /Stunde vergrößert, händeringend zur Seite /stehen, und in zerstreuten Gruppen, sprachlos /vor Jammer, ihrem stillen, gespensterartigen / 380 Treiben zusehen: lassen sie sich, gleich als /ob ihre Sinne vor jeder andern Erscheinung /verschlossen wären, um den Tisch nieder, und /schicken sich still, mit gefalteten Händen, zur /150Anbetung an. Weder des Essens begehren /sie, das ihnen, zur Bewirthung der Genos/sen, ihrem am Morgen gegebenen Befehl ge/mäß, die Magd bringt, noch späterhin, da /die Nacht sinkt, des Lagers, das sie ihnen, /weil sie müde scheinen im Nebengemach auf/ 390 gestapelt hat; die Freunde, um die Entrü/stung des Wirths, den diese Aufführung be/fremdet, nicht zu reizen, müssen sich an ei/nen, zur Seite üppig gedeckten Tisch nieder/lassen, und die, für eine zahlreiche Gesellschaft /zubereiteten Speisen, mit dem Salz ih/rer bitterlichen Thränen gebeizt, einnehmen. /Jetzt plötzlich schlägt die Stunde der Mitter/nacht; eure vier Söhne, nachdem sie einen /Augenblick gegen den dumpfen Klang der / 400 Glocke aufgehorcht, heben sich plötzlich in /gleichzeitiger Bewegung, von ihren Sitzen /empor; und während wir, mit niedergelegten /Tischtüchern, zu ihnen hinüberschauen, ängst/licher Erwartung voll, was auf so seltsames /und befremdendes Beginnen erfolgen werde: /fangen sie, mit einer entsetzlichen und gräßli/151chen Stimme, das gloria in excelsis zu in/toniren an. So mögen sich Leoparden und /Wölfe anhören lassen, wenn sie zur eisigen / 410 Winterzeit, das Firmament anbrüllen: die /Pfeiler des Hauses, versichere ich euch, er/schütterten, und die Fenster, von ihrer Lun/gen sichtbarem Athem getroffen, drohten klir/rend, als ob man Hände voll schweren San/des gegen ihre Flächen würfe, zusammen zu /brechen. Bei diesem grausenhaften Auftritt/ stürzen wir besinnungslos, mit sträubenden /Haaren aus einander; wir zerstreuen uns, /Mäntel und Hüte zurücklassend, durch die / 420 umliegenden Straßen, welche in kurzer Zeit, /statt unsrer, von mehr denn hundert, aus /dem Schlaf geschreckter Menschen, angefüllt /waren; das Volk drängt sich, die Hausthüre /sprengend, über die Stiege dem Saale zu, /um die Quelle dieses schauderhaften und em/pörenden Gebrülls, das, wie von den Lippen /ewig verdammter Sünder, aus dem tiefsten /Grund der flammenvollen Hölle, jammervoll /um Erbarmung zu Gottes Ohren heraufdrang, / 430 152aufzusuchen. Endlich, mit dem Schlage der /Glocke Eins, ohne auf das Zürnen des Wirths, /noch auf die erschütterten Ausrufungen des sie /umringenden Volks gehört zu haben, schließen /sie den Mund; sie wischen sich mit einem /Tuch den Schweiß von der Stirn, der ihnen, /in großen Tropfen, auf Kinn und Brust nie/derträuft; und breiten ihre Mäntel aus, und /legen sich, um eine Stunde von so qualvol/len Geschäften auszuruhen, auf das Getäfel / 440 des Bodens nieder. Der Wirth, der sie ge/währen läßt, schlägt, so bald er sie schlummern sieht, ein Kreuz über sie; und froh, /des Elends für den Augenblick erledigt zu /sein, bewegt er, unter der Versicherung, der /Morgen werde eine heilsame Veränderung /herbeiführen, den Männerhaufen, der gegen/wärtig ist, und der geheimnißvoll mit einan/der murmelt, das Zimmer zu verlassen. Aber /leider! schon mit dem ersten Schrei des Hahns, / 450 stehen die Unglücklichen wieder auf, um dem /auf dem Tisch befindlichen Kreuz gegenüber, /dasselbe öde, gespensterartige Klosterleben, das /153nur Erschöpfung sie auf einen Augenblick aus/zusetzen zwang, wieder anzufangen. Sie neh/men von dem Wirth, dessen Herz ihr jam/mervoller Anblick schmelzt, keine Ermahnung, /keine Hülfe an; sie bitten ihn, die Freunde /liebreich abzuweisen, die sich sonst regelmäßig /am Morgen jedes Tages bei ihnen zu ver/ 460 sammeln pflegten; sie begehren nichts von ihm, /als Wasser und Brod, und eine Streu, wenn /es sein kann, für die Nacht: dergestalt, daß /dieser Mann, der sonst viel Geld von ihrer /Heiterkeit zog, sich genöthigt sah, den ganzen /Vorfall den Gerichten anzuzeigen und sie zu /bitten, ihm diese vier Menschen, in welchen /ohne Zweifel der böse Geist walten müsse, /aus dem Hause zu schaffen. Worauf sie, auf /Befehl des Magistrats, in ärztliche Unter/ 470 suchung genommen, und, da man sie ver/rückt befand, wie ihr wißt, in die Gemächer /des Irrenhauses untergebracht wurden, wnrden [BKA liest ›wnrden‹ und emendiert in ›wurden‹.] das /die Milde des letzt verstorbenen Kaisers, zum /Besten der Unglücklichen dieser Art, innerhalb /der Mauern unserer Stadt gegründet hat. Dies /154und noch Mehreres sagte Veit Gotthelf, der /Tuchhändler, das wir hier, weil wir zur Ein/sicht in den inneren Zusammenhang der Sache /genug gesagt zu haben meinen, unterdrücken; / 480 und forderte die Frau nochmals auf, ihn auf /keine Weise, falls es zu gerichtlichen Nach/forschungen über diese Begebenheit kommen /sollte, darin zu verstricken.“/
Drei Tage darauf, da die Frau, durch /diesen Bericht tief im Innersten erschüttert, /am Arm einer Freundinn nach dem Kloster /hinausgegangen war, in der wehmüthigen Ab/sicht, auf einem Spaziergang, weil eben das /Wetter schön war, den entsetzlichen Schau/ 490 platz in Augenschein zu nehmen, auf welchem /Gott ihre Söhne wie durch unsichtbare Blitze /zu Grunde gerichtet hatte: fanden die Wei/ber den Dom, weil eben gebaut wurde, am /Eingang durch Planken versperrt, und konn/ten, wenn sie sich mühsam erhoben, durch die /Oeffnungen der Bretter hindurch von dem /Inneren nichts, als die prächtig funkelnde /Rose im Hintergrund der Kirche wahrneh/155men. Viele hundert Arbeiter, welche fröh/ 500 liche Lieder sangen, waren auf schlanken, viel/fach verschlungenen Gerüsten beschäftigt, die /Thürme noch um ein gutes Drittheil zu er/höhen, und die Dächer und Zinnen dersel/ben, welche bis jetzt nur mit Schiefer bedeckt /gewesen waren, mit starkem, hellen, im Strahl /der Sonne glänzigen Kupfer zu belegen. Da/bei stand ein Gewitter, dunkelschwarz, mit/ vergoldeten Rändern, im Hintergrunde des /Baus; dasselbe hatte schon über die Gegend / 510 von Aachen ausgedonnert, und nachdem es /noch einige kraftlose Blitze, gegen die Rich/tung, wo der Dom stand, geschleudert hatte, /sank es, zu Dünsten aufgelöst, misvergnügt /murmelnd in Osten herab. Es traf sich, daß /da die Frauen von der Treppe des weitläu/figen klösterlichen Wohngebäudes herab, in man/cherlei Gedanken vertieft, dies doppelte Schau/spiel betrachteten, eine Klosterschwester, welche /vorüberging, zufällig erfuhr, wer die unter dem / 520 Portal stehende Frau sei; dergestalt, daß die /Aebtissin, die von einem, den Frohnleich/156namstag betreffenden Brief, den dieselbe bei /sich trug, gehört hatte, unmittelbar darauf /die Schwester zu ihr herabschickte, und die /niederländische Frau ersuchen ließ, zu ihr /herauf zu kommen. Die Niederländerinn, /obschon einen Augenblick dadurch betroffen, /schickte sich nichts desto weniger ehrfurchtsvoll /an, dem Befehl, den man ihr angekündigt / 530 hatte, zu gehorchen; und während die Freun/dinn, auf die Einladung der Nonne, in ein /dicht an dem Eingang befindliches Nebenzim/mer abtrat, öffnete man der Fremden, welche /die Treppe hinaufsteigen mußte, die Flügelthü/ren des schön gebildeten Söllers selbst. Daselbst /fand sie die Aebtissin, welches eine edle Frau, /von stillem königlichen Ansehn war, auf /einem Sessel sitzen, den Fuß auf einem Sche/mel gestützt, der auf Drachenklauen ruhte; / 540 ihr zur Seite, auf einem Pulte, lag die Par/titur einer Musik. Die Aebtissin, nachdem /sie befohlen hatte, der Fremden einen Stuhl /hinzusetzen, entdeckte ihr, daß sie bereits durch /den Bürgermeister von ihrer Ankunft in der /157Stadt gehört; und nachdem sie sich, auf men/schenfreundliche Weise, nach dem Befinden ih/rer unglücklichen Söhne erkundigt, auch sie /ermuntert hatte, sich über das Schicksal, das /dieselben betroffen, weil es einmal nicht zu än/ 550 dern sei, möglichst zu fassen: eröffnete sie ihr /den Wunsch, den Brief zu sehen, den der Prä/dicant an seinen Freund, den Schullehrer /in Antwerpen geschrieben hatte. Die Frau, /welche Erfahrung genug besaß, einzusehen, /von welchen Folgen dieser Schritt sein konnte, /fühlte sich dadurch auf einen Augenblick in /Verlegenheit gestürzt; da jedoch das ehrwür/dige Antlitz der Dame unbedingtes Vertrauen /erforderte, und auf keine Weise schicklich war, / 560 zu glauben, daß ihre Absicht sein könne, von /dem Inhalt desselben einen öffentlichen Ge/brauch zu machen; so nahm sie, nach einer /kurzen Besinnung, den Brief aus ihrem Bu/sen, und reichte ihn, unter einem heißen /Kuß auf ihre Hand, der fürstlichen Dame /dar. Die Frau, während die Aebtissin den /Brief überlas, warf nunmehr einen Blick /158auf die nachlässig über dem Pult aufgeschla/gene Partitur; und da sie, durch den Be/ 570 richt des Tuchhändlers, auf den Gedanken /gekommen war, es könne wohl die Gewalt /der Töne gewesen sein, die, an jenem schau/erlichen Tage, das Gemüth ihrer armen /Söhne zerstört und verwirrt habe: so fragte /sie die Klosterschwester, die hinter ihrem Stuhle /stand, indem sie sich zu ihr umkehrte, schüch/tern: ob dies das Musikwerk wäre, das vor /sechs Jahren, am Morgen jenes merkwürdi/gen Frohnleichnamsfestes, in der Kathedrale / 580 aufgeführt worden sei?“ Auf die Antwort /der jungen Klosterschwester: ja! sie erinnere /sich davon gehört zu haben, und es pflege /seitdem, wenn man es nicht brauche, im /Zimmer der hochwürdigsten Frau zu liegen: /stand, lebhaft erschüttert, die Frau auf, und /stellte sich, von mancherlei Gedanken durch/kreuzt, vor den Pult. Sie betrachtete die /unbekannten zauberischen Zeichen, womit sich /ein fürchterlicher Geist geheimnißvoll den Kreis / 590 abzustecken schien, und meinte, in die Erde zu /159sinken, da sie grade das gloria in excelsis auf/geschlagen fand. Es war ihr, als ob das /ganze Schrecken der Tonkunst, das ihre /Söhne verderbt hatte, über ihrem Haupte /rauschend daherzöge; sie glaubte, bei dem /bloßen Anblick ihre Sinne zu verlieren, und /nachdem sie schnell, mit einer unendlichen Re/gung von Demuth und Unterwerfung unter /die göttliche Allmacht, das Blatt an ihre Lip/ 600 pen gedrückt hatte, setzte sie sich wieder auf ih/ren Stuhl zurück. Inzwischen hatte die Aeb/tissinn den Brief ausgelesen und sagte, indem /sie ihn zusammen faltete: „Gott selbst hat das /Kloster, an jenem wunderbaren Tage, gegen /den Uebermuth eurer schwer verirrten Söhne /beschirmt. Welcher Mittel er sich dabei bedient, /kann euch, die ihr eine Protestantinn seid, gleich/gültig sein: ihr würdet auch das, was ich /euch darüber sagen könnte, schwerlich begrei/ 610 fen. Denn vernehmt, daß schlechterdings nie/mand weiß, wer eigentlich das Werk, das /ihr dort aufgeschlagen findet, im Drang der /schreckenvollen Stunde, da die Bilderstürme/160rei über uns hereinbrechen sollte, ruhig auf /dem Sitz der Orgel dirigirt habe. Durch ein /Zeugniß, das am Morgen des folgenden Ta/ges, in Gegenwart des Klostervoigts und /mehrerer anderen Männer aufgenommen und /im Archiv niedergelegt ward, ist erwiesen, / 620 daß Schwester Antonia, die einzige, die das /Werk dirigiren konnte, während des ganzen /Zeitraums seiner Aufführung, krank, bewußt/los, ihrer Glieder schlechthin unmächtig, im /Winkel ihrer Klosterzelle darniedergelegen ha/be; eine Klosterschwester, die ihr als leibliche /Verwandte zur Pflege ihres Körpers beige/ordnet war, ist während des ganzen Vormit/tags, da das Frohnleichnamsfest in der Kathe/drale gefeiert worden, nicht von ihrem Bette / 630 gewichen. Ja, Schwester Antonia würde ohn/fehlbar selbst den Umstand, daß sie es nicht /gewesen sei, die, auf so seltsame und befrem/dende Weise, auf dem Altan der Orgel er/schien, bestätigt und bewahrheitet haben: wenn /ihr gänzlich sinnberaubter Zustand erlaubt /hätte, sie darum zu befragen und die Kranke /161nicht noch am Abend desselben Tages, an /dem Nervenfieber, an dem sie danieder lag, /und welches früherhin gar nicht lebensgefähr/ 640 lich schien, verschieden wäre. Auch hat der /Erzbischof von Trier, an den dieser Vorfall /berichtet ward, bereits das Wort ausgespro/chen, das ihn allein erklärt, nämlich, „daß /die heilige Cäcilie selbst dieses zu gleicher /Zeit schreckliche und herrliche Wunder voll/bracht habe; und von dem Papst habe ich /so eben ein Breve erhalten, wodurch er dies /bestätigt.“ Und damit gab sie der Frau den /Brief, den sie sich bloß von ihr erbeten hatte, / 650 um über das, was sie schon wußte, nähere /Auskunft zu erhalten, unter dem Versprechen, /daß sie davon keinen Gebrauch machen würde, /zurück; und nachdem sie dieselbe noch gefragt /hatte, ob zur Wiederherstellung ihrer Söhne /Hoffnung sei, und und [Nicht gelesen oder stillschweigend emendiert.] und [Nicht gelesen oder stillschweigend emendiert.] ob sie ihr vielleicht mit /irgend etwas, Geld oder eine andere Unter/stützung, zu diesem Zweck dienen könne, wel/ches die Frau, indem sie ihr den Rock küßte, /weinend verneinte: grüßte sie dieselbe freund/ 660 lich mit der Hand und entließ sie./
162Hier endigt diese Legende. Die Frau, de/ren Anwesenheit in Achen gänzlich nutzlos /war, ging mit Zurücklassung eines kleinen Ca/pitals, das sie zum Beßten ihrer armen Söh/ne bei den Gerichten niederlegte, nach dem /Haag zurück, wo sie ein Jahr darauf, durch /diesen Vorfall tief bewegt, in den Schooß der /katholischen Kirche zurückkehrte: die Söhne /aber starben, im späten Alter, eines heitern / 670 und vergnügten Todes, nachdem sie noch ein/mal, ihrer Gewohnheit gemäß, das gloria in /excelsis abgesungen hatten./