kleist-digital
  • Werke
  • Briefe
  • Verzeichnisse
  •  Lexikalische Suche
  •  Semantische Suche
kleist-digital
  •  Suche
  • Werke
  • Briefe
  • Verzeichnisse

  • Apparat
  • Entstehung
  • Erwähnte Personen
  • Erwähnte Orte
  • Kollation Editionen
  • Stellenkommentar
  • Home
  • Briefe
  • [005] U. v. Kleist, [Mai/Juni](?) 1799

[005] An Ulrike v. Kleist, Mai/Juni(?) 1799

Textwiedergabe  nach Handschrift.

  • Textkritische Fassung
  • Konstituierter Text
    ohne orig. Zeilenfall
  • Konstituierter Text
    [+] ohne langes ſ

Die textkritische Fassung Handschrift zeigt die diplomatische, nicht emendierte Wiedergabe der Handschrift. Der originale Zeilenfall ist beibehalten. Die Fassung wird auf Smartphones wegen der Zeilenlänge nicht angezeigt.

In der Fassung Konstituierter Text ohne originalen Zeilenfall wird der Zeilenfall mit einem Schrägstrich / angezeigt, die Zeile wird aber nicht umbrochen. Alle Emendationen sind ausgeführt und im Anhang einzeln verzeichnet. Ansonsten fusst die Fassung auf dem konstituierten Text der textkritischen Fassung der Handschrift.

In der Fassung Konstituierter Text ohne langes ſ ist das lange ſ durch s ersetzt. Ansonsten fusst die Fassung auf dem konstituierten Text der textkritischen Fassung der Handschrift.

[1] [BKA IV/1 54] [DKV IV 36] [SE:1993 II 486] [Heimböckel:1999 (Reclam) 36] [MA II 557]

Wenn ich von Jemandem]jemandem Bildung erhalte, mein liebes Ul⸗
rikchen,
ſo wünſche ich aus Dank ihm dankbar auch wieder einige Bil⸗
dung
zurückzugeben; wenn ich aus ſeinem Umgange Nutzen
ziehe, [SE:1993 II 487] ſo beſtrebe ich mich wünſche ich, daß er auch in dem meinigen einigen Nutzen
finde; nicht gern möchgte]möchte ich, daß er die Zeit bei mir verlöre, 5
die ich bei ihm gewinne.

Wie lehrreich u.]und bildend Dein Umgang mir iſt, wie vielen
wahren Vortheil ]Vorteil Deine Freundſchaft mir gewährt, das ſcheue
ich mich nicht, Dir offenherzig mitzutheilen;]mitzuteilen; denn vielmehr es iſt recht u.]und
billig, daß ein Wohlthäter]Wohltäter den ganzen Umfang ſeiner Wohlthat]Wohltat 10
kennen lernt, damit er ſich ſelbſt durch das Bewußtſein
ſeiner Handlung u.]und des Nut[Heimböckel:1999 (Reclam) 37] zens, den ſie geſtiftet hat, belohne.

Du, mein liebes Ulrikchen, erſetzeſt mir die ſchwer zu er⸗
ſetzende
u.]und wahrlich Dich ehrende Stelle meiner hochachtungs⸗
würdigen
Freunde zu Potsdam.
Ich ſcheue mich [MA II 558] auch nicht Dir 15
zu geſtehen, daß die Ausſicht auf Deine Freundſchaft, ſo ſehr
ich ſonſt andere Univerſitäten zu beziehen wünſchte, mich
dennoch, wenigſtens zum Theil]Teil, beſtimmte, meinen Aufenthalt
in Frankfurt zu wählen.
Denn Grundſätze u.]und Entſchlüſſe wie
die meinigen, bedürfen der Unterſtützung, um über ſo viele 20
Hinderniſſe u.]und Schwierigkeiten unwandelbar hinausgeführt
zu werden.
[DKV IV 37] Du, mein liebes Ulrikchen, ſicherſt mir den guten
Erfolg derſelben.
Du biſt die Einzige]einzige die mich hier ganz ver⸗
ſteht.
Durch unſere vertraulichen Unterredungen, durch unſere
Zweifel u.]und Prüfungen, durch unſere freundlichen u.]und freundſchaft⸗25
lichen
Zwiſte, deren Gegenſtand nur allein die Wahrheit iſt, der
wir beide aufrichtig entgegenſtreben u.]und in welcher wir uns auch
gewöhnlich beide vereinigen, durch alle dieſe Vortheile]Vorteile Deines Umgangs
ſcheidet ſich das WahFalſche in meinen Grundſätzen u.]und Entſchlüſſen
immer mehr von dem Wahren, das ſie enthalten, und reinigen ſich 30
folglich immer mehr, u. und ]und knüpfen ſich immer inniger an meine
Seele, u.]und wurzeln immer tiefer, u.]und werden immer mehr u.]und mehr
[2] [BKA IV/1 57] mein Eigenthum]Eigentum.
Deine Mitwiſſenſchaft meiner ganzen
Empfindungsweiſe, Deine Kenntniß]Kenntnis meiner Natur ſchützt ſie sie ich [sic!]
um ſo mehr vor ihrer Ausartung; denn nicht ich fürchte nicht allein 35
mir ſelbſtſelbſt, zu misfallen, ich fürchte nun auch Dir zu misfallen]mißfallen.

Dein Beiſpiel ſchützt mich vor alle Einflüſſe der Thorheit]Torheit u.]und
des Laſters, Deine Achtung ſichert mir die meineige eigene zuzu. . —
Doch genug.
Du ſiehſt, wie unaufhaltſam mir Dein Lob entfließt, mit wie
vielem Vergnügen ich mich als Deinen Schuldner bekenne.
Ich ſchätze 40
Dich]dich als das edelſte der Mädchen, u.]und liebe dich, Dich, als die, welche mir jetzt
am [SE:1993 II 488] theuerſten]teuersten iſt.
Wärſt Du ein Mann oder nicht meine Schwe⸗
ſter,
ich würde ſtolz ſein, mein ganze das Schickſaal]Schicksal meines ganzen Lebens
an das Deinige zu knüpfen. Doch genug hiervon.

[Heimböckel:1999 (Reclam) 38]

Doch genug hiervon. So viele von Dir empfangene u.]und innig 45
empfundene Wohlthaten]Wohltaten will ich dadurch zu belohnen ver[?] ſuchen,
daß ich unaufgefordert u.]und mit der Kühnheit Freimüthigkeit]Freimütigkeit der Freundſchaft
bis in das Innerſte Dei das Geheimſte u.]und Innerſte Deines
Herzens dringedringe; ; u.]und finde ich es nicht, wie ich es wünſche, Dir finde ich
Dich unentſchieden, wo Du längſt entſchieden ſein ſollteſt, 50
finde ich Dich ſchlummern, wo Du längſt wach ſein ſollteſt,
dann will ich mit der Kühnheit der Freundſchaft Dich wecken.

[MA II 559]

Traue mir zu, daß es meine innige Überzeugung [?] iſt, auf
welcher ſich das jetzt folgende]Folgende gründet.
Bei ſo vielen Fähig⸗
keiten,
die Deinen Verſtand, bei ſo vielen herrlichen [DKV IV 38] Tugenden, 55
die Dein Herz ſchmücken, ſcheint es lieblos u.]und unedel eine dun⸗
kle
Seite an Dir dennoch auszuſpüren.
Aber grade dieſe dunkle
Seite, wünſche ich iſt keine unbedeutende, gleichgültige.
Ich denke, ſie würde
Deinem Weſen die Krone aufſetzen, wenn ſie im Lichte ſtünde,
und darum wünſche ich, ſie zu erhellen.
Und wenn auch das nicht 60
wäre, — wenn Jemand]jemand ſo nahe am Ziele ſteht, ſo verdient
er ſchon allein um der ſeltnen Erſcheinung willen, daß man
ihn ganz hinaufführe.

Tauſend Menſchen höre ich reden u. ſehe ich handeln; aber es
fällt mir nicht ein, [daß] das Warum? zu erſinnen, ſie ſelbſt

[3] [BKA IV/1 58]

Tauſend Menſchen ſehe höre ich handeln reden u.]und ſehe ich handeln, und u
es fällt mir nicht ein, nach dem Warum? zu fragen.
Sie 65
ſelbſt wiſſen es nicht, dunkle Neigungen leiten ſie, der Au⸗
genblick
beſtimmt ihre Handlungen.
Sie bleiben für immer un⸗
mündig
u.]und ihr Schickſal ein Spiel des Zufalls.
Sie fühlen ſich
wie von unſichtbaren Kräften geleitet u.]und gezogen, ſie folgen
ihnen im Gefühl ihrer Schwäche wohin es ſie auch führt, zum 70
Glücke, das ſie dann nur halb genießen, zum Unglücke, das
ſie dann doppelt fühlen.

Eine ſolche ſclaviſche]sklavische Hingebung in die Launen des Tyran⸗
nen
Schickſaal]Schicksal, iſt nun freilich eines freien, denkenden
Menſchen höchſt unwürdig.
Ein freier]freier, denkender Menſch 75
bleibt da nicht ſtehen, wo der Zufall ihn hinſtößt; oder wenn
er bleibt, ſo bleibt er aus Gründen, aus Wahl des Beſſern.

Er fühlt, daß man ſich über das Schickſaal]Schicksal erheben [Heimböckel:1999 (Reclam) 39] könne, ja,
daß es im richtigen Sinne ſelbſt möglich ſei, das Schickſaal]Schicksal
zu leitetn.
Er beſtimmt nach ſeiner Ver[SE:1993 II 489] nunft, welches Glück 80
für ihn das höchſte ſei, er entwirft ſich ſeinen Lebensplan,
er und ſtrebt ſeinem Ziele nach ſicher aufgeſtellten Grundſätzen
mit allen ſeinen Kräften entgegen.
Denn ſchon die Bibel ſagt,
willſt Du]du das Himmelreich erwerben, ſo legſte ſelbſt Hand an.

So lange ein Menſch noch nicht im Stande iſt, ſich ſelbſt einen 85
Lebensplan zu bilden, ſo lange iſt u.]und bleibt er unmündig,
er ſtehe nun als Kind unter der Vormundſchaft ſeiner EÄltern]Eltern
oder als Mann unter der Vormundſchaft des Schickſals; Schickſals. ]Schicksals.
u. beide Die
für ihn erſte Handlung der Selbſtſtändigkeit]Selbständigkeit eines Menſchen iſt der
Entwurf eines ſolchen Lebensplan’s]Lebensplans.
Wie [DKV IV 39] nöthig]nötig es iſt, ihn ſo 90
früh wie möglich zu bilden, daß davon hat mich der Verluſt, von
[MA II 560] ſieben koſtbaren Jahren, die ich dem Soldatenſtande widmete,
von ſieben unwiderbringlich]unwiederbringlich verlornen Jahren, die ich für meinen
Lebensplan hätte anwenden gekonnt, wenn ich ihn früher
zu bilden verſtanden hätte, überzeugt.
95

[4] [BKA IV/1 61]

Ein ſchönes Kennzeichen eines ſolchen ſolches Menſchen, der nach
ſichern Principien]Prinzipien handelt, iſt Conſequenz]Konsequenz, Zuſammenhang,
u.]und Einheit in ſeinem Betragen.
Das hohe Ziel, dem er ent⸗
gegenſtrebt,
iſt das Mobil aller ſeiner Gedanken, Empfindungen
u.]und Handlungen.
Alles, was er denkt, fühlt u.]und will, hat Bezug 100
auf dieſes Ziel, alle Kräfte ſeiner Seele u.]und ſeines Körpers
ſtreben nach dieſem gemeinſchaftlichen Ziele.
Nie werden ſeine
Worte ſeinen Handlungen, oder umgekehrt, widerſprechen, für
jede Äu ſeiner Äußerungen wird er Gründe der Vernunft auf⸗
zuweiſen
haben.
Wenn man nur ſein Ziel kennt, ſo wird es 105
nicht ſchwer ſein die Gründe ſeines Betragens zu erforſchen.

Ich wende mich nun zu Dir, mein liebes Ulrikchen. Deiner
denkenden Seele ſtünde jener hohe Charakter der Selbſt⸗
ſtändigkeit]Selbständigkeit
wohl an.
Und doch vermiſſe ich ihn an Dir. Du biſt für
jeden Augenblick des Lebens oft nur zu beſtimmt, aber Dein 110
ganzes Leben haſt Du noch nicht ins [Heimböckel:1999 (Reclam) 40] Auge gefaßt.
Aus dieſem
Umſtande erkläre ich mir die häufigen Inconſequenzen]Inkonsequenzen Deines
Betragens, die Widerſprüche Deiner Äußerungen u.]und Handlungen.

Denn ich ſinne gern bei Dir über die Gründe derſelben nach,
aber ungern finde ich, daß ſie nicht immer übereinſtimmen.
115

Du äußerſt oft hohe vorurtheilsfreie]vorurteilsfreie Grundſätze der Tu⸗
gend,
u.]und doch klebſt Du noch oft an den gemeinſten Vorurtheilen]Vorurteilen.

[SE:1993 II 490] Nie ſehe ich Dich gegen wahren ächten]echten Wohlſtand anſtoßen, und
doch bildeſt Du oft Wünſche u.]und Pläne, die mit ihm durchaus unverein⸗
bar
ſind.
Ich hoffe Du wirſt mich überheben, dieſe Meinungen Urtheile]Urteile mit 120
Beiſpielen zu belegen.
Du biſt entweder viel zu frei und vor⸗
urtheillos]vorurteilos,
oder bei weitem nicht genug.
Die Folge davon iſt,
daß ich nicht beſtimmen kann, ob das, was du Du Du Du ]Du willſt u.]und thuſt]tust, recht ſei, [DKV IV 40] oder
nicht, u.]und ich muß fürchten, daß Du ſelbſt darüber unentſchie⸗
den
biſt.
125

Denn warum hätteſt Du mir, als ich Dir geſtern die raſche
Frage that]tat, ob Du Dir einen beſtimmten Lebensplan gebildet
[5] [BKA IV/1 62] hätteſt, mit Verwirrung u.]und Schüchternheit, wenigſtens nicht
[MA II 561] mit jener Dir eigenthümlichen]eigentümlichen Reinheit u.]und Gradheit geant⸗
wortet,
Du verſtündeſt meine Frage nicht?
Meine ſimple 130
Frage deren Sinn doch ſo offen u.]und klar iſt?
Muß ich nicht fürch⸗
ten,
daß Du nur in der Nothwendigkeit]Notwendigkeit mir eine Antwort
geben zu müſſen, die Deiner nicht würdig iſt, lieber dieſen
— Ausweg gewählt haſt?

Ein Lebensplan iſt — — Mir fällt die Definition Difinition vom Birn⸗135
kuchen
einſt, ein, ein, ein, ]ein, die Du einſt im Scherze Pannwitzen gabſt, u.]und
wahrlich, ich möchte Dir im Ernſte eine ähnliche geben.
Denn
bezeichnet hier nicht ebenfalls ein einfacher Ausdruck einen
einfachen ſind Sinn?
Ein Reiſender, der das Ziel ſeiner Reiſe,
u.]und den Weg zu ſeinem Ziele kennt, hat einen Reiſeplan.
Was 140
der Reiſeplan dem Reiſenden iſt, das iſt der Lebensplan dem Men⸗
ſchen.
Ohne Reiſeplan ſich auf die Reiſe begeben, heißt erwar⸗
ten,
daß der Zufall uns auf an das Ziel führe, das wir ſelbſt nicht
kennen.
Ohne Lebensplan [Heimböckel:1999 (Reclam) 41] leben, heißt vom Zufall erwarten,
ob er uns ſelbſt ſo glücklich machen werde, wie wir es ſelbſt 145
nicht begreifen.

Ja, es iſt mir ſo unbegreiflich, wie ein Menſch ohne Lebensplan
leben könne, u.]und ich fühle, an der Sicherheit, mit welcher ich die
Gegenwart benutze, an der Ruhe, mit welcher ich in die Zu⸗
kunft
blicke, ſo innig, welch’]welch ein unſchätzbares Glück mir 150
mein Lebensplan gewährt, u.]und der Zuſtand, ohne Lebensplan,
ohne feſte Beſtimmung, immer ſchwankend zwiſchen unſichern
Wünſchen, immer im Widerſpruch mit meinen Pflichten, ein
Spiel des Zufalls, eine Puppe am Drathe]Drate des Schickſaals]Schicksals —
dieſer unwürdige Zuſtand ſcheint mir ſo verächtlich, und wür⸗155
de
mich ſo unglücklich machen, daß mir der Tod bei weitem
wünſchenswerther]wünschenswerter wäre.

[SE:1993 II 491]

Du ſagſt, nur Männer beſäßen dieſe uneingeſchränkte
Freiheit des Willens, Dein Geſchlecht ſei unauflöslich an [DKV IV 41] die
[6] [BKA IV/1 65] Verhältniſſe der Meinung u.]und des Rufs Rufes geknüpft. —
Aber iſt 160
es aus Deinem Munde, daß ich dies höre?
Biſt Du nicht ein freies
Mädchen, ſo wie ich ein freier Mann?
Welcher andern Herr⸗
ſchaft
biſt Du unterworfen, als allein der Herrſchaft
der Vernunft?

Aber dieſer ſollſt Du Dich auch vollkommen unterwerfen. Etwas 165
muß dem Menſchen heilig ſein.
Uns beide, denen es die Ce⸗
remonien]Zeremonien
der Religion u.]und die Geſetze Vorſchriften des conventio[MA II 562] nellen]konventionellen
Wohlſtandes nicht ſind, muüßſſen um ſo mehr die Vors Geſetze
der Vernunft heilig ſein.
Der Staat fordert von uns weiter
nichts, als daß wir die zehn Gebote nicht übertreten.
Wer gebie⸗170
tet
uns aber die Tugenden der Menſchenliebe, der Duldung,
der Beſcheidenheit, der Sittſamkeit zu üben, wenn es nicht die
Vernunft thut?]tut?
Der Staat ſichert uns unſer Eigenthum]Eigentum, unſre
Ehre, u.]und unſer Leben; wer ſichert uns aber unſer inneres Glück
zu, wenn es die Vernunft nicht thut?]tut?
175

So innig ich es nun auch wünſche, Dich überhaupt für die An⸗
nahme
irgend eines Lebensplans zu beſtimmen, weil ich [Heimböckel:1999 (Reclam) 42] Dir gern
das Glück gönne, das Sicherheit, Ruhe die Kenntniß]Kenntnis unſrer Beſtimmung, dieer
ſichere Genuß der Gegenwart u.]und die Ruhe für die Zukunft
gewähren, ſo möchte ich doch nicht gern vermeiden einen Einfluß auf die 180
Annahme eines beſtimmten Lebensplanes haben.
Das möge
allein das Werk Deiner Vernunft ſeinſein. .
Prüfe Deine Natur, beurtheile]beurteile
welches moraliſche Glück ihr am angemeſſenſten ſei, mit einem
Worte, bilde Dir einen Lebensplan, u.]und ſtrebe dann ſeiner Aus⸗
führung
entgegen.
Dann wird nie wieder geſchehen, was ich vor⸗185
her
an Dir tadelte, dann werden ſich Deine Wünſche u.]und Deine
Pflichten, Deine Worte u.]und Deine Handlungen nie widerſprechen.

Aber noch weit mehr als ich fürchte, Du möchteſt noch bisher
keinen Lebensplan gebildet haben, muß ich fürchten, daß
Du grade den einzigen Lebensplan verworfen haſt, der Deiner 190
würdig wäre.
Laß mich aufrichtig, ohne Rückhalt, ohne alle falſche
[7] [BKA IV/1 66] Scham reden.
Es ſcheint mir, — es iſt möglich daß ich mich irre,
u.]und ich will mich freuen, wenn Du [DKV IV 42] mich vom Gegentheile]Gegenteile überzeugen
kannſt, — aber es ſcheint mir, als ob Du bei Dir entſchieden
wäreſt, Dich nie zu verheirathen]verheiraten.
Wie? Du wollteſt nie 195
Gattinn [SE:1993 II 492] u.]und Mutter werden?
Du wärſt entſchieden, deine Deine Deine höchſte
Beſtimmung nicht zu erfüllen, Deine heiligſte Pflicht nicht zu
vollziehen?
Und entſchieden wärſt Du darüber? Ich bin wahrlich
begierig die Gründe zu hören, die Du für dieſen höchſt ſtraf⸗
baren
u.]und verbrecheriſchen Entſchluß aufzuweiſen haſt. haben kannſt.
200

Eine einzige ſimple Wahrheit Frage zerſtört ihn. Denn wenn
Du ein Recht hätteſt, Dich nicht zu verheirathen, warum ich
nicht auch?
Und wenn wir beide dazu ein Recht haben, warum
ein Dritter nicht auch?
Und wenn dieſes iſt, warum nicht auch
ein [MA II 563] Vierter, ein Fünfter, warum nicht wir Alle?]alle?
Aber das 205
Leben, welches wir von unſern EÄltern]Eltern empfundingen, iſt ein
heiliges Unterpfand, das wir unſern Kindern wieder mitthei⸗
len]mitteilen
ſollen.
Das iſt ein ewiges Geſetz der Natur, auf wel⸗
ches
ſich ihre Erhaltung gründet.

[Heimböckel:1999 (Reclam) 43]

Dieſe Wahrheit iſt ſo klar, u.]und das Intereſſe, das ſie bei ſich führt, 210
dem Herzen des Menſchen ſo innig eingepflanzt, daß es mir][fehlt]
ſchwer wird zu glauben, ſie ſei Dir unbekannt.
Aber was
ſoll ich glauben, wenn Dir der, nicht ſcherzhafte, nur alzu]allzu
ernſtliche Wunſch entſchlüpft, Du möchteſt die Welt bereiſen?

Iſt es auf Reiſen, daß man Geliebte ſuchet u.]und findet? Iſt 215
es dort wo man die Pflichten der Gattinn]Gattin u.]und der Mutter am
zweckmäßigſten erfüllt?
Willſt d Oder willſt Du endlich
Vielleicht willſt Du mir eine ähnliche Frage thun. Aber täuſche
Dich nicht
wenn Dir auch das Reiſen überdrüßig]überdrüssig iſt, zurück⸗
kehren,
nach wenn nun derie Blüthe]Blüte Deiner Jahre dahingewelkt iſt,
u.]und erwarten, ob ein Mann philoſophiſch genug denke, 220
[8] [BKA IV/1 69] Dich dennoch zu heirathen?]heiraten
Soll er Weiblichkeit von einem
Weibe erwarten, deren Geſchäft es während ihrer Reiſe
war, ſie zu unterdrücken?

Aber Du glaubſt Dich tröſten zu können, wenn Du auch
einen ſolchen Mann nicht fändeſt.
Täuſche Dich nicht, Ul⸗225
rickchen,
ich fühle es, Du würdeſt Dich nicht tröſten, nein, wahr⸗
lich,
Dein bei Deinem Herzen würdeſt Du Dich nicht tröſten.

Geſetzt, es wäre Dein Wille, Dich nach der Rückkehr [DKV IV 43] von
Deiner Reiſe irgendwo in einer ſchönen Gegend mit
Deinem Vermögen anzukaufen.
Ach, dem Landmann iſt 230
ein Gatte unentbehrlich.
Der Städter mag ihrer ſeiner entbehren,
ich will es glauben, das Geräuſch der Stadt kann ſeine geheimen
Wünſche unterdrücken, er lernt das Glück nicht vermiſſen, das
er entbehrt.
Aber der Landmann iſt ohne Gattinn]Gattin immer
unglücklich.
Da fehlt ihm Troſt u.]und Hülfe in Widerwärtigkeiten, 235
da iſt er in Krankheiten ohne Wartung u.]und Pflege, da [SE:1993 II 493] ſieht er ſich allein
ſtehen in der weiten lebendigen Natur, er fühlt ſich unvermißt
u.]und unbeweint, wenn er an den Tod denkt.
Und ſelbſt wenn
ſeine Bemühungen gedeihen u.]und mit Früchten wuchern, — wo
will er hin mit allen Erzeugniſſen der Natur?
Da fehlen 240
ihm Kinder, die ſie ihm verzehren helfen, da drückt er weh⸗
müthig]wehmütig
fremde Kinder an ſeine Bruſt u.]und reicht ihnen von
ſeinem Überfluſſe. —
Täuſche Dich daher nicht, Ulrikchen. Dann
erſt würdeſt Du innig fühlen, wel[MA II 564] ches Du Glück Du entbehren
[Heimböckel:1999 (Reclam) 44] mußt, u.]und um ſo innig tiefer würdeſt dies dich ſchmerzen, je mehr 245
Du es ſelbſt muthwillig]mutwillig verworfen haſt.

Und was fwürde Dich für ſo vielen Verluſt ſchadlos halten
können?
Doch wohl nicht der höchſt unreife Gedanke frei u.]und unab⸗
hängig
zu ſein?
Kannſt Du Dich dem allgemeinen Schickſal Deines
Geſchlechtes entziehen, das nun einmal ſeiner Natur nach die 250
zweite Stelle in der Reihe der Weſen bekleidet?
Nicht einen Zaun,
nicht einen elenden Graben kannſt Du ohne Hülfe eines Freu Mannes
[9] [BKA IV/1 70] überſchreiten, u.]und willſt allein über die Höhen u.]und über die Abgründe
des Lebens wandeln?
Oder willſt Du von Fremden fordern, was
Dir ein Freund gern u.]und freiwillig leiſten würde?
255

Aus allen dieſen Gründen gieb den unſeelig deren Wahrheit
Du gewiß einſehen u.]und fühlen wirſt, gieb]gib den jenen unſeeligen]unseligen Entſchluß
auf, wenn Du ihn gefaßt haben ſollteſt.
Du entſagſt mit ihm
Deiner höchſten Beſtimmung, Deiner heiligſten Pflicht, u. auch
De der erhabenſten Würde, zu welcher ein Weib emporſteigen 260
kann, u. auch dem einzigen Glücke, das Deiner wartet.

Und wenn Mädchen wie Du ſich der erhabnen heiligen Pflicht Mütter
u.]und Erzieherinnen des Menſchengeſchlechts Menschengeschlechtes [Menschengeschlechts?] zu wer[DKV IV 44] den, entziehen,
was ſoll aus der Nachkommenſchaft werden?
Soll die Sorge für
künftige MenſchengGeſchlechter nur der Üppigkeit feiler 265
oder eitler Dirnen überlaſſen ſein?
Oder iſt ſie nicht
vielmehr eine heilige Verpflichtung tugendhafter
Mädchen?. ]Mädchen? —
Ich ſchweige, u.]und überlaſſe es Dir, dieſen Gedanken
auszubilden. —

5
An Ulrike v. Kleist, Mai/Juni(?) 1799

Quellenangaben für Zitation
https://kleist-digital.de/briefe/005, [ggf. Angabe von Zeile/Vers oder Seite], 21.05.2025

Zeilen- u. Seitennavigation
  • Entstehung
  • Erwähnte Personen
  • Erwähnte Orte
  • Kollation Editionen
  • Stellenkommentar

Textkritische Auszeichnungen

  • einemdurchgestrichen
  • dichüberschrieben (hier ›d‹)
  • hiermitvergessen worden zu streichen
  • aber keines redlichenStreichung wieder aufgehoben
  • dieserhinzugefügt
  • dieserhinzugefügt und gestrichen
  • allgemeinen Reichstagehinzugefügt in 2. Korrektur
  • Reſpecthinzugefügt in 3. Korrektur
  • derergänzt in der Zeile (hier ›d‹)
  • nicht gern aufhaltenzwischen den Zeilen ergänzt
  • nicht gern aufhaltenergänzt, anschließend gestrichen
  • ¿¿¿nicht entziffert (zeigt geschätzte Anzahl Buchstaben an, hier 3)

Apparat

Textwiedergabe nach Kopie der Handschrift. Die Handschrift ist in Besitz von:
Biblioteka Jagiellońska, Kraków; Sammlung Autographa (H. v. Kleist)

Erstdruck: [Kober:1860] 14–24

Angaben zur Überlieferung und Provenienz
Siehe:
[BKA] IV/1 53
[DKV] 613

Entstehung
Der Brief enthält keine Orts- und Datumsangabe. Kleist dürfte ihn nach Aufnahme seines Studiums (10. April 1799 in Frankfurt / Oder) und vor dem Brief v. 12. November 1799 geschrieben haben. Da Ulrike v. Kleist ab Juli bis November in Frankfurt abwesend war, der Brief aber von einem Gespräch mit ihr vom Vortage ausgeht, ist ein Datum im Mai/Juni 1799 am wahrscheinlichsten.

Pagina Kleist-Ausgaben
  • [Kober:1860] 14–24
  • [MP:1936] (005) I 32–41
  • [BKA] (005) IV/1 53–71
  • [MA] (005) II 557–564
  • [DKV] (007) IV 36–44
  • [SE:1993] (005) II 486–493
  • [Heimböckel:1999 (Reclam)] (005) 36–44
 Erwähnte Personen
  • []Kleist, Ulrike von (6)
 Erwähnte Orte
  • []Frankfurth a Oder (1)
  • []Potsdam (1)
  • [»]Alle Orte anzeigen +/–
 Vergleich Editionen

Die durchgeführte Kollation mit unterschiedlichen historischen und aktuellen Kleist-Editionen zeigt bestimmte Lesarten und Emendationen, die von der vorliegenden emendierten Fassung abweichen. In den Anmerkungen finden sich hierzu häufig nähere Erläuterungen. (Gelegentlich ist die Ursache für Abweichungen ein Transkriptionsfehler in der jeweiligen Edition.)

Disclaimer: Abweichungen, die ihren Grund in typographisch bedingten Normalisierungen und Standardisierungen haben, werden nicht angezeigt. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann nicht erhoben werden. Mitgeteilte Abweichungen müssen am Original überprüft werden.

In die Kollation einbezogene Kleist-Ausgaben

[MP:1936][BKA][MA][DKV][SE:1993][Heimböckel:1999 (Reclam)]

[MP:1936] [5 Abw.]
  • 88Schickſals; ] Schickſals.
  • 96ſolchen ] ſolches
  • 123du ] Du
  • 135Definition ] Difinition
  • 136einſt, ] ein,
[DKV:1990] [6 Abw.]
  • 31u. ] und
  • 64und ] u
  • 123du ] Du
  • 136einſt, ] ein,
  • 160Rufs ] Rufes
  • 263Menſchengeſchlechts ] Menschengeschlechtes [Menschengeschlechts?]
[BKA:1989] [1 Abw.]
  • 196deine ] Deine
[Recl:1999] [2 Abw.]
  • 123du ] Du
  • 136einſt, ] ein,
[MA:2010] [3 Abw.]
  • 34ſie ] sie ich [sic!]
  • 41dich, ] Dich,
  • 196deine ] Deine
Stellenkommentar

136 Pannwitzen Wohl einer der 3 Cousins von Pannwitz.

WERKE
  • Dramen
  • Erzählungen
  • Lyrik
  • Sonstige Prosa
  • Berliner Abendblätter
  • Phöbus
VERZEICHNISSE
  • Personen
  • Orte
  • Kleist Texte (alphabetisch)
  • Von Kleist erwähnte Werke
  • Literaturverzeichnis
SONSTIGES
  • Über die Edition
  • Kleist-Wörter-Rätsel
  • Handschriften-Simulator
  • Handschriften-Fonts
  • Kontakt Herausgeber
  • Impressum / Haftungsausschluss
  • Datenschutzerklärung
  • Creative Commons Lizenzvertrag Dieses Werk ist lizenziert unter einer
    Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz