Das Erdbeben in Chili.
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Das Erdbeben in Chili./
In St. Jago, der Hauptſtadt des Koͤnig/reichs Chili, ſtand gerade in dem Augenblicke /der großen Erderſchuͤtterung vom Jahre 1647, /bei welcher viele tauſend Menſchen ihren Un/tergang fanden, ein junger, auf ein Verbre/chen angeklagter Spanier, Namens Jero/nimo Rugera, an einem Pfeiler des Ge/faͤngniſſes, in welches man ihn eingeſperrt /hatte, und wollte ſich erhenken. Don Hen/ 10 rico Aſteron, einer der reichſten Edelleute /der Stadt, hatte ihn ungefaͤhr ein Jahr zu/vor aus ſeinem Hauſe, wo er als Lehrer an/geſtellt war, entfernt, weil er ſich mit Don/na Joſephe, ſeiner einzigen Tochter, in /einem zaͤrtlichen Einverſtaͤndniß befunden hatte./Eine geheime Beſtellung, die dem alten Don, /nachdem er die Tochter nachdruͤcklich gewarnt /308hatte, durch die haͤmiſche Aufmerkſamkeit ſei/nes ſtolzen Sohnes verrathen worden war, / 20 entruͤſtete ihn dergeſtalt, daß er ſie in dem /Karmeliter-Kloſter unſrer lieben Frauen vom /Berge daſelbſt unterbrachte. Durch einen /gluͤcklichen Zufall hatte Jeronimo hier die /Verbindung von neuem anzuknuͤpfen gewußt, /und in einer verſchwiegenen Nacht den Klo/ſtergarten zum Schauplatze ſeines vollen Gluͤk/kes gemacht. Es war am Frohnleichnamsfeſte, /und die feierliche Prozeſſion der Nonnen, /welchen die Novizen folgten, nahm eben ih/ 30 ren Anfang, als die ungluͤckliche Joſephe, bei /dem Anklange der Glocken, in Mutterwehen /auf den Stufen der Kathedrale niederſank. /Dieſer Vorfall machte außerordentliches Auf/ſehn; man brachte die junge Suͤnderin, ohne /Ruͤckſicht auf ihren Zuſtand, ſogleich in ein /Gefaͤngniß, und kaum war ſie aus den Wo/chen erſtanden, als ihr ſchon, auf Befehl des /Erzbischofs, der geſchaͤrfteſte Prozeß gemacht /ward. Man ſprach in der Stadt mit einer / 40 ſo großen Erbitterung von dieſem Skandal, /309und die Zungen fielen ſo ſcharf uͤber das ganze /Kloſter her, in welchem er ſich zugetragen /hatte, daß weder die Fuͤrbitte der Familie Aſt/eron, noch auch ſogar der Wunſch der Aebtiſſin /ſelbſt, welche das junge Maͤdchen wegen ihres /ſonſt untadelhaften Betragens lieb gewonnen /hatte, die Strenge, mit welcher das kloͤſterliche /Geſetz ſie bedrohte, mildern konnte. Alles, was/geſchehen konnte, war, daß der Feuertod, zu/ 50 dem ſie verurtheilt wurde, zur großen Ent/ruͤſtung der Matronen und Jungfrauen von /St. Jago, durch einen Machtſpruch des Vi/cekoͤnigs, in eine Enthauptung verwandelt /ward. Man vermiethete in den Straßen, /durch welche der Hinrichtungſzug gehen ſollte, /die Fenſter, man trug die Daͤcher der Haͤuſer /ab, und die frommen Toͤchter der Stadt lu/den ihre Freundinnen ein, um dem Schau/ſpiele, das der goͤttlichen Rache gegeben wur/ 60 de, an ihrer ſchweſterlichen Seite beizuwoh/nen. Jeronimo, der inzwiſchen auch in ein /Gefaͤngniß geſetzt worden war, wollte die /Beſinnung verlieren, als er dieſe ungeheure /310Wendung der Dinge erfuhr. Vergebens ſann /er auf Rettung: uͤberall, wohin ihn auch der /Fittig der vermeſſenſten Gedanken trug, ſtieß /er auf Riegel und Mauern, und ein Verſuch, /die Gitterfenſter zu durchfeilen, zog ihm, da /er entdeckt ward, eine nur noch engere Ein/ 70 ſperrung zu. Er warf ſich vor dem Bildniſſe /der heiligen Mutter Gottes nieder, und be/tete mit unendlicher Inbrunſt zu ihr, als der /Einzigen, von der ihm jetzt noch Rettung kom/men koͤnnte. Doch der gefuͤrchtete Tag er/ſchien, und mit ihm in ſeiner Bruſt die Ue/berzeugung von der voͤlligen Hoffnungsloſig/keit ſeiner Lage. Die Glocken, welche Joſe/phen zum Richtplatze begleiteten, ertoͤnten, /und Verzweiflung bemaͤchtigte ſich ſeiner Seele. / 80 Das Leben ſchien ihm verhaßt, und er be/ſchloß, ſich durch einen Strick, den ihm der /Zufall gelaſſen hatte, den Tod zu geben. Eben /ſtand er, wie ſchon geſagt, an einem Wand/pfeiler, und befeſtigte den Strick, der ihn /dieſer jammervollen Welt entreißen ſollte, an /eine Eiſenklammer, die an dem Geſimſe der/311ſelben eingefugt war; als ploͤtzlich der groͤßte /Theil der Stadt, mit einem Gekrache, als ob /das Firmament einſtuͤrzte, verſank, und alles, / 90 was Leben athmete, unter ſeinen Truͤmmern /begrub. Jeronimo Rugera war ſtarr vor /Entſetzen; und gleich als ob ſein ganzes Be/wußtſeyn zerſchmettert worden waͤre, hielt er /ſich jetzt an dem Pfeiler, an welchem er hatte /ſterben wollen, um nicht umzufallen. Der /Boden wankte unter ſeinen Fuͤßen, alle Waͤnde /des Gefaͤngniſſes riſſen, der ganze Bau neigte /sich, nach der Straße zu einzuſtuͤrzen, und /nur der, ſeinem langſamen Fall begegnende, / 100 Fall des gegenuͤberſtehenden Gebaͤudes verhin/derte, durch eine zufaͤllige Woͤlbung, die /gaͤnzliche Zubodenſtreckung desſelben. Zitternd, /mit ſtraͤubenden Haaren, und Knieen, die un/ter ihm brechen wollten, glitt Jeronimo uͤber /den ſchiefgeſenkten Fußboden hinweg, der Oeff/nung zu, die der Zuſammenſchlag beider Haͤu/ſer in die vordere Wand des Gefaͤngniſſes ein/geriſſen hatte. Kaum befand er ſich im Freien, /als die ganze, ſchon erſchuͤtterte Straße auf / 110 312eine zweite Bewegung der Erde voͤllig zuſam/menfiel. Beſinnungslos, wie er ſich aus die/ſem allgemeinen Verderben retten wuͤrde, eilte /er, uͤber Schutt und Gebaͤlk hinweg, indeſſen /der Tod von allen Seiten Angriffe auf ihn /machte, nach einem der naͤchſten Thore der /Stadt. Hier ſtuͤrzte noch ein Haus zuſam/men, und jagte ihn, die Truͤmmer weit um/herſchleudernd, in eine Nebenſtraße; hier leckte /die Flamme ſchon, in Dampfwolken blitzend, / 120 aus allen Giebeln, und trieb ihn ſchreckenvoll /in eine andere; hier waͤlzte ſich, aus ſeinem /Geſtade gehoben, der Mapochofluß auf ihn /heran, und riß ihn bruͤllend in eine dritte. /Hier lag ein Haufen Erſchlagener, hier aͤchzte /noch eine Stimme unter dem Schutte, hier /ſchrieen Leute von brennenden Daͤchern her/ab, hier kaͤmpften Menſchen und Thiere mit /den Wellen, hier war ein muthiger Retter /bemuͤht, zu helfen; hier ſtand ein Anderer, / 130 bleich wie der Tod, und ſtreckte ſprachlos zit/ternde Haͤnde zum Himmel. Als Jeronimo /das Thor erreicht, und einen Huͤgel jenſeits /313desſelben beſtiegen hatte, ſank er ohnmaͤchtig /auf demſelben nieder. Er mochte wohl eine /Viertelſtunde in der tiefſten Bewußtloſigkeit /gelegen haben, als er endlich wieder erwachte, /und ſich, mit nach der Stadt gekehrtem Ruͤk/ken, halb auf dem Erdboden erhob. Er be/fuͤhlte ſich Stirn und Bruſt, unwiſſend, was / 140 er aus ſeinem Zuſtande machen ſollte, und /ein unſaͤgliches Wonnegefuͤhl ergriff ihn, als /ein Weſtwind, vom Meere her, ſein wieder/kehrendes Leben anwehte, und ſein Auge ſich /nach allen Richtungen uͤber die bluͤhende Ge/gend von St. Jago hinwandte. Nur die ver/ſtoͤrten Menſchenhaufen, die ſich uͤberall blik/ken ließen, beklemmten ſein Herz; er begriff /nicht, was ihn und ſie hiehergefuͤhrt haben /konnte, und erſt, da er ſich umkehrte, und / 150 die Stadt hinter ſich verſunken ſah, erinnerte /er ſich des ſchrecklichen Augenblicks, den er er/lebt hatte. Er ſenkte ſich ſo tief, daß ſeine /Stirn den Boden beruͤhrte, Gott fuͤr ſeine /wunderbare Errettung zu danken; und gleich, /als ob der eine entſetzliche Eindruck, der ſich /314ſeinem Gemuͤth eingepraͤgt hatte, alle fruͤhe/ren daraus verdraͤngt haͤtte, weinte er vor /Luſt, daß er ſich des lieblichen Lebens, voll /bunter Erſcheinungen, noch erfreue. Drauf, / 160 als er eines Ringes an ſeiner Hand gewahrte, /erinnerte er ſich ploͤtzlich auch Joſephens; und /mit ihr ſeines Gefaͤngniſſes, der Glocken, die /er dort gehoͤrt hatte, und des Augenblicks, /der dem Einſturze desſelben vorangegangen /war. Tiefe Schwermuth erfuͤllte wieder ſeine /Bruſt; ſein Gebet fing ihn zu reuen an, und/ fuͤrchterlich ſchien ihm das Weſen, das uͤber /den Wolken waltet. Er miſchte ſich unter das /Volk, das uͤberall, mit Rettung des Eigen/ 170 thums beſchaͤftigt, aus den Thoren ſtuͤrzte, /und wagte ſchuͤchtern nach der Tochter Aſte/rons, und ob die Hinrichtung an ihr vollzo/gen worden ſey, zu fragen; doch niemand /war, der ihm umſtaͤndliche Auskunft gab. /Eine Frau, die auf einem faſt zur Erde ge/druͤckten Nacken eine ungeheure Laſt von Ge/raͤthſchaften und zwei Kinder, an der Bruſt /haͤngend, trug, ſagte im Vorbeigehen, als ob /315ſie es ſelbſt angeſehen haͤtte: daß ſie enthaup/ 180 tet worden ſey. Jeronimo kehrte ſich um; /und da er, wenn er die Zeit berechnete, /ſelbſt an ihrer Vollendung nicht zweifeln konnte, /ſo ſetzte er ſich in einem einſamen Walde nie/der, und uͤberließ ſich ſeinem vollen Schmerz. /Er wuͤnſchte, daß die zerſtoͤrende Gewalt der /Natur von neuem uͤber ihn einbrechen moͤchte. /Er begriff nicht, warum er dem Tode, den /ſeine jammervolle Seele ſuchte, in jenen Au/genblicken, da er ihm freiwillig von allen / 190 Seiten rettend erſchien, entflohen ſey. Er /nahm ſich feſt vor, nicht zu wanken, wenn /auch jetzt die Eichen entwurzelt werden, und /ihre Wipfel uͤber ihn zuſammenſtuͤrzen ſollten. /Darauf nun, da er ſich ausgeweint hatte, /und ihm, mitten unter den heißeſten Thraͤ/nen, die Hoffnung wieder erſchienen war, /ſtand er auf, und durchſtreifte nach allen Rich/tungen das Feld. Jeden Berggipfel, auf dem /ſich die Menſchen verſammelt hatten, beſuchte / 200 er; auf allen Wegen, wo ſich der Strom der /Flucht noch bewegte, begegnete er ihnen; wo /316nur irgend ein weibliches Gewand im Winde /flatterte, da trug ihn ſein zitternder Fuß hin: /doch keines deckte die geliebte Tochter Aſte/rons. Die Sonne neigte ſich, und mit ihr /ſeine Hoffnung ſchon wieder zum Untergange, /als er den Rand eines Felſens betrat, und /ſich ihm die Ausſicht in ein weites, nur von /wenig Menſchen beſuchtes Thal eroͤffnete. Er / 210 durchlief, unſchluͤſſig, was er thun ſollte, die/ einzelnen Gruppen derſelben, und wollte ſich /ſchon wieder wenden, als er ploͤtzlich an einer /Quelle, die die Schlucht bewaͤſſerte, ein jun/ges Weib erblickte, beſchaͤftigt, ein Kind in /ſeinen Fluthen zu reinigen. Und das Herz /huͤpfte ihm bei dieſem Anblick: Anblick; er ſprang voll /Ahndung uͤber die Geſteine herab, und rief: /O Mutter Gottes, du Heilige! und erkannte /Joſephen, als ſie ſich bei dem Geraͤuſche / 220 ſchuͤchtern umſah. Mit welcher Seligkeit um/armten ſie ſich, die Ungluͤcklichen, die ein /Wunder des Himmels gerettet hatte! Joſephe /war, auf ihrem Gang zum Tode, dem Richt/platze ſchon ganz nahe geweſen, als durch den /317krachenden Einſturz der Gebaͤude ploͤtzlich der /ganze Hinrichtungszug aus einander geſprengt /ward. Ihre erſten entſetzensvollen Schritte tru/gen ſie hierauf dem naͤchſten Thore zu; doch die /Beſinnung kehrte ihr bald wieder, und ſie wandte / 230 ſich, um nach dem Kloſter zu eilen, wo ihr /kleiner, huͤlfloſer Knabe zuruͤckgeblieben war. /Sie fand das ganze Kloſter ſchon in Flam/men, und die Aebtiſſin, die ihr in jenen /Augenblicken, die ihre letzten ſeyn ſollten, /Sorge fuͤr den Saͤugling angelobt hatte, /ſchrie eben, vor den Pforten ſtehend, nach /Huͤlfe, um ihn zu retten. Joſephe ſtuͤrzte ſich,/ unerſchrocken durch den Dampf, der ihr ent/gegenqualmte, in das von allen Seiten ſchon / 240 zuſammenfallende Gebaͤude, und gleich, als ob /alle Engel des Himmels ſie umſchirmten, trat /ſie mit ihm unbeſchaͤdigt wieder aus dem Por/tal hervor. Sie wollte der Aebtiſſin, welche /die Haͤnde uͤber ihr Haupt zuſammenſchlug, /eben in die Arme ſinken, als dieſe, mit faſt /allen ihren Kloſterfrauen, von einem herab/fallenden Giebel des Hauſes, auf eine ſchmaͤh/318liche Art erſchlagen ward. Joſephe bebte bei /dieſem entſetzlichen Anblicke zuruͤck; ſie druͤckte / 250 der Aebtiſſin fluͤchtig die Augen zu, und floh, /ganz von Schrecken erfuͤllt, den theuern Kna/ben, den ihr der Himmel wieder geſchenkt /hatte, dem Verderben zu entreißen. Sie hatte /noch wenig Schritte gethan, als ihr auch /ſchon die Leiche des Erzbiſchofs begegnete, die /man ſo eben zerſchmettert aus dem Schutt /der Kathedrale hervorgezogen hatte. Der Pal/laſt des Vicekoͤnigs war verſunken, der Ge/richtshof, in welchem ihr das Urtheil geſpro/ 260 chen worden war, ſtand in Flammen, und /an die Stelle, wo ſich ihr vaͤterliches Haus /befunden hatte, war ein See getreten, und /kochte roͤthliche Daͤmpfe aus. Joſephe raffte /alle ihre Kraͤfte zuſammen, ſich zu halten. /Sie ſchritt, den Jammer von ihrer Bruſt /entfernend, muthig mit ihrer Beute von /Straße zu Straße, und war ſchon dem Thore /nah, als ſie auch das Gefaͤngniß, in welchem /Jeronimo geſeufzt hatte, in Truͤmmern ſah. / 270 Bei dieſem Anblicke wankte ſie, und wollte /319beſinnungslos an einer Ecke niederſinken; doch /in demſelben Augenblick jagte ſie der Sturz /eines Gebaͤudes hinter ihr, das die Erſchuͤtte/rungen ſchon ganz aufgeloͤſ’t hatten, durch /das Entſetzen geſtaͤrkt, wieder auf; ſie kuͤßte /das Kind, druͤckte ſich die Thraͤnen aus den /Augen, und erreichte, nicht mehr auf die /Graͤuel, die ſie umringten, achtend, das Thor. /Als ſie ſich im Freien ſahe, ſchloß ſie bald, / 280 daß nicht jeder, der ein zertruͤmmertes Ge/baͤude bewohnt hatte, unter ihm nothwen/dig muͤſſe zerſchmettert worden ſeyn. An dem /naͤchſten Scheidewege ſtand ſie ſtill, und harrte, /ob nicht Einer, der ihr, nach dem kleinen Phi/lipp, der liebſte auf der Welt war, noch er/ſcheinen wuͤrde. Sie ging, weil niemand kam, /und das Gewuͤhl der Menſchen anwuchs, wei/ter, und kehrte ſich wieder um, und harrte /wieder; und ſchlich, viel Thraͤnen vergießend, / 290 in ein dunkles, von Pinien beſchattetes Thal, /um ſeiner Seele, die ſie entflohen glaubte, /nachzubeten; und fand ihn hier, dieſen Ge/liebten, im Thale, und Seligkeit, als ob es /320das Thal von Eden geweſen waͤre. Dies Al/les erzaͤhlte ſie jetzt voll Ruͤhrung dem Jeroni/mo, und reichte ihm, da ſie vollendet hatte, den /Knaben zum Kuͤſſen dar. — Jeronimo nahm /ihn, und haͤtſchelte ihn in unſaͤglicher Vater/freude, und verſchloß ihm, da er das fremde / 300 Antlitz anweinte, mit Liebkoſungen ohne Ende /den Mund. Indeſſen war die ſchoͤnſte Nacht /herabgeſtiegen, voll wundermilden Duftes, ſo /ſilberglaͤnzend und ſtill, wie nur ein Dichter /davon traͤumen mag. Ueberall, laͤngs der /Thalquelle, hatten ſich, im Schimmer des /Mondſcheins, Menſchen niedergelaſſen, und /bereiteten ſich ſanfte Lager von Moos und /Laub, um von einem ſo qualvollen Tage aus/zuruhen. Und weil die Armen immer noch / 310 jammerten; dieſer, daß er ſein Haus, jener, /daß er Weib und Kind, und der dritte, daß /er Alles verloren habe: ſo ſchlichen Jeronimo /und Joſephe in ein dichteres Gebuͤſch, um /durch das heimliche Gejauchz ihrer Seelen /niemand zu betruͤben. Sie fanden einen pracht/vollen Granatapfelbaum, der ſeine Zweige, / 321voll duftender Fruͤchte, weit ausbreitete; und /die Nachtigall floͤtete im Wipfel ihr wolluͤſti/ges Lied. Hier ließ ſich Jeronimo am Stamme / 320 nieder, und Joſephe in ſeinem, Philipp in /Joſephens Schooß, ſaßen ſie, von ſeinem /Mantel bedeckt, und ruhten. Der Baum/ſchatten zog, mit ſeinen verſtreuten Lichtern, /uͤber ſie hinweg, und der Mond erblaßte ſchon /wieder vor der Morgenroͤthe, ehe ſie ein/ſchliefen. Denn Unendliches hatten ſie zu /ſchwatzen vom Kloſtergarten und den Gefaͤng/niſſen, und was ſie um einander gelitten haͤt/ten; und waren ſehr geruͤhrt, wenn ſie dach/ 330 ten, wie viel Elend uͤber die Welt kommen /mußte, damit ſie gluͤcklich wuͤrden! Sie be/ſchloſſen, ſobald die Erderſchuͤtterungen aufge/hoͤrt haben wuͤrden, nach La Conception zu /gehen, wo Joſephe eine vertraute Freundin /hatte, ſich mit einem kleinen Vorſchuß, den /ſie von ihr zu erhalten hoffte, von dort nach /Spanien einzuſchiffen, wo Jeronimos muͤt/terliche Verwandten wohnten, und daſelbſt /322ihr gluͤckliches Leben zu beſchließen.Hierauf, / 340 unter vielen Kuͤſſen, ſchliefen ſie ein./
Als ſie erwachten, ſtand die Sonne ſchon /hoch am Himmel, und ſie bemerkten in ihrer /Naͤhe mehrere Familien, beſchaͤftigt, ſich am /Feuer ein kleines Morgenbrod zu bereiten. /Jeronimo dachte eben auch, wie er Nahrung /fuͤr die Seinigen herbeiſchaffen ſollte, als ein /junger wohlgekleideter Mann, mit einem Kinde /auf dem Arm, zu Joſephen trat, und ſie mit /Beſcheidenheit fragte: ob ſie dieſem armen / 350 Wurme, deſſen Mutter dort unter den Baͤu/men beſchaͤdigt liege, nicht auf kurze Zeit ihre /Bruſt reichen wolle? Joſephe war ein wenig /verwirrt, als ſie in ihm einen Bekannten er/blickte; doch da er, indem er ihre Verwir/rung falſch deutete, fortfuhr: es iſt nur auf /wenige Augenblicke, Donna Joſephe, und die/ſes Kind hat, ſeit jener Stunde, die uns alle /ungluͤcklich gemacht hat, nichts genoſſen; ſo /ſagte ſie: „ich ſchwieg — aus einem andern / 360 Grunde, Don Fernando; in dieſen ſchreckli/chen Zeiten weigert ſich niemand, von dem, /323was er beſitzen mag, mitzutheilen:“ und nahm /den kleinen Fremdling, indem ſie ihr eigenes /Kind dem Vater gab, und legte ihn an ihre /Bruſt. Don Fernando war ſehr dankbar fuͤr /dieſe Guͤte, und fragte: ob ſie ſich nicht mit /ihm zu jener Geſellſchaft verfuͤgen wollten, /wo eben jetzt beim Feuer ein kleines Fruͤhſtuͤck /bereitet werde? Joſephe antwortete, daß ſie / 370 dies Anerbieten mit Vergnuͤgen annehmen /wuͤrde, und folgte ihm, da auch Jeronimo /nichts einzuwenden hatte, zu ſeiner Familie, /wo ſie auf das innigſte und zaͤrtlichſte von /Don Fernandos beiden Schwaͤgerinnen, die /ſie als ſehr wuͤrdige junge Damen kannte, /empfangen ward. Donna Elvire, Don Fer/nandos Gemahlin, welche ſchwer an den Fuͤ/ßen verwundet auf der Erde lag, zog Joſe/phen, da ſie ihren abgehaͤrmten Knaben an / 380 der Bruſt derſelben ſah, mit vieler Freund/lichkeit zu ſich nieder. Auch Don Pedro, ſein /Schwiegervater, der an der Schulter verwun/det war, nickte ihr liebreich mit dem Haupte /zu. — In Jeronimos und Joſephens Bruſt / 324regten ſich Gedanken von ſeltſamer Art. Wenn /ſie ſich mit ſo vieler Vertraulichkeit und Guͤte /behandelt ſahen, ſo wußten ſie nicht, was ſie /von der Vergangenheit denken ſollten, vom /Richtplatze, von dem Gefaͤngniſſe, und der / 390 Glocke; und ob ſie bloß davon getraͤumt haͤt/ten? Es war, als ob die Gemuͤther, ſeit /dem fuͤrchterlichen Schlage, der ſie durch/droͤhnt hatte, alle verſoͤhnt waͤren. Sie konnten /in der Erinnerung gar nicht weiter, als bis auf /ihn, zuruͤckgehen. Nur Donna Eliſabeth, welche /bei einer Freundinn, auf das Schauſpiel des ge/ſtrigen Morgens, eingeladen worden war, die /Einladung aber nicht angenommen hatte, ruhte /zuweilen mit traͤumeriſchem Blicke auf Joſe/ 400 phen; doch der Bericht, der uͤber irgend ein /neues graͤßliches Ungluͤck erſtattet ward, riß /ihre, der Gegenwart kaum entflohene Seele /ſchon wieder in dieſelbe zuruͤck. Man erzaͤhl/te, wie die Stadt gleich nach der erſten /Haupterſchuͤtterung von Weibern ganz voll /geweſen, die vor den Augen aller Maͤnner /niedergekommen ſeyen; wie die Moͤnche dar/325in, mit dem Kruzifix in der Hand, umher/gelaufen waͤren, und geſchrieen haͤtten: das / 410 Ende der Welt ſey da! wie man einer Wa/che, die auf Befehl des Vicekoͤnigs verlang/te, eine Kirche zu raͤumen, geantwortet haͤtte: /es gaͤbe keinen Vicekoͤnig von Chili mehr! /wie der Vicekoͤnig in den ſchrecklichſten Au/genblicken haͤtte muͤſſen Galgen aufrichten laſ/ſen, um der Dieberei Einhalt zu thun; und /wie ein Unſchuldiger, der ſich von hinten /durch ein brennendes Haus gerettet, von dem /Beſitzer aus Uebereilung ergriffen, und ſo/ 420 gleich auch aufgeknuͤpft worden waͤre. Donna /Elvire, bei deren Verletzungen Joſephe viel /beſchaͤftigt war, hatte in einem Augenblick, /da gerade die Erzaͤhlungen ſich am lebhafte/ſten kreuzten, Gelegenheit genommen, ſie zu /fragen: wie es denn ihr an dieſem fuͤrchterli/chen Tag ergangen ſey? Und da Joſephe /ihr, mit beklemmtem Herzen, einige Haupt/zuͤge davon angab, ſo ward ihr die Wolluſt, /Thraͤnen in die Augen dieſer Dame treten zu / 430 ſehen; Donna Elvire ergriff ihre Hand, und /326druͤckte ſie, und winkte ihr, zu ſchweigen. /Joſephe duͤnkte ſich unter den Seligen. Ein /Gefuͤhl, das ſie nicht unterdruͤcken konnte, /nannte den verfloßnen Tag, ſo viel Elend er /auch uͤber die Welt gebracht hatte, eine Wohl/that, wie der Himmel noch keine uͤber ſie ver/haͤngt hatte. Und in der That ſchien, mit/ten in dieſen graͤßlichen Augenblicken, in wel/chen alle irdiſchen Guͤter der Menſchen zu / 440 Grunde gingen, und die ganze Natur ver/ſchuͤttet zu werden drohte, der menſchliche /Geiſt ſelbſt, wie eine ſchoͤne Blume, aufzu/gehn. Auf den Feldern, ſo weit das Auge /reichte, ſah man Menſchen von allen Staͤn/den durcheinander liegen, Fuͤrſten und Bett/ler, Matronen und Baͤuerinnen, Staatsbe/amte und Tageloͤhner, Kloſterherren und /Kloſterfrauen: einander bemitleiden, ſich wech/ſelſeitig Huͤlfe reichen, von dem, was ſie zur / 450 Erhaltung ihres Lebens gerettet haben moch/ten, freudig mittheilen, als ob das allgemeine /Ungluͤck Alles, was ihm entronnen war, zu /einer Familie gemacht haͤtte. Statt der /327nichtsſagenden Unterhaltungen, zu welchen /ſonſt die Welt an den Theetiſchen den Stoff /hergegeben hatte, erzaͤhlte man jetzt Beiſpiele /von ungeheuern Thaten: Menſchen, die man /ſonſt in der Geſellſchaft wenig geachtet hatte, /hatten Roͤmergroͤße gezeigt; Beiſpiele zu Hau/ 460 fen von Unerſchrockenheit, von freudiger Ver/achtung der Gefahr, von Selbſtverlaͤugnung /und der goͤttlichen Aufopferung, von unge/ſaͤumter Wegwerfung des Lebens, als ob es, /dem nichtswuͤrdigſten Gute gleich, auf dem /naͤchſten Schritte ſchon wiedergefunden wuͤrde. /Ja, da nicht Einer war, fuͤr den nicht an /dieſem Tage etwas Ruͤhrendes geſchehen waͤ/re, oder der nicht ſelbſt etwas Großmuͤthiges /gethan haͤtte, ſo war der Schmerz in jeder / 470 Menſchenbruſt mit ſo viel ſuͤßer Luſt ver/miſcht, daß ſich, wie ſie meinte, gar nicht /angeben ließ, ob die Summe des allgemeinen /Wohlſeyns nicht von der einen Seite um /eben ſo viel gewachſen war, als ſie von der /anderen abgenommen hatte. Jeronimo nahm /Joſephen, nachdem ſich beide in dieſen Be/328trachtungen ſtillſchweigend erſchoͤpft hatten, /beim Arm, und fuͤhrte ſie mit unausſprech/licher Heiterkeit unter den ſchattigen Lau/ 480 ben des Granatwaldes auf und nieder. Er /ſagte ihr, daß er, bei dieſer Stimmung /der Gemuͤther und dem Umſturz aller Ver/haͤltniſſe, ſeinen Entſchluß, ſich nach Europa /einzuſchiffen, aufgebe; daß er vor dem Vice/koͤnig, der ſich ſeiner Sache immer guͤnſtig /gezeigt, falls er noch am Leben ſey, einen /Fußfall wagen wuͤrde; und daß er Hoffnung /habe, (wobei er ihr einen Kuß aufdruͤckte), /mit ihr in Chili zuruͤckzubleiben. Joſephe ant/ 490 wortete, daß aͤhnliche Gedanken in ihr aufge/ſtiegen waͤren; daß auch ſie nicht mehr, falls /ihr Vater nur noch am Leben ſey, ihn zu ver/ſoͤhnen zweifle; daß ſie aber ſtatt des Fußfal/les lieber nach La Conception zu gehen, und /von dort aus ſchriftlich das Verſoͤhnungsge/ſchaͤft mit dem Vicekoͤnig zu betreiben rathe, /wo man auf jeden Fall in der Naͤhe des /Hafens waͤre, und fuͤr den beſten, wenn das /Geſchaͤft die erwuͤnſchte Wendung naͤhme, ja / 500 329leicht wieder nach St. Jago zuruͤckkehren /koͤnnte. Nach einer kurzen Ueberlegung gab /Jeronimo der Klugheit dieſer Maßregel ſei/nen Beifall, fuͤhrte ſie noch ein wenig, die /heitern Momente der Zukunft uͤberfliegend, in /den Gaͤngen umher, und kehrte mit ihr zur /Geſellſchaft zuruͤck./
Inzwiſchen war der Nachmittag herange/kommen, und die Gemuͤther der herumſchwaͤr/menden Fluͤchtlinge hatten ſich, da die Erd/ 510 ſtoͤße nachließen, nur kaum wieder ein wenig /beruhigt, als ſich ſchon die Nachricht verbrei/tete, daß in der Dominikanerkirche, der ein/zigen, welche das Erdbeben verſchont hatte, /eine feierliche Meſſe von dem Praͤlaten des /Kloſters ſelbſt geleſen werden wuͤrde, den /Himmel um Verhuͤtung ferneren Ungluͤcks /anzuflehen. Das Volk brach ſchon aus allen /Gegenden auf, und eilte in Stroͤmen zur /Stadt. In Don Fernandos Geſellſchaft ward / 520 die Frage aufgeworfen, ob man nicht auch an /dieſer Feierlichkeit Theil nehmen, und ſich dem /allgemeinen Zuge anſchließen ſolle? Donna /330Eliſabeth erinnerte, mit einiger Beklemmung, /was fuͤr ein Unheil geſtern in der Kirche vor/gefallen ſey; daß ſolche Dankfeſte ja wieder/holt werden wuͤrden, und daß man ſich der /Empfindung alsdann, weil die Gefahr ſchon /mehr voruͤber waͤre, mit deſto groͤßerer Heiter/keit und Ruhe uͤberlaſſen koͤnnte. Joſephe aͤu/ 530 ßerte, indem ſie mit einiger Begeiſterung ſo/gleich aufſtand, daß ſie den Drang, ihr Ant/litz vor dem Schoͤpfer in den Staub zu le/gen, niemals lebhafter empfunden habe, als /eben jetzt, wo er ſeine unbegreifliche und er/habene Macht ſo entwickle. Donna Elvire /erklaͤrte ſich mit Lebhaftigkeit fuͤr Joſephens /Meinung. Sie beſtand darauf, daß man die /Meſſe hoͤren ſollte, und rief Don Fernando /auf, die Geſellſchaft zu fuͤhren, worauf ſich / 540 Alles, Donna Eliſabeth auch, von den Sitzen /erhob. Da man jedoch letztere, mit heftig ar/beitender Bruſt, die kleinen Anſtalten zum /Aufbruche zaudernd betreiben ſah, und ſie, /auf die Frage: was ihr fehle? antwortete: /ſie wiſſe nicht, welch eine ungluͤckliche Ahn/331dung in ihr ſey? ſo beruhigte ſie Donna El/vire, und foderte ſie auf, bei ihr und ihrem /kranken Vater zuruͤckzubleiben. Joſephe ſagte: /ſo werden ſie mir wohl, Donna Eliſabeth, / 550 dieſen kleinen Liebling abnehmen, der ſich ſchon /wieder, wie Sie ſehen, bei mir eingefunden /hat. Sehr gern, antwortete Donna Eliſa/beth, und machte Anſtalten ihn zu ergreifen; /doch da dieſer uͤber das Unrecht, das ihm ge/ſchah, klaͤglich ſchrie, und auf keine Art dar/ein willigte, ſo ſagte Joſephe laͤchelnd, daß ſie /ihn nur behalten wolle, und kuͤßte ihn wieder /ſtill. Hierauf bot Don Fernando, dem die /ganze Wuͤrdigkeit und Anmuth ihres Betra/ 560 gens ſehr gefiel, ihr den Arm; Jeronimo, /welcher den kleinen Philipp trug, fuͤhrte Donna /Conſtanzen; die uͤbrigen Mitglieder, die ſich /bei der Geſellſchaft eingefunden hatten, folg/ten; und in dieſer Ordnung ging der Zug /nach der Stadt. Sie waren kaum funfzig /Schritte gegangen, als man Donna Eliſabeth /welche inzwiſchen heftig und heimlich mit /Donna Elvire geſprochen hatte: Don Fer/332nando! rufen hoͤrte, und dem Zuge mit unru/ 570 higen Tritten nacheilen ſah. Don Fernando /hielt, und kehrte ſich um; harrte ihrer, ohne /Joſephen loszulaſſen, und fragte, da ſie, gleich /als ob ſie auf ſein Entgegenkommen wartete, /in einiger Ferne ſtehen blieb: was ſie wolle? /Donna Eliſabeth naͤherte ſich ihm hierauf, ob/ſchon, wie es ſchien, mit Widerwillen, und /raunte ihm, doch ſo, daß Joſephe es nicht /hoͤren konnte, einige Worte ins Ohr. Nun? /fragte Don Fernando: und das Ungluͤck, das / 580 daraus entſtehen kann? Donna Eliſabeth fuhr /fort, ihm mit verſtoͤrtem Geſicht ins Ohr zu /ziſcheln. Don Fernando ſtieg eine Roͤthe des /Unwillens ins Geſicht; er antwortete: es waͤre /gut! Donna Elvire moͤchte ſich beruhigen; /und fuͤhrte ſeine Dame weiter. — Als ſie in /der Kirche der Dominikaner ankamen, ließ /ſich die Orgel ſchon mit muſikaliſcher Pracht /hoͤren, und eine unermeßliche Menſchenmenge /wogte darin. Das Gedraͤnge erſtreckte ſich / 590 bis weit vor den Portalen auf den Vorplatz /der Kirche hinaus, und an den Waͤnden hoch, /333in den Rahmen der Gemaͤhlde, hingen Kna/ben, und hielten mit erwartungsvollen Blik/ken ihre Muͤtzen in der Hand. Von allen/ Kronleuchtern ſtrahlte es herab, die Pfeiler /warfen, bei der einbrechenden Daͤmmerung, /geheimnißvolle Schatten, die große von ge/faͤrbtem Glas gearbeitete Roſe in der Kirche /aͤußerſtem Hintergrunde gluͤhte, wie die Abend/ 600 ſonne ſelbſt, die ſie erleuchtete, und Stille /herrſchte, da die Orgel jetzt ſchwieg, in der /ganzen Verſammlung, als haͤtte keiner einen /Laut in der Bruſt. Niemals ſchlug aus ei/nem chriſtlichen Dom eine ſolche Flamme der / Inbrunſt gen Himmel, wie heute aus dem /Dominikanerdom zu St. Jago; und keine /menſchliche Bruſt gab waͤrmere Glut dazu /her, als Jeronimos und Joſephens! Die /Feierlichkeit fing mit einer Predigt an, die / 610 der aͤlteſten Chorherren Einer, mit dem Feſt/ſchmuck angethan, von der Kanzel hielt. Er /begann gleich mit Lob, Preis und Dank, ſeine /zitternden, vom Chorhemde weit umfloſſenen /Haͤnde hoch gen Himmel erhebend, daß noch /334Menſchen ſeyen, auf dieſem, in Truͤmmer zer/fallenden Theile der Welt, faͤhig, zu Gott em/por zu ſtammeln.Er ſchilderte, was auf den /Wink des Allmaͤchtigen geſchehen war; das /Weltgericht kann nicht entſetzlicher ſeyn; und / 620 als er das geſtrige Erdbeben gleichwohl, auf /einen Riß, den der Dom erhalten hatte, hin/zeigend, einen bloßen Vorboten davon nann/te, lief ein Schauder uͤber die ganze Ver/ſammlung. Hierauf kam er, im Fluße prie/ſterlicher Beredtſamkeit, auf das Sittenver/derbniß der Stadt; Graͤuel, wie Sodom und /Gomorrha ſie nicht ſahen, ſtraft’ er an ihr; /und nur der unendlichen Langmuth Gottes /ſchrieb er es zu, daß ſie noch nicht gaͤnzlich / 630 vom Erdboden vertilgt worden ſey. Aber wie /dem Dolche gleich fuhr es durch die von die/ſer Predigt ſchon ganz zerriſſenen Herzen un/ſerer beiden Ungluͤcklichen, als der Chorherr /bei dieſer Gelegenheit umſtaͤndlich des Fre/vels erwaͤhnte, der in dem Kloſtergarten der /Karmeliterinnen veruͤbt worden war; die /Schonung, die er bei der Welt gefunden hat/335te, gottlos nannte, und in einer von Ver/ wuͤnſchungen Verwuͤnſchungen erfuͤllten Seitenwendung, die See/ 640 len der Thaͤter, woͤrtlich genannt, allen Fuͤr/ſten der Hoͤlle uͤbergab! Donna Conſtanze /rief, indem ſie an Jeronimos Armen zuckte: /Don Fernando! Doch dieſer antwortete ſo /nachdruͤcklich und doch ſo heimlich, wie ſich /beides verbinden ließ: „Sie ſchweigen, Don/na, Sie ruͤhren auch den Augapfel nicht, und /thun, als ob Sie in eine Ohnmacht ver/ſaͤnken; worauf wir die Kirche verlaſſen.“/Doch, ehe Donna Conſtanze dieſe ſinnreiche / 650 zur Rettung erfundene Maßregel noch aus/gefuͤhrt hatte, rief ſchon eine Stimme, des /Chorherrn Predigt laut unterbrechend, aus: /Weichet fern hinweg, ihr Buͤrger von St. /Jago, hier ſtehen dieſe gottloſen Menſchen! /Und als eine andere Stimme ſchreckenvoll, /indeſſen ſich ein weiter Kreis des Entſetzens /um ſie bildete, fragte: wo? hier! verſetzte /ein Dritter, und zog, heiliger Ruchloſig/keit voll, Joſephen bei den Haaren nieder, / 660 daß ſie mit Don Fernandos Sohne zu Boden /336getaumelt waͤre, wenn dieſer ſie nicht gehalten /haͤtte. Seyd ihr wahnſinnig? rief der Juͤng/ling, und ſchlug den Arm um Joſephen: „ich /bin Don Fernando Ormez, Sohn des Com/mendanten der Stadt, den ihr alle kennt.“ /Don Fernando Ormez? rief, dicht vor ihn /hingeſtellt, ein Schuhflicker, der fuͤr Joſephen /gearbeitet hatte, und dieſe wenigſtens ſo ge/nau kannte, als ihre kleinen Fuͤße. Wer iſt / 670 der Vater zu dieſem Kinde? wandte er ſich /mit frechem Trotz zur Tochter Aſterons. /Don Fernando erblaßte bey dieſer Frage. Er /ſah bald den Jeronimo ſchuͤchtern an, bald /uͤberflog er die Verſammlung, ob nicht Einer /ſey, der ihn kenne? Joſephe rief, von entſetz/lichen Verhaͤltniſſen gedraͤngt: dies iſt nicht /mein Kind, Meiſter Pedrillo, wie er glaubt; /indem ſie, in unendlicher Angſt der Seele, /auf Don Fernando blickte: dieſer junge Herr / 680 iſt Don Fernando Ormez, Sohn des Com/mendanten der Stadt, den ihr Alle kennt! /Der Schuſter fragte: wer von euch, ihr Buͤr/ger, kennt dieſen jungen Mann? Und meh/337rere der Umſtehenden wiederholten: wer kennt /den Jeronimo Rugera? Der trete vor! Nun /traf es ſich, daß in demſelben Augenblicke /der kleine Juan, durch den Tumult erſchreckt, /von Joſephens Bruſt weg Don Fernando in /die Arme ſtrebte. Hierauf: Er iſt der Va/ 690 ter! ſchrie eine Stimme; und und: [emendiert] und: [emendiert] und: [emendiert] und: [emendiert] er iſt Jeroni/mo Rugera; Rugera! [emendiert] Rugera! [emendiert] Rugera! [emendiert] Rugera! [emendiert] eine andere; und: ſie ſind die /gotteslaͤſterlichen Menſchen! eine dritte; und: /ſteinigt ſie! ſteinigt ſie! die ganze im Tempel /Jeſu verſammelte Chriſtenheit! Drauf jetzt /Jeronimo: Halt! Ihr Unmenſchlichen! Wenn /ihr den Jeronimo Rugera ſucht: hier iſt er! /Befreit jenen Mann, welcher unſchuldig iſt!/ — Der wuͤthende Haufen, durch die Aeuße/rung Jeronimo’s verwirrt, ſtutzte; mehrere / 700 Haͤnde ließen Don Fernando los; und da in /demſelben Augenblick ein Marine-Offizier von /bedeutendem Rang herbeieilte, und, indem er /ſich durch den Tumult draͤngte, fragte: Don /Fernando Ormez! Was iſt euch widerfah/ren? ſo antwortete dieſer, nun voͤllig befreit, /mit wahrer heldenmuͤthiger Beſonnenheit: /338„Ja, ſehen Sie, Don Alonzo, die Mord/knechte! Ich waͤre verloren geweſen, wenn /dieſer wuͤrdige Mann ſich nicht, die raſende / 710 Menge zu beruhigen, fuͤr Jeronimo Rugera /ausgegeben haͤtte. Verhaften Sie ihn, wenn /Sie die Guͤte haben wollen, nebſt dieſer jun/gen Dame, zu ihrer beiderſeitigen Sicherheit; /und dieſen Nichtswuͤrdigen, indem er Meiſter /Pedrillo ergriff, der den ganzen Aufruhr an/gezettelt hat!“ Der Schuſter rief: Don Alon/zo Onoreja, ich frage euch auf euer Gewiſſen, /iſt dieſes Maͤdchen nicht Joſephe Aſteron? /Da nun Don Alonzo, welcher Joſephen ſehr / 720 genau kannte, mit der Antwort zauderte, /und mehrere Stimmen, dadurch von neuem /zur Wuth entflammt, riefen: ſie iſts, ſie iſts! /und: bringt ſie zu Tode! ſo ſetzte Joſephe /den kleinen Philipp, den Jeronimo bisher ge/tragen hatte, ſammt dem kleinen Juan, auf /Don Fernandos Arm, und ſprach: gehn Sie, /Don Fernando, retten Sie ihre beiden Kin/der, und uͤberlaſſen Sie uns unſerm Schick/ſale! Don Fernando nahm die beiden Kinder / 730 339 und ſagte: er wolle eher umkommen, als zu/geben, daß ſeiner Geſellſchaft etwas zu Leide /geſchehe. Er bot Joſephen, nachdem er ſich /den Degen des Marine-Offiziers ausgebeten /hatte, den Arm, und forderte das hintere /Paar auf, ihm zu folgen. Sie kamen auch /wirklich, indem man ihnen, bei ſolchen An/ſtalten, mit hinlaͤnglicher Ehrerbietigkeit Platz /machte, aus der Kirche heraus, und glaubten /ſich gerettet.Doch kaum waren ſie auf den / 740 von Menſchen gleichfalls erfuͤllten Vorplatz /derſelben getreten, als eine Stimme aus dem /raſenden Haufen, der ſie verfolgt hatte, rief: /dies iſt Jeronimo Rugera, ihr Buͤrger, denn /ich bin ſein eigner Vater! und ihn an Don/na Conſtanzens Seite mit einem ungeheuren /Keulenſchlage zu Boden ſtreckte.Jeſus Ma/ria! rief Donna Conſtanze, und floh zu ih/rem Schwager; doch: Kloſtermetze! erſcholl /es ſchon, mit einem zweiten Keulenſchlage, / 750 von einer andern Seite, der ſie leblos neben /Jeronimo niederwarf. Ungeheuer! rief ein/ Unbekannter: dies war Donna Conſtanze /340Xares! Warum belogen ſie uns! antwortete /der Schuſter; ſucht die rechte auf, und bringt /ſie um! Don Fernando, als er Conſtanzens /Leichnam erblickte, gluͤhte vor Zorn; er zog /und ſchwang das Schwerdt, und hieb, daß er /ihn geſpalten haͤtte, den fanatiſchen Mord/knecht, der dieſe Graͤuel veranlaßte, wenn / 760 derſelbe nicht, durch eine Wendung, dem wuͤ/thenden Schlag entwichen waͤre. Doch da er /die Menge, die auf ihn eindrang, nicht uͤber/waͤltigen konnte: leben Sie wohl, Don /Fernando mit den Kindern! rief Joſephe — /und: hier mordet mich, ihr blutduͤrſtenden /Tieger! und ſtuͤrzte ſich freiwillig unter ſie, /um dem Kampf ein Ende zu machen. Mei/ſter Pedrillo ſchlug ſie mit der Keule nieder. /Darauf ganz mit ihrem Blute beſpruͤtzt: / 770 ſchickt ihr den Baſtard zur Hoͤlle nach! rief /er, und drang, mit noch ungeſaͤttigter Mord/luſt, von neuem vor. Don Fernando, dieſer /goͤttliche Held, ſtand jetzt, den Ruͤcken an die /Kirche gelehnt; in der Linken hielt er die /Kinder, in der Rechten das Schwerdt. Mit /341jedem Hiebe wetterſtrahlte er Einen zu Bo/den; ein Loͤwe wehrt ſich nicht beſſer. Sie/ben Bluthunde lagen todt vor ihm, der Fuͤrſt /der ſataniſchen Rotte ſelbſt war verwundet. / 780 Doch Meiſter Pedrillo ruhte nicht eher, als /bis er der Kinder Eines bei den Beinen von /ſeiner Bruſt geriſſen, und, hochher im Kreiſe /geſchwungen, an eines Kirchpfeilers Ecke zer/ſchmettert hatte. Hierauf ward es ſtill, und Al/les entfernte ſich. Don Fernando, als er ſeinen /kleinen Juan vor ſich liegen ſah, mit aus /dem Hirne vorquellenden Mark, hob, voll /namenloſen Schmerzes, ſeine Augen gen /Himmel. Der Marine-Offizier fand ſich wie/ 790 der bei ihm ein, ſuchte ihn zu troͤſten, und /verſicherte ihn, daß ſeine Unthaͤtigkeit bei die/ſem Ungluͤck, obſchon durch mehrere Umſtaͤnde /gerechtfertigt, ihn reue; doch Don Fernando /ſagte, daß ihm nichts vorzuwerfen ſey, und /bat ihn nur, die Leichname jetzt fortſchaffen /zu helfen. Man trug ſie alle, bei der Fin/ſterniß der einbrechenden Nacht, in Don /Alonzos Wohnung, wohin Don Fernando /342 ihnen, viel uͤber das Antlitz des kleinen Phi/ 800 lipp weinend, folgte. Er uͤbernachtete auch /bei Don Alonzo, und ſaͤumte lange, unter /falſchen Vorſpiegelungen, ſeine Gemahlin von /dem ganzen Umfang des Ungluͤcks zu unter/richten; einmal, weil ſie krank war, und dann, /weil er auch nicht wußte, wie ſie ſein Ver/halten bei dieſer Begebenheit beurtheilen wuͤr/de; doch kurze Zeit nachher, durch einen Be/ſuch zufaͤllig von Allem, was geſchehen war, /benachrichtigt, weinte dieſe treffliche Dame im / 810 Stillen ihren muͤtterlichen Schmerz aus, und /fiel ihm mit dem Reſt einer erglaͤnzenden /Thraͤne eines Morgens um den Hals und /kuͤßte ihn. Don Fernando und Donna El/vire nahmen hierauf den kleinen Fremdling /zum Pflegeſohn an; und wenn Don Fer/nando Philippen mit Juan verglich, und wie /er beide erworben hatte, ſo war es ihm faſt, /als muͤßt er ſich freuen./