Der Textfassung liegt der Erstdruck ›Die Familie Schroffenstein‹
zugrunde, der anonym wahrscheinlich schon im November 1802 in Bern
und Zürich erschienen ist (vgl. Weiss:1984, S. 61). Wir
kennen die genauen Umstände nicht, unter denen der Erstdruck der
›Familie Schroffenstein‹ entstanden ist. Dieser ist äußerst
flüchtig erstellt und weist eine ungewöhnlich hohe Zahl an
Druckfehlern auf (falsche oder verkehrt montierte Buchstaben,
zahlreiche einfache Interpunktionsfehler, Falschschreibungen
u. a.), die Korrigenda
listet ca. 400 Monata. Da Kleist schon Mitte November zusammen mit
seiner Schwester Ulrike und Ludwig Wieland Bern verlassen hatte,
wird davon ausgegangen, dass Kleist an einer Korrektur des Drucks,
sofern diese überhaupt stattgefunden hat, nicht mehr beteiligt
gewesen ist. Aus all diesen Gründen ist der Erstdruck nur mit
Vorsicht zu benutzen, wobei heute in der Forschung an der
grundsätzlichen Authentizität des Erstdrucks nicht mehr gezweifelt
wird (vgl. Kreutzer:1968, S. 152).
Vor dem Hintergrund des korrupten Erstdrucks ist es ein glücklicher
Zufall, dass uns für Kleists erstes Drama zwei Autographen
vorliegen: ein Szenarium, das wahrscheinlich Anfang 1802
entstanden und von Kleist mit ›Die Familie Thierrez‹ betitelt ist,
sowie ein 159-seitiges Autograph mit mehreren Überarbeitungsstufen
ohne eigenen Titel, in der Kleistforschung als ›Die Familie
Ghonorez‹ bekannt. Diese Ghonorez-Handschrift ist in der Forschung
ausführlich beschrieben worden (vgl. Hoffmann:1927, Kreutzer:1968 u.
Kreutzer:1976,
Kanzog:1970 u.
in: Kleist/Edel:1994,
zuletzt in BKA:2003,
Bd. I/1). Man geht heute davon aus, dass diese Handschrift ab ca.
Februar bis ca. Juli 1802 in Bern und Thun entstanden ist (vgl.
Weiss:1984
S. 57ff, DKV:1991, Bd. 1 und
BKA:2003, Bd. I/1).
Der Status der Ghonorez-Handschrift und ihre Zuordnung zum
Erstdruck sind im Einzelnen umstritten bzw. unbekannt. Sicher ist,
dass die letzte Überarbeitungsphase der Handschrift schon direkte
Vorbereitungen für die spätere Endfassung enthält. Gleichzeitig
wird in der Forschung davon ausgegangen, dass es zwischen der
Ghonorez-Handschrift und der Fassung des Erstdrucks noch eine
weitere Fassung gegeben haben muss. Wie diese ausgesehen hat und
wie sie zustande gekommen ist, ob es zusätzlich noch eine
Abschrift von dritter Hand oder eine Kombination von beidem
gegeben hat, ist unbekannt (vgl. Diskussion bei Hoffmann:1927, Kreutzer:1968 u.
Kreutzer:1976,
Kanzog:1970 u.
in: Kleist/Edel:1994,
zuletzt in BKA:2003,
Bd. I/1). Hiervon unabhängig zeigt ein Textvergleich der
Handschrift mit dem Erstdruck trotz aller Abweichungen eine hohe
Übereinstimmung im Aufbau ebenso wie eine sehr hohe Anzahl
textidentischer Verse. (Ein systematischer Vergleich von der
Ghonorez-Handschrift mit dem Erstdruck wird zu einem späteren
Zeitpunkt vorgelegt.)
Die hohe Textübereinstimmung der Handschrift bei gleichzeitig hoher
Korruptheit des Erstdrucks hat frühere Kleist-Editionen dazu
veranlasst, neben den offensichtlichen Fehlern im Erstdruck in
weiteren Zweifelsfällen, insbesondere bei Zeichensetzung und
Lesarten, den Erstdruck nach der Version der Handschrift zu
korrigieren. So verfahren z. B. die Editionen von Th. Zolling, E. Schmidt und Sembdner. Leider ist die
Transparenz dieser Emendationen insgesamt nur mangelhaft gegeben
und auch nur unvollständig dokumentiert. Die Editionen von DKV und BKA emendieren neben den
offensichtlichen Fehlern des Erstdrucks darüber hinaus nur sehr
wenig, mit dem Ergebnis, dass auch grobe Schnitzer des Erstdrucks
in der emendierten Fassung stehen bleiben, die im Falle der BKA
aufgrund eines fehlenden Kommentars auch nicht weiter
problematisiert werden können (im Einzelnen siehe unten, eine
vollständige Auflistung bietet der Bereich ›Vergleich Editionen‹).
Die hier vorgelegte Edition der ›Familie Schroffenstein‹ bietet
zunächst den vollständigen Text des Erstdrucks inklusive aller
Fehler, im originalen Satzlayout (soweit dies in HTML sinnvoll
nachzustellen ist) und mit der originalen Seiteneinteilung und
-zählung. Zur besseren Kontrolle findet sich auf jeder Seite ein
Link auf eine Faksimile-Darstellung des Erstdrucks. Der Erstdruck
ist in einem Antiqua-Schnitt gesetzt, das lange ſ wird dort
ausschließlich in der Kombination ſs (langes-s/s) eingesetzt.
Diese wird hier als ß wiedergegeben. Ansonsten erfolgt die
Textwiedergabe zeichengenau. Die Antilaben (Verszeilen, die sich
auf unterschiedliche Sprecher verteilen) sind über die
entsprechenden Zeilen optisch eingerückt, wie auch im Erstdruck,
der hier allerdings nicht immer konsistent ist (vgl. Anmerkungen).
In der emendierten Fassung des Erstdrucks werden nicht nur
offensichtliche Korruptheiten korrigiert, sondern es wird in
Zweifelsfällen bei Text- und Versgleichheit die Fassung der
Ghonorez-Handschrift zugrunde gelegt. Aufgrund dieses editorischen
Verfahrens kommt es gegenüber zeitgenössischen Fassungen zu
(teilweise signifikanten) Abweichungen. In der BKA z. B. bleiben
stehen Vers 837 ›weiß‹ statt ›weis‹,
Vers 866 ›Diener‹ statt ›Deinen‹,
Vers 2093 ›Frevelarm‹ statt
›Frevlerarm‹ oder Vers 2252 ›Färthe‹
statt ›Fährte‹. Hinzu kommen eine große Zahl an ›vergessenen
Kommata‹, die sich in Kleists Handschrift noch finden, die
teilweise den Sinn modifizieren, bzw. einen anderen Sprechrhythmus
erzeugen, die aber in DKV und BKA überwiegend nicht emendiert
werden. In der Summe ergeben sich zwischen den emendierten Texten
gegenüber der DKV-Edition ca. 90, gegenüber der BKA-Edition ca.
110 Abweichungen (siehe vollständige Dokumentation weiter unten).
Vorliegende Edition bietet somit eine emendierte Textfassung, die
auf Basis von Kleists Handschrift weitere erhebliche Mängel des
Erstdrucks behebt und gegenüber den Nutzern dieser Ausgabe
trotzdem völlig transparent bleibt. Alle Emendationen sowie die
Abweichungen gegenüber anderen
Editionen sind gesondert aufgeführt. Der Text der
›Emendierten Fassung‹ ist die korrigierte Textfassung des
Erstdrucks auf Basis der ›Korrigenda‹, weitere Änderungen sind
nicht vorgenommen worden.